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Du möchtest über Neutralität reden? Du flirtest mit Verrat!



Auf Grund der Erfahrungen der Tschechoslowakei mit ihren Verbündeten - jene Verbündete, die das Land 1938 in München im Stich liessen und jene, die das Land 1968 besetzten, begrüssten die Bürger der Tschechoslowakei zu Beginn der Neunziger Jahre die Worte ihres Präsidenten Vaclav Havel, der eine Auflösung der Militärblöcke in Europa forderte. Leider gewann diese humanistische Vision nicht die notwendige breite Unterstützung bei betroffenen Staaten und Regierungen, so dass sie nicht realisiert wurde. Schliesslich gab Vaclav Havel selber diese Vision in der Praxis auf. So ist es nunmehr sicher, dass die Tschechische Republik in wenigen Monaten zusammen mit Polen und Ungarn die Reihen der NATO-Mitgliedstaaten vergrössern wird: spätestens beim jährlichen Washingtoner Gipfeltreffen der NATO.

Von Pavel Seifer, Sprecher der ‚Zivilen Initiative für Neutralität', Tschechien

Wie und wann auch immer der Beitritt Tschechiens zur NATO stattfinden wird, in Tschechien werden Zweifel und Fragen über die Zweckmässigkeit dieses Schrittes weiterbestehen. Dies ist die Folge der Politik der tschechischen Politiker, die einer offenen Diskussion mit den Bürgerinnen und Bürgern aus dem Wege gingen. Insbesondere wurde ein im Grunde nötiges Referendum umschifft und man konzentrierte sich auf die Frage, ob man der NATO heute oder gestern betreten solle.

Alternativen europäischer und tschechischer Sicherheitspolitik wurden ausgeblendet, von der Regierung konsequent verschwiegen oder mit leeren Phrasen zurückgewiesen. Mögliche Alternativen hätten in folgendem bestanden: - eine pan-europäisches Sicherheitssystem, das auf der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beruhte, oder - Ausarbeitung einer europäischen Sicherheitscharta, wie sie durch den Ministerrat der OSZE im Dezember 1997 in Kopenhagen beschlossen wurde oder - die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone von blockfreien oder neutralen Staaten.

Undemokratische Äusserungen

Bezüglich der Behandlung dieser Fragen lieferte Pavel Tigrid, eine bekannte und einflussreiche Persönlichkeit und Berater des Präsidenten Havel, ein typisches Beispiel für die nicht sehr demokratische Ausdrucksweise von offiziellen Meinungen. In der tschechischen Tageszeitung ‚Lidove noviny' meinte er, dass "ein Spiel mit dem Referendum oder mit irgend einer dunstigen Neutralität im allgemeinen ohne Zögern als eine Art von Hochverrat klassifiziert werden kann". Es ist bezeichnend, dass eine solche Äusserung in Tschechien keine Wellen hervorrief, während das Zentrum für Verteidigungsinformation in den USA die Äusserung registrierte (in seiner Wochenzeitschrift unter dem Titel "Demokratie à la NATO - Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.")

Trotz dieses Druckes sind viele tschechische Bürgerinnen und Bürger weiterhin der Meinung, dass es keine rationalen Gründe für die NATO-Ost-Erweiterung und die Aufnahme der tschechischen Republik in die NATO gibt. Ich für mich bin überzeugt, dass unsere Republik durch die Teilnahme an Militärblöcken und deren Aktionen Europa keinerlei Nutzen bringt. Handkehrum drängt uns ein NATO-Beitritt weg von dringend nötigen Lösungen in Europa und bei uns. Starke und verbreitete Argumente gegen die NATO-Osterweiterung dieser Art wurden auch von eine Gruppe von mehr als vierzig prominenten amerikanischen Politikern und Soldaten in einem wohlbekannten offenen Brief an Präsident Clinton formuliert.

Wirtschaft und Soziales versus Rüstungsfinanzierung?

Was bezüglich unserer Republik im Augenblick nötiger ist als ein Anwachsen der Armeeausgaben, um der NATO beizutreten, wären die Revitalisierung der Volkswirtschaft und die Befriedigung der dringensten zivilisatorischen Bedürfnisse, wie z.B. die Alters- und Gesundheitsvorsorge, Wissenschaft, Erziehung und Umwelt. Während diese Gebiete unter den hohen Staatsdefiziten leiden, will man die Armeeausgaben erhöhen.

Eine weitere ernste Frage ist der Umstand, dass die tschechischen Bürgerinnen und Bürger nicht über die Art von Organisation, der beigetreten werden soll, im Bilde sein können, da der Transformationprozess der NATO neun Jahre nach dem Zerfall des Warschau-Paktes noch nicht abgeschlossen ist. Es geht um das Problem, dass die NATO dabei ist, ausserhalb der durch die Washingtoner Erklärung festgelegten Missionen tätig werden zu wollen. Ein Beispiel dafür ist etwa das neuartige Verhalten der NATO auf dem Balkan. Die gegenwärtige Position z.B. Gross-Britanniens ruft bei Tschechen notwendiger Weise die Haltungen dieses Landes im Jahre 1938 in Erinnerung (Münchner Abkommen)

Zudem ist es nur eine Illusion, dass wir als Mitglied der NATO die Möglichkeit haben werden, etwas zu beeinflussen. Die Verankerung der "Demokratie" in der NATO wurde in den Verhandlungen von Madrid bezüglich der Zahl der eingeladenden Länder deutlich demonstriert. Dieses Beispiel zeigt klar, dass ‚Demokratie' nur möglich ist, wenn sie in Übereinstimmung mit der Position der USA erfolgt. Die tschechischen Politiker täuschen sich deshalb bezüglich ihrer künftigen Möglichkeiten in NATO-Verhandlungen und ihrer künftigen Stellung in der NATO.

Organisation des Widerstandes

Für viele Bürgerinnen und Bürger der Tschechischen Republik stellen Neutralität und Blockfreiheit eine ernstzunehmende Alternative dar. Sie möchten den Beispielen Österreichs, Finnlands und Schwedens folgen. Kürzlich haben sich etliche Bürgerinnen und Bürger, die diese Position vertreten, in der "Zivilen Initiative für Neutralität" organisiert. Sie wurden bei den tschechischen Politikern vorstellig, um zu fragen, ob die tschechische Republik im Rahmen der 'Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa' (OSZE) Diskussionen über die Schaffung einer Zone von neutralen und blockfreien Staaten in Europa fördern würden. Zudem wurden sie aufgefordert, einen pan-europäischen runden Tisch von Regierungen und Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) zur Frage der Neutralität, der Blockfreiheit und der konventionellen, insbesondere aber der nuklearen Abrüstung zu unterstützen. Der Präsident der Republik, Vaclav Havel, der Premierminister Milos Zeman und der Vorsitzende des Parlamentes Vaclav Klaus wiesen die Anfragen ab.

Neutralität und Blockfreiheit als langfristige Perspektiven

Es ist möglich und sogar wahrscheinlich, dass die Ideen der Neutralität und der Blockfreiheit im Augenblick sich in Europa nicht durchsetzen werden - auch nicht in Bezug auf die tschechische Republik. Sie bleiben aber aktuell und verdienen es, öffentlich gemacht zu werden. Sie stellen eine konkrete Alternative zur Existenz von Militärblöcken dar und zur Integration in solche mit den daraus folgenden Risiken und negativen Folgen. Die tschechische Zivile Initiative für Neutralität möchte dazu beitragen, dass die Neutralität und die Blockfreiheit als nicht zu vernachlässigende Alternative für die Einbettung Tschechiens in Europa sichtbar bleibt. Sie möchte auch helfen, das Trauma der tschechischen Zivilgesellschaft, wieder mal nur Objekt politischer Manipulation zu sein, zu überwinden.

Zum Schluss muss betont werden, dass Fatalismus in diesen Fragen nicht am Platz ist. Selbst der erwartete Beitritt der Tschechei zur NATO verschliesst den Weg zu Alternativen nicht endgültig. Auf die Frage des tschechischen Aussenministers Jan Kavan an J. Solana, ergab sich, dass die NATO selber bisher nicht klar Position bezogen hat, ob es möglich ist, ein Jahr nach der Erklärung einer Austrittsentscheidung, aus der NATO zu treten.

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