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Eine progressive grüne Vision Europas



von Mercedes Echerer, Österreich, Per Gahrton, Schweden, Caroline Lucas, England, Patricia McKenna, Irland, Ilka Schröder, Deutschland, Matti Wuori, Finnland, EU-Parlamentarier

Joschka Fischers Vorschläge für einen europäischen Bundesstaat hatten den Vorteil, dass sie Politiker aller Couleur dazu zwangen, bezüglich grundsätzlicher Fragestellungen in Hinblick auf die Zukunft "Europas" offen Position zu beziehen. Allerdings haben wir, die Unterzeichner dieser Stellungnahme, Mitglieder der Grünen Fraktion des EU-Parlaments, einige Probleme mit seinen Ideen. Die wirklich wichtige Frage ist die folgende: Wie sollen wir den europäischen Kontinent organisieren, um den Frieden zu fördern, und wie können wir dazu beitragen, um die gegenwärtige neo-liberale Globalisierung durch einen echten, weltweiten Internationalismus zu ersetzen. Wie sollen wir als Europäer handeln, um eine sozial gerechte und ökologisch überlebensfähige Welt unter demokratischen und dezentralisierten Regierungsformen mitzuentwickeln.

Erstens scheint der Vorschlag, dass ein "Kern" von EU-Staaten einen Bundesstaat gründen sollen, ohne die Wünsche der übrigen europäischen Staaten in Betracht zu ziehen, nichts als ein Rezept für eine neue Teilung Europas zu sein - gerade im Augenblick, wo ein weiteres Dutzend europäischer Staaten eine rasche EU-Mitgliedschaft anstreben. Nur eine Minderheit der europäischen Nationen wird mit einem vollausgebauten EU-Staat vorwärts machen wollen, mit Präsident usw. Manche sind für einen solchen Schritt nicht vorbereitet, andere sind nicht willens, einen solchen zu unternehmen. Selbst die sehr EU-freundliche französische Zeitung "Libération", die unverzüglich die Vorschläge Fischers als eine Möglichkeit begrüsste, die "Neinsager auszuschliessen" (16/5), musste eine Woche später zugeben, dass vermutlich nur sechs der gegenwärtig 15 EU-Länder bereit wären, in diese Richtung zu gehen (23/5). Und der Slowenische Präsident Milan Kucan beklagte sich bereits in einer Rede an das EU-Parlament, dass Europa in vier Klassen aufgeteilt sei. Fischers Methode würde diese Aufteilung vertiefen und verewigen. Die zentrale Frage ist: Soll die EU so umgebildet werden, dass die Ambitionen Robert Schumanns und der heutigen Bundesstaatler erfüllt werden - oder soll die EU so reformiert werden, dass ganz Europa auf gleichheitlicher Basis mitmachen kann? Wir glauben, dass die meisten Europäer die zweite Option vorziehen würden, sonst wird Europa für eine weitere Generation geteilt bleiben und selbst die gegenwärtige EU wird aufgeteilt.

Zweitens zweifeln wir daran, dass die gegenwärtige EU als politische Gegenmacht zur neo-liberalen Vormacht der transnationalen Wirtschaft handeln kann. Die EU-Verträge, die nicht leicht zu ändern sind, sind tief in einer monetaristischen Wirtschaftsphilosopohie verankert. Die EU handelt in konkreten Handelsbeziehungen mit Partnern in der übrigen Welt eher wie die Weltbank oder der IMF, keineswegs jedoch als möglicher Vertreter einer neuen Weltordnung. Die EU-Forderungen in Handelsverträgen mit ost- und zentraleuropäischen Beitrittskandidaten ebenso wie mit den Dritt-Welt-Ländern sind sehr ähnlich wie die in Verträgen des übrigen reichen Nordens: Marktzugang, Investitionsschutz, Deregulierung, Privatisierung, usw. ohne soziale und ökologische Rücksichten. Die EU handelte an der WTO-Konferenz in Seattle den Armen der Welt gegenüber nicht wirklich anders als die USA. Obwohl wir als EU-Parlamentarier aktiv dafür arbeiten, dass die EU-Politik möglichst stark mit grünen und internationalistischen Werten übereinstimmt, sind wir überzeugt, dass die EU nur dann zu einem Mittel für solche Ziele werden kann, wenn sehr tiefgreifende Veränderungen der gesamten Organisation sowie der Regeln und der Kriterien der Währungsunion erfolgen. Deshalb führt eine unbesehene Stärkung der EU-Strukturen heute vermutlich zu - von grüner und internationalistischer Warte betrachtet - kontraproduktiven Entwicklungen.

Drittens sind wir nicht sicher, dass ein starker und bewaffneter europäischer Bundesstaat heute zum Weltfrieden beitragen würde, selbst wenn dies der ehrliche Ehrgeiz Joschka Fischers wäre. Wir sind nicht überzeugt, dass die gegenwärtig schnelle Militarisierung der EU zum ersten Beispiel der Geschichte für eine gewichtige Weltmacht wird, die in anderen Ländern nur militärisch interveniert, um hohe Ideale und humanitäre Werte zu schützen. In der Tat hielten Dokumente des EU-Gipfels von Lissabon fest, dass der Bereich bewaffneter EU-Interventionen die ganze Welt umfassen könne (Anhang 4, "Elaboration of the headline goal") und andere Dokumente, die von der dänischen Tageszeitung Berlingske Tidende ausgegraben wurde, halten fest, dass die Reichweite militärischer Kräfte gegeben sei durch die "Verteidigung Europäischer Interessen", einschliesslich ökonomischer und territorialer Interessen (12/5). Da die heutigen Regierenden in der EU offensichtlich keine Absicht haben, die aufkommende EU-Militärmacht vollständig der UNO-Politik unterzuordnen, befürchten wir ein deutliches Risiko für das Hereinbrechen einer Welt von konkurrierenden "Krisenmanagern" wie den US, der EU, Russland, China etc. - eine Situation, die in einer globalen Konfrontation ausmünden könnte.

Wir denken, dass die EU zum Weltfrieden vor allem mit gewaltlosen, zivilen Mitteln beitragen sollte (einschliesslich eines europäischen zivilen Friedenskorps, wie es dem EU-Rat durch das EU-Parlament auf Vorschlag der Grünen unterbreitet wurde). Wenn eine militärische Intervention als unverzichtbar erscheint, muss sie im Rahmen der UNO erfolgen und im Respekt der UNO-Charta. Das Endziel muss darin bestehen, dass die UNO oder - bezüglich Europa - die OSCE, die Aufgabe übernimmt, notfalls als eine Art "internationaler Polizei" zu wirken, da, wie der Le Monde bemerkte, die Motivation der NATO oder anderer Länder oder Allianzen "selbst wenn sie im Rahmen der UNO handeln, nicht genau dieselbe ist als wenn die gesamte UNO handelt" (24/5).

Nebenbei bemerkt zeigte eine Meinungsumfrage im letzten Jahr (Eurobarometer), dass die Unterstützung einer gemeinsamen EU-Verteidigungspolitik durch die EU-Bevölkerung nach dem Kosovo-Krieg sank - dies in allen Ländern ausser Italien, Belgien und Portugal. Dies zeigt, dass der übliche Bezug mancher EU-Politiker auf einen angeblichen Wunsch der Bevölkerungen nach einer militärisch starken EU keine starke Basis in der Wirklichkeit hat.

Wir sind nicht erstaunt, progressive, linksgesinnte, grüne Politiker und Intellektuelle anzutreffen, die nach europäischen Aktionen rufen, um der neo-liberalen Globalisierung zu begegnen und eine demokratische Gegenmacht aufzubauen, um die groben und anarchischen Regeln des internationalen Kapitalismus in Griff zu bekommen. Wir sind hingegen erstaunt, wenn wir feststellen müssen, dass manche dieser Freunde ihre Träume mit der Realität vermischen und postulieren, dass die EU problemlos umgewandelt werden könne, so dass diese nicht mehr Teil des Problems sondern Teil seiner Lösung werde - dies ohne tiefgreifende Änderungen am Maastrichter und Amsterdamer Vertrag und der ganzen "euro-zentrischen" Denkweise, die so stark in den führenden Kreisen aller EU-Institutionen verankert ist.

Wir glauben, das Beste für die EU wäre ein völliger Neu-Beginn bei einer demokratischen Teilnahme ganz Europas. Dies würde etwas anderes bedeuten als fortgesetzte Regierungskonferenzen, aber auch etwas ganz anderes als die Gründung eines Bundesstaates durch einige Kernländer.

Ein sehr positiver Aspekt der Vorschläge Joschka Fischers besteht darin, dass er den schrittweisen, intransparenten Prozess der Regierungskonferenzen - die Monnet Methode - durch einen wirklichen "Verfassungsprozess" ersetzen will. Aber wie kann ein Verfassungsprozess echt sein, wenn das Endresultat bereits vorentschieden ist durch ein fait accompli, das von einer politischen Elite durchgezogen wurde? Warum will man es nicht wagen, das Volk über die Gestalt Europas des 21. Jahrhunderts entscheiden zu lassen. Wieso startet man nicht eine Pan-Europäische Grundsatzdebatte, um die optimalen demokratischen Strukturen zu finden, die stark genug sind, um die echten gemeinsamen Problemen zu lösen, aber auch so dezentral, dass die Menschen dass Gefühl haben, am politischen Prozess teilhaben zu können. Ein solches Europa muss auch genügend multipolar sein, um das Risiko zu vermeiden, dass die Struktur durch Machtpolitiker für "Euro-nationalistische" Supermacht-Spiele und militaristische Abenteuer missbraucht werden kann.

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