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EU-Reformvertrag = EU-Verfassung I

Ein erster Entwurf des EU-Reformvertrages, der anstelle der gescheiterten EU-Verfassung treten soll, liegt auf dem Tisch. Um das Ergebnis der Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden wegzuwischen, wurde bloss „der gleiche Brief in einen neuen Umschlag“ gesteckt.

Von Gerald Oberansmayr (guernica 4/2007; Aug/Sept. 2007; Werkstatt Frieden & Solidarität, Waltherstrasse 18, A-4020 Linz, http://www.werkstatt.or.at)

"Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher; die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?" (Bert Brecht) Nach der Ablehnung der EU-Verfassung bei den Volksabstimmungen hat sich die Bevölkerung das Vertrauen der Machthaber gründlich verscherzt. Da die Auflösung des Volkes nicht so leicht geht, haben sich die EU-Regierungen für dessen Verhöhnung entschieden. Giscard d'Estaing, als EU-Konventspräsident Architekt der EU-Verfassung, macht daraus kein Hehl: Der nun vorliegende „EU-Reformvertrag“ weise bloss „kosmetische Änderungen“ auf, die nur deshalb vorgenommen worden seien, damit der Vertrag nicht mehr aussehe wie die Verfassung, um so „leichter zu schlucken“ sei und „Referenden zu umgehen“ seien. Man habe „nur den Umschlag gewechselt. Der Brief im Innern des Umschlags ist nach wie vor der gleiche“(1). Der frühere italienische Ministerpräsident Amato plaudert aus dem Nähkästchen der Macht: „Der EU-Vertrag wurde unleserlich gemacht, um Volksabstimmungen zu vermeiden.“(2) Manchen Herrschaftskreisen kommen mittlerweile sogar Bedenken, ob man mit dieser Arroganz nicht die Rechnung ohne den Wirt, sprich die Bevölkerung, gemacht habe. Das Zentrum für Angewandte Politikforschung, massgeblicher Think-Tank der deutschen Aussenpolitik, zum neuen EU- Vertrag: „Ob sich die Bürger in den betreffenden Ländern jedoch über die Tatsache hinwegtäuschen lassen, dass im neuen Vertragswerk ein Grossteil des Verfassungsvertrags steckt, ist fraglich. Das neue Primärrecht könnte als Mogelpackung entlarvt werden.“(3)

"Mogelpackung"

Der nun vorliegende Textvorschlag ist in der Tat eine Mogelpackung. Fallen gelassen wurden Symbole wie die gemeinsame EU-Fahne und die Hymne. Den EU-Aussenminister hat man in "Hoher Beauftragter der EU für Aussen- und Sicherheitspolitik" umbenannt. Ansonsten wurde der Text der EU- Verfassung weitgehend wortidentisch übernommen, so z.B. sämtliche Militarisierungspassagen:
- Aufrüstungsverpflichtung („schrittweise Verbesserung der militärischen Fähigkeiten“)
- Verankerung der Rüstungsagentur im EU-Primärrecht mit der Aufgabe, diese Aufrüstungsverpflichtung zu kontrollieren, nötigenfalls auch nachzuhelfen
- Mandat für den EU-Rat, weltweit Kriege zu führen, nötigenfalls auch ohne UNO-Mandat
- Schaffung eines militärischen Kerneuropas ("Ständige Strukturierte Zusammenarbeit") als zukünftiger innerer Führungszirkel der EU
- Schaffung eines eigenen EU-Rüstungsbudgets ("Anschubfonds")
- Militärische Beistandsverpflichtung - schärfer als bei der NATO.
- EU-Schlachtgruppen ("Battle-Groups") für schnelle weltweite EU-Militärinterventionen sollen nun ebenfalls im EU-Primärrecht eingemauert werden.

Auch die neo-liberale Grundausrichtung der EU-Verfassung soll erhalten bleiben. Die Verpflichtung zu einer "offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" findet sich ebenso wieder wie der Vorrang von Hartwährungs- vor Beschäftigungspolitik. Grosses mediales Getue gab es, als die Zielbestimmung "Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb" auf Wunsch des französischen Präsidenten Sarkozy entfernt wurde, um den französischen Verfassungsgegnern Wind aus den Segeln zu nehmen. Öffentlich unerwähnt blieb, dass dieselbe Formulierung beim EU-Abschlussgipfel im Juni noch rasch in einem Zusatzprotokoll festgeschrieben wurde. Dort heisst es jetzt, „dass zum Binnenmarkt ein System gehört, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“. Denselben Schmäh verwendeten die EU-Chefs bei einer weiteren viel kritisierten Passage, die den Vorrang von EU-Recht vor nationalem Recht festgeschrieben hat (Art. 1-6). Diese Passage wurde fallengelassen, um an ihrer Stelle eine Erklärung zu setzen, die den Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht "entsprechend der Rechtsprechung des EuGH" bestätigt. Das Ergebnis ist dasselbe, wenn auch unter unleserlichem Juristendeutsch versteckt. (4)

"... bis es ein kein Zurück mehr gibt"

Der Kern der EU-Verfassung bzw. der EU-Reformvertrages ist die Neuordnung der politischen Kräfteverhältnisse in der EU. Der Widerstand Polens hat diese Neugewichtung zwar um einige Jahre verzögert, aber ab 2014 bzw. 2017 soll sich die politische Macht gewaltig zugunsten der Eliten der grossen Nationalstaaten verschieben: Deutschlands Stimmgewichte verdoppeln sich, die Frankreichs und Grossbritanniens nehmen um 45% zu. Kleinere Staaten wie Griechenland, Schweden, Portugal, Dänemark, Niederlande, Österreich, Slowenien, usw. verlieren zwischen 35 und 65%. (siehe Grafik). Zudem kommt es zur Schaffung bzw. Aufwertung zentraler Funktionen wie EU-Präsident und „Hohem Beauftragten für Aussen- und Sicherheitspolitik“, die wohl ebenfalls zwischen Berlin, Paris und London ausgedealt werden. Festgeschrieben wird die Ausweitung "demokratiefreier Zonen" wie die gesamte Währungs- und Militärpolitik. Denn die diesen zugeordneten EU-Institutionen Europäische Zentralbank und EU-Rüstungsagentur sind von demokratischer Kontrolle weitgehend abgeschottet. Deren Auftrag - Hartwährungspolitik und offene Marktwirtschaft bzw. Aufrüstungsverpflichtung - ist im Grunde der demokratischen Debatte entzogen. Denn was einmal im EU-Primärrecht verankert ist, kann durch Bewegung von unten faktisch nicht mehr geändert werden. Dafür wäre eine gleichzeitige Zustimmung aller nationalen Parlamente, aller nationalen Regierungen der EU-Kommission und einer Mehrheit des Europäischen Parlaments erforderlich. Härter kann man etwas politisch nicht mehr einzementieren.

Die EU funktioniert politisch wie ein Ventil: Es geht immer nur in eine Richtung, jene die von den mächtigsten nationalen Eliten vorgegeben wird. Sobald etwas im Primärrecht festgezurrt wurde, gibt es kein Zurück mehr. Der luxemburgische Ministerpräsident Jean Claude Juncker hat diese Methode auf den Punkt gebracht: " Wir beschliessen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein grosses Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde; dann machen wir weiter, Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt," (Spiegel 52/1999)

"Die Machtfrage ist gestellt."

Freilich geht es insbesondere den Berliner Machteliten mit dieser Methode noch immer zu langsam, weil bockige Regierungschefs oder widerspenstige Bevölkerungen fallweise für "Aufschrei" oder "Aufstände" sorgen. Deshalb soll mit den neuen EU-Verträgen das Tor für einen inneren Führungszirkel weit aufgestossen werden, der sein Tempo nicht mehr nach den Bockigen und Widerspenstigen ausrichten muss. Dieser Führungszirkel mit dem monströsen Namen "Ständige Strukturierte Zusammenarbeit" (SSZ) soll von jenen Staaten gebildet werden, die über "anspruchsvolle militärische Kapazitäten" verfügen. Die Erstaufnahme in diesen erlesenen Klub erfolgt erst nach einem Screening durch die Rüstungsagentur und mit Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit des EU-Rates, d.h. die grossen Nationalstaaten sind die Torwärter, die den Eingang kontrollieren. Sobald die SSZ sich auf diese Art und Weise konstituiert hat, entscheiden die Klubmitglieder selbst (wiederum mit qualifizierter Mehrheit), wer noch dazustossen darf oder wieder vor die Tür gesetzt wird. De facto können Berlin und Paris damit die Peitsche knallen lassen. Der innere Führungszirkel reproduziert sich selbst und gibt in der Sicherheitspolitik das Tempo vor. Werner Weidenfeld, Leiter des Zentrums für Angewandte Politikforschung und Berater der deutschen Regierung, spricht Klartext: "Die Machtfrage ist gestellt! Schlagartig wird der ganze Nebel des europapolitischen Pathos gelüftet. Nackt und brutal konzentriert sich alles auf die Macht. Europa ist endgültig politisch geworden." (Die Welt, 28.09.2003)

Anmerkungen:
(1) zit. nach NRC-Handelsblatt, 20.07.07 und http://www..efuoactiv.com, 18.07.07
(2) Rede vor dem Zentrum für Europäische Reformen, London, 12.072007
(3)CAP, Ausweg oder Labyrinth, Analyse und Bewertung des Mandats für die Regierungskonferenz, 05.07.2007
(4) Mandat für die Regierungskonferenz, Brüssel, 21./22.06.2007

Eine Gegenüberstellung des Verfassungsentwurfs mit dem neuen EU-Vertragsentwurf und dem Nizza-Vertrag findet man auf Englisch unter http://www.open-europe.co.uk/research/comparative.pdf.

Die oben erwähnte Graphik können Sie herunterladen durch anklicken:

JXVPWY01.wmf (application/octet-stream, 70.564 KB)


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