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Gefahr der Willkür



In der Frühjahrssession 95 hat der Ständerat zwei Volksinitiativen für ungültig erklärt. Die Initiative der Schweizer Demokraten "für eine vernünftige Asylpolitik" und die Armeehalbierungsinitiative der Sozialdemokraten "für weniger Militärausgaben und mehr Friedenspolitik". Die Ungültigerklärung wurde vom Nationalrat in der Sommersession bestätigt.

von Paul Ruppen

Die beiden Volksinitiativen wurden aus verschiedenen Gründen für ungültig erklärt. Die Asyl-Initiative widerspricht laut Parlament dem zwingenden Völker- und Völkergewohnheitsrecht. Man könne deshalb diese Initiative nicht umsetzen, auch wenn sie vom Volk angenommen würde. Es habe entsprechend keinen Sinn, das Volk darüber abstimmen zu lassen. Laut dieser Argumentation gibt es materielle Schranken in der Verfassung, die selbst vom Souverän nicht tangiert werden können. Der Existenz solcher Schranken ist durchaus zuzustimmen. Artikel 30 der UNO-Menschenrechtserklärung weist auf den entscheidenden Punkt hin: Menschenrechte dürfen nicht in Anspruch genommen werden, um diese zu bekämpfen. Das Recht auf die Teilnahme an der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes (Artikel 21) darf entsprechend nicht verwendet werden, um anderen oder sich selbst Menschenrechte abzusprechen.

Diese grundsätzliche Bejahung der Existenz materieller Schranken beinhaltet allerdings keine Zustimmung zum konkreten Vorgehen der Räte. Sie haben keinen verfassungsmässigen Auftrag, über die Menschenrechts- und Völkerrechtskonformität von Initiativen zu befinden. In diesem Fall stellt sich ein heikles Problem. Darf der "Souverän" selbst darüber befinden, ob die materiellen Schranken respektiert sind oder nicht, oder müssen andere Gremien dies für ihn erledigen? Es geht hier um den alten Streitpunkt, ob die Bevölkerung oder irgendwelche Eliten bezüglich der Respektierung der Menschenrechte zuverlässiger sind. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass von "Eliten" bisher mehr Unheil ausging als von Volksabstimmungen mit relativ freier Meinungsbildung. Dies stellt selbstverständlich keine Garantie dar, dass das Volk immer im Sinne der Menschenrechte entscheidet. Es gibt aber ebensowenig eine Garantie, dass Räte oder Gerichte im Sinne der Menschenrechte entscheiden. Mangels sicherer Leitplanken kann man sich also ebensogut auf das stimmberechtigte Volk verlassen und sich dafür einsetzen, dass dieses menschenrechtskonform entscheidet. Eine breite Abstützung der Idee der Menschenrechte in der Bevölkerung ist die einzige Möglichkeit, um ein menschenrechtswidriges Abdriften der Eliten zu vermeiden.

Diese Auffassung ist mit der Meinung vereinbar, das stimmberechtigte Volk solle es einem Gericht oder ein politisches Gremium übertragen, über die Respektierung der materiellen Schranken zu wachen. Die obigen Ueberlegungen legen aber nahe, dass eine solche Kompetenzzuweisung per Volksabstimmung verfassungsmässig verankert werden muss. Die eidgenössischen Räte sind für die entsprechende Beurteilung kaum geeignet. Besser wäre es wahrscheinlich, diese Kompetenz ans Bundesgericht zu delegieren, da sich dadurch eine relative Unabhängigkeit vom politischen Alltagsgeschehen ergibt.

Die SP-Armeehalbierungsinitiative wirft ein weniger fundamentales Problem auf. Die Einheitlichkeit der Materie ist ein Grundsatz, der verhindern soll, dass das Volk über Mischpakete entscheiden muss. Durch die Präsentation solcher Pakete könnte man die Bevölkerung dazu bringen, Massnahmen zu befürworten, die eigentlich abgelehnt werden, nur weil die Vorteile des Gesamtpaketes dessen Nachteile überwiegen. Von einem demokratischen Standpunkt aus gesehen, ist die Forderung nach der Einheit der Materie somit durchaus positiv zu werten. Allerdings ergibt sich bei der Beurteilung dieser Einheitlichkeit durch die Räte ein Freiraum für Willkür, der unakzeptabel ist. Die SP-Initiative wurde offensichtlich Opfer solcher Willkür. Hier müssten klare Verhältnisse geschaffen werden, indem die Einheit der Materie vom Bundesgericht beurteilt werden muss. Dabei müssten alleVorlagen, die dem Volk zur Abstimmung unterbreitet werden, diesem Grundsatz genügen - also auch Verfassungsänderungen, die von den Palamenten vorgeschlagen werden und internationale Verträge. Bemerkenswerterweise lehnen SP-Politiker (z.B. Barbara Haering-Binder) eine entprechende Kompetenzdelegation an ein Gericht oft ab. Das Volk solle bei den Wahlen entsprechendes Fehlverhalten von Politikern sanktionieren können. Dieses Argument vermag allerdings nicht zu überzeugen, da die Wählerinnen und Wähler bei Wahlen eine Gesamteinschätzung von Parteien und Kandidaten vornehmen. Ein Einzelthema wie das Verhalten anlässlich einer Ungültigkeitsdebatte fällt hier bei den meisten kaum ins Gewicht, wodurch eine wirksame diesbezügliche Kontrolle durch das Volk ausgeschlossen wird.

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