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Europa braucht mehr Demokratie

Vielfach werden Finanzkrisen wie Gottesgerichte dargestellt. Anders als der US-Vizepräsident Dick Cheney1) Anfang 2009 behauptete, kam die Finanzkrise in den USA nicht aus heiterem Himmel. So sagte etwa Nouriel Roubini (Wirtschaftsprofessor aus New York und früherer Wirtschaftsberater von Bill Clinton) 2006 auf dem Höhepunkt des Booms die Krise vorher.2) Auch andere Wissenschaftler hatten schon im Jahr 2000 vor der Immobilienblase gewarnt.

Von Roman Huber, geschäftsführender Vorstand von Mehr Demokratie.

Der Verkauf Schrotthypotheken war nur das offensichtlichste Symptom einer tieferen, strukturellen Fäulnis der globalen Finanzarchitektur. Ein Schattenbankenwesen aus Hedgefonds und Private-Equity-Gesellschaften hatte sich gebildet, die Gründung von speziellen Zweckgesellschaften (SPVs) in Verbindung mit hochkomplexen Finanzprodukten wurde ermöglicht. In den USA wurde die Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken beschlossen. Eine schwache Banken- und Börsenaufsicht, die Rolle der Rating-Agenturen, die Struktur der Managerbezüge und Bonisysteme etc. waren entscheidende Faktoren in diesem Spiel. Entstanden ist ein riesiger unkontrollierter Finanzmarkt, der sich weitgehend von der Realwirtschaft abgekoppelt hat, diese aber massiv beeinflussen kann.

These 1:

Die massive Liberalisierung der Finanzmärkte wurde politisch ermöglicht. Erst Entscheidungen der Politik, nicht der Wirtschaft oder der Finanzwirtschaft haben die Grundlagen für die folgenden Krisen geschaffen.

Es ist zu einfach, zockenden Banken und gierigen Managern die Schuld für die Auswüchse der Finanzmärkte zuzuschieben. Vieles war politisch gewollt und ermöglicht. Die Grundlagen für all die kaum mehr durchschaubaren Finanzinstrumente wie Derivate, Kreditausfallversicherungen oder Rettungsschirme haben Parlamente beschlossen oder zugelassen.

Oktober 1986: Unter Margaret Thatcher wird ein Großteil der Regeln für den Handel an Börsen gestrichen, Banken durften uneingeschränkt ins Wertpapier- und Investment-Geschäft einsteigen, der Computerhandel wird eingeführt und ausländische Firmen an der Börse zugelassen („Big Bang“). Der Rest Europas musste sich der Liberalisierung der britischen Finanzmärkte anpassen. Später folgten Hedgefonds, Private-Equity-Gesellschaften, Devisen- Experten. Die Regulierungsbehörden ließen das zu.

Februar 1990: Die schwarz-gelbe Regierung beschließt das „Gesetz zur Verbesserung der Rahmenbedingungen der Finanzmärkte“. Neben vielen anderen Regeln fällt auch die sogenannte „Börsen-Umsatzsteuer“. Bis 1991 gab es also eine „Finanztransaktionssteuer“ oder Tobin-Tax.

November 1999: Bill Clinton hebt den Glass-Steagall Act aus dem Jahr 1933, eine Lehre aus der ersten Weltwirtschaftskrise, auf: Das Geschäft mit Wertpapieren muss nicht länger vom normalen Bankgeschäft mit Einlagen, Zinsen und Krediten getrennt sein. Auch unter Rot-Grün wurden weitere massive Deregulierungen in Deutschland beschlossen. Bis Ende 2009 werden vom Bundestag über hundert Rechtsakte zur (De-) Regulierung der Finanzmärkte in Deutschland unter Berücksichtigung der Rahmensetzung durch die EU verabschiedet.4)

Parlamente und Regierungen waren ursächlich daran beteiligt die Finanzmärkte soweit zu deregulieren, dass ein ungehemmter Marktkapitalismus Bahn brechen konnte. Das Volumen der Finanzwirtschaft ist dadurch heute zehnmal größer als das der Realwirtschaft. 1990 betrug das weltweite Bruttoinlandsprodukt (BIP), also die gesamte Wertschöpfung der realen Wirtschaft, 22 Billionen Dollar. Die Summe aller synthetischen Finanzmarktprodukte lag bei zwei Billionen. 2010 ist das globale BIP auf 63 Billionen angewachsen, die synthetischen Produkte dagegen auf 600 Billionen Dollar. Die Realwirtschaft hat sich verdreifacht, die Finanzwirtschaft hat sich verdreihundertfacht.

These 2:

Das politische Handeln verschiebt sich immer stärker vom parlamentarischen Handeln zum reinen Regierungshandeln. Zentrale Weichenstellungen werden im Eilverfahren durch die Parlamente gedrückt.

Das zeigt das Beispiel des Bankensrettungsschirm. Noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik war ein so umfangreiches Gesetzesvorhaben wie das Finanzmarktstabilisierungsgesetz mit einem so ehrgeizigen gesetzgeberischen Zeitplan auf den Weg gebracht worden. Alle im Bundestag vertretenen Fraktionen verzichteten auf ihre Rechte, Fristen wurden ignoriert:

Montag, 13.10.08: Ankündigung der Bundesregierung
Mittwoch, 15.10.08: Lesung im Bundestag, Verlagerung in den Haushaltausschuss
Freitag, 17.10.08:Abstimmung (Ja: Union, SPD, FDP; Nein: LINKE, GRÜNE)

These 3:

Wichtige Entscheidungen und Gesetzesentwürfe werden nicht mehr von der demokratisch legitimierten Politik vorbereitet, sondern von externen Experten, die vielfach nicht dem Gemeinwohl, sondern ihren eigenen Interessen verpflichtet sind.

Der Gesetzentwurf für das Finanzmarktstabilisierungsgesetz wurde nicht vom Bundesfinanzministerium selbst, sondern von der Anwaltskanzlei Freshfields, einer der größten Wirtschaftskanzleien weltweit und Vorreiter beim Einstieg von Anwaltskanzleien in das Lobbygeschäft in Deutschland, ausgearbeitet.5)

Freshfields schrieb den Entwurf zum Finanzmarktstabilisierungsgesetzes sowie den Text des Finanzmarktstabilisierungsergänzungsgesetz. Die Kanzlei war auch an der Umsetzung und Vergabe der Finanzhilfen beteiligt. Freshfields beschäftigt nach eigenen Angaben 2.500 Anwälte in „27 bedeutenden Wirtschaftszentren der Welt“ und berät „internationale Unternehmen, Finanzinstitute und Regierungen.“

Um es noch mal zusammenzufassen: Freshfields erarbeitete und formulierte den Gesetzestext für den Rettungsschirm (SoFFin), half dem Bund und SoFFin bei der Mittelvergabe und beriet gleichzeitig Banken bei der Antragsstellung an den SoFFin!

These 4: Vielfach werden Entscheidungen als alternativlos dargestellt.

Das TINA-Prinzip (There is no alternative) verhindert den offenen Diskurs, das gemeinsame Ringen um Lösungen. Dabei fehlt, wie es Heike Göbel in der FAZ formulierte, „oft nicht die Alternative, sondern der Wille, den Schleier zu lüften; klar zu sagen, welche Vor- und Nachteile mit einer Lösung verbunden sind, und so den Bürger ehrlich und geduldig teilhaben zu lassen an der Abwägung der Güter. Diese ist oft nicht leicht, und Entscheidungen, die am Ende wirklich allen nutzen, gibt es leider selten. Mit dem Etikett „alternativlos“ stellt sich Politik als ohnmächtiges Vollzugsorgan eines von höherer Macht bestimmten Schicksals hin. Das schafft Verdruss beim Wähler. Warum soll er überhaupt noch seine Stimme abgeben, wenn Regierungshandeln so alternativlos ist, wie behauptet?“6)

Der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass es im Leben immer Alternativen gibt, meist sogar mehrere. Ob die Auswirkungen und Folgen erwünscht und förderlich sind, ist die zweite Frage. In den Feldern der Wirtschaft und der Politik geht es nicht um absolute Wahrheiten, sondern um Interessen, Einschätzungen, Präferenzen, die von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind. Jeder sollte die Chance haben, durchaus auch komplexere Zusammenhänge nachvollziehen zu können.

These 5:

Spätestens NACH 2008 als der Bundestag unter Druck in vier Tagen das SoFFingesetz beschlossen hatte, hätte das Parlament drastische Entscheidungen treffen müssen, um nie wieder in so eine erpresserische Situation zu geraten.

Warum ist das nicht geschehen? Im Finanzausschuss gab es genügend Expertise, um weit reichende Reformen zu beschließen. Doch offenbar herrschte die Meinung vor: Ein nationaler Alleingang nützt nichts. Spätestens auf der Ebene der EU oder der G 20 blockieren entweder England unter dem Einfluss der Londoner City oder die USA unter dem Einfluss der Wallstreet. Könnten die Parlamente oder Regierungen, wenn sie wollten, heute überhaupt noch Beschlüsse fällen, die die Geschäftspraktiken der Finanzmärkte massiv beeinflussen würden?

Merkels Botschaft an den deutschen Bundestag vor der Abstimmung über die EFSF (Teil des Euro-Rettungsschirms) war: „Der Bundestag möge marktkonform entscheiden.“ Statt die Demokratie marktkonform zu machen sollten wir uns lieber fragen, wie wir einen demokratiekonformen Markt bekommen.

Es deutet einiges darauf hin, dass die Politik nicht mehr die Kraft hat, die Finanzmärkte zu regulieren. Die grundlegenden Spielregeln müssen überdacht und von den Bürgern über Volksentscheide legitimiert werden (und nicht nur über Neuwahlen). Vielleicht haben sogar nur noch die Bürger die nötige Kraft und Unabhängigkeit, systemverändernde Entscheidungen herbeizuführen und durchzustehen, weil sie nicht in dem Maße unter Druck gesetzt werden können wie die Politik.

Der Euro verschärft die Krise

Es lohnt sich die Zeit um einige Jahre zurückzudrehen.7) Als Deutschland durch die Wiedervereinigung neu erstarkte, diskutierte man in Europa darüber, ob die Bundesrepublik nicht doch wieder eine Gefahr darstellte. Hier entstand das Bild des vereinigten, einheitlich verfassten, zentral regierten Europas. Der Maastricht-Vertrag, der die Europäische Union erst begründete, stellte Europa auf drei Säulen, deren erste die Wirtschafts- und Währungsunion war. Durch den Binnenmarkt wuchs Europa wirtschaftlich zusammen. Der politische Rahmen jedoch, z.B. eine gemeinsame Steuerpolitik, fehlte. Auch fehlte der Mut eine grundlegende demokratische Neuordnung zu schaffen.

Doch sollte durch den Euro eine „immer enger werdende Integration“ in Gang gebracht werden. So taten sich wirtschaftliche Elefanten wie Deutschland und Frankreich zusammen mit Mäusen wie Portugal, Irland oder Griechenland, wohlhabende Länder mit halben Entwicklungsländern. Das Versprechen des Vertrages von Maastricht jedoch war: Der Euro hält die Preise stabil, verpflichtet die Staaten, Schulden und Defizite zu begrenzen und garantiert, dass kein Staat für den anderen haftet (No-Bail-Out). Doch kaum ein Land hat die so genannten Konvergenz-Kriterien (Neuverschuldung unter 3 Prozent, Gesamtverschuldung unter 60 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung (BIP)) erfüllt. Aber die politische Entscheidung, auch Staaten wie Italien, Belgien und Griechenland mit über 100 Prozent Staatsverschuldung in die Eurozone aufzunehmen, war gefallen.

Warnende Stimmen: Der Euro kommt zu früh!

Im Jahr 1992, vor der Unterzeichnung des Maastricht-Vertrages, unterschrieben 62 deutsche Ökonomieprofessoren ein Manifest gegen die Europäische Währungsunion. Sechs Jahre später schlossen sich mehr als 160 Ökonomieprofessoren einem Aufruf „Der Euro kommt zu früh“ an. So hieß es 1992 unter anderem, dass „die ökonomisch schwächeren europäischen Partnerländer bei einer gemeinsamen Währung einem verstärkten Konkurrenzdruck ausgesetzt werden, wodurch sie aufgrund ihrer geringeren Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit wachsende Arbeitslosigkeit erfahren werden. Hohe Transferzahlungen im Sinne eines ‚Finanzausgleichs’ werden damit notwendig.“ Und 1998 wurde gewarnt, dass der Stabilitätspakt „dauerhafte Haushaltsdisziplin nicht gewährleisten kann.“

Nach der Einführung des Euro finanzieren die Staaten ihre Schulden, indem sie Wertpapiere ausgeben, z.B. Bundesschatzbriefe. Dafür wird ein bestimmter Zins gezahlt, je nach Bonität und Wirtschaftskraft dieses Landes. Die Euroländer hatten zu beginn alle nahezu den gleichen Zinssatz, ein Land wie Griechenland hatte nun die gleiche Bonität wie der damalige Exportweltmeister Deutschland. Beide Länder haben nun die gleiche Währung. Die Märkte glaubten nicht an die „No-Bail-Out-Klausel“.

Nicht ohne Grund, denn die Europolitiker haben früh signalisiert, wie lax sie mit ihren selbst auferlegten Kriterien umgehen. Mit den Jahren türmen sich die Staatsschulden, finanziert durch billige Kredite und Zinsen, auf. Die zusätzlichen Schulden, die europaweit zusätzlich zur Bankenrettung ausgegeben wurden, bringen die nächste Finanzkrise langsam in Fahrt.

Im Oktober 2009 korrigiert Griechenland das laufende Defizit auf 12,5 Prozent seines BIPs. Ratingagenturen stufen daraufhin die Bonität des Landes herunter. Bis November steigt das Defizit auf 15,4 Prozent. Im Jahr 2010 legt Griechenland die tatsächliche Höhe seiner defizitären Haushaltslage sowie seines übermäßigen Verschuldungsgrads offen und kann sich weder am Kapitalmarkt mehr ausreichend refinanzieren noch aus eigener Kraft fällige Schulden und Zinsen zurückzahlen. Weitere Länder der Eurozone mit hohen Haushaltsdefiziten und Verschuldungsraten (Irland, Portugal, Spanien und Italien) können sich ebenfalls immer weniger am Kapitalmarkt finanzieren und werden auch zu den Krisenländern gezählt. Die Krise nimmt ihren Lauf. Durch Unterstützung des IWF und des von der EU verabschiedeten Europäischen Stabilisierungsmechanismus wurden so genannte „Rettungsschirme“ aufgebaut, die durch konkrete Hilfsmaßnahmen in Form von Liquidität und Bürgschaften helfen sollen, einen Staatsbankrott in einem Land der Eurozone zu vermeiden

Scheitert Europa ohne den Euro?

Auch diese Rettungsschirme werden als alternativlos dargestellt. Angela Merkel am CDU-Parteitag am 14.11.2011: „Der Euro ist weit mehr als eine Währung. Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Doch scheitert ohne den Euro tatsächlich der Binnenmarkt, die ganze EU oder gar Europa?

328 Volkswirtschaftsprofessoren haben sich weltweit in einer Stellungnahme scharf gegen den Euro-Rettungsschirm und einen dauerhaften Rettungsmechanismus (ESM) ausgesprochen. Würde die Krise zu einer Vergemeinschaftung der Schulden führen, hätte dies „fatale Langfristwirkungen für das gesamte Projekt der europäischen Integration“. Mit großer Sorge sehen die Ökonomen auch, dass der Ankauf hochriskanter Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) deren Ruf und Unabhängigkeit gefährde.8 )

Hier geht es nicht um die fachliche Bewertung der verschiedenen Konzepte, es geht nicht um für oder gegen den Euro, es soll nur vollständig klargemacht werden, dass dies alles politische Entscheidungen waren, die aus bestimmten Motiven und Interessen heraus getroffen wurden. Man hätte genauso gut andere Entscheidungen treffen können. Wie schon vielfach gesehen, gibt es zu all diesen Themenkomplexen sehr divergierende Ansichten.

These 6:

Die Parlamente der Euro-Länder (und die Regierungschefs der kleineren Länder) können nur noch nachvollziehen, was ihnen von den Regierungschefs der großen Länder, speziell Deutschlands und Frankreichs vorgesetzt wird.

Selbstbestimmtes, parlamentarisches Handeln findet kaum mehr statt. Parlamente gestalten nicht mehr, sondern vollziehen meist nur noch nach. Der Focus berichtete, dass Bundestagspräsident Norbert Lammert Angela Merkel in einem Brief aufgefordert habe, „sicherzustellen, dass die Bundesregierung den Deutschen Bundestag künftig umfassend und zum frühest möglichen Zeitpunkt unterrichtet“, wenn es um entscheidende EU-Fragen geht.

Oft genügt es, dass Regierungschefs der großen Länder sich absprechen und dies der Öffentlichkeit mitteilen. Dadurch entsteht ein Handlungsdruck, dem sich die Regierungschefs der kleineren Länder und die Parlamente nicht mehr entziehen können. Es können nur noch Detailkorrekturen im aufgespannten Rahmen vorgenommen werden, aber keine grundsätzliche Neuausrichtung oder gar eine völlig andere Lösungsstruktur. In einem persönlichen Gespräch über die Finanzkrise und ihre demokratiepolitischen Auswirkungen trifft der Parlaments-Präsident eines kleinen EU-Nachbarlandes folgende Aussagen: „Wir warten, was Deutschland macht und dem folgen wir.“ und „Wir haben keine Chance hier selbst etwas zu gestalten oder einen eigenen Weg zu gehen.“ Wir sollten nicht unterschätzen, wie satt es mittlerweile die Bürger und Zivilgesellschaft kleinerer Länder haben, ständig nach der Pfeife der Großen zu tanzen.

Mehr Demokratie handelt

So erleben wir im Zuge der Finanzkrise, der Eurokrise und der Eurorettungspolitik einen dramatischen Abbau an demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien. Das wollen wir ändern. Wir wollen informieren und einen gangbaren Weg zeigen, ohne selbst schon vorzugeben, welches die beste „finanzpolitische“ Lösung ist. Vor allem darf bei der Bewältigung der Krise nicht die Demokratie auf der Strecke bleiben. Aktuell sind der Fiskalpakt und der Eurorettungsschirm:

Fiskalpakt

Der Fiskalpakt hat das Ziel, die Haushalts- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten stärker zu koordinieren. Dabei sieht der Vertrag drastische Verschärfungen der Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten vor. Er wird tief in die Souveränität der Mitgliedsstaaten und in die Haushaltsautonomie der nationalen Parlamente eingreifen. So soll es in Zukunft möglich sein, dass die EU Mitgliedsstaaten vor dem EuGH automatisch verklagt werden, wenn die im Fiskalpakt vorgegebenen haushaltspolitischen Regeln nicht eingehalten werden.

Eurorettungsschirm

Durch den permanenten ESM wird die vorläufige Rettungsschirmpolitik weiter institutionalisiert. Zum ersten Mal wird jedoch nicht nur in Milliardenhöhe gebürgt, sondern ein Stammkapital von 80 Mrd. Euro eingezahlt. Der ESM-Gouverneursrat kann letztlich unbegrenzt hohe Kreditsummen bewilligen. Wir befürchten, dass der Bundestag de facto einen Teil seiner finanzpolitischen Souveränität verliert.9)

Rechtlich gesehen finden beide Verträge außerhalb der bisherigen EU-Verträge statt. Es sind Gesellschaften nach Luxemburgischem Recht, weil sie im Großherzogtum ihren Sitz haben. Sie werden direkt weder durch die nationalen noch das europäische Parlament kontrolliert. Die Führungsriege des ESM genießt Immunität und kann auch gerichtlich nicht belangt werden.

Rote Linie überschritten

Mit diesen Verträgen hat die deutsche Bundesregierung aus unserer Sicht die rote Linie überschritten, die das Bundesverfassungsgericht in mehreren Urteilen, zuletzt am 7. September 2011 gezogen hat: Das Grundgesetz regelt in Artikel 23 die Übertragung von Hoheitsrechten auf die europäische Union. Der Bundestag darf seine Budgethoheit nicht an Brüssel abgeben oder substantiell einschränken lassen, auch nicht mit einer Zweidrittelmehrheit.10) Jeder wahlberechtigte Bürger hat nach Art. 38 GG nicht nur ein Recht auf Beteiligung am Wahlakt. Er hat auch ein Recht darauf, dass das gewählte Parlament mit substantiellen Befugnissen ausgestattet bleibt.

Nun sollen Bundestag und Bundesrat ESM und Fiskalpakt zustimmen und sich und zukünftige Parlamente damit in wichtigen Bereichen selbst entmachten. Das geht nicht mehr ohne die Zustimmung der Bürger.

Forderung 1: Volksentscheid

Deshalb fordern wir Volksentscheide über EURO-Rettungsschirm und Fiskalpakt

Um Fiskalpakt und ESM überhaupt ins Leben rufen zu können, wurden die europäischen Verträge geändert (Art. 136 Abs. 3 AEUV). Bei Vertragsänderungen von grundsätzlicher Bedeutung ist ein Konventsverfahren verbindlich vorgeschrieben. Dies sieht der Lissabon Vertrag vor. Wir fordern, dass die Regierungen wenigstens das Rechtsstaatsprinzip einhalten und die Verträge einhalten, die sie selbst geschlossen haben.

Forderung 2: Europäischer Konvent

Wir fordern die Direktwahl eines Konvents zur Zukunft der europäischen Union. In einen europäischen Konvent erhalten Bürger, Politiker und alle weiteren gesellschaftlichen Akteure die notwendige Zeit, die immensen Probleme grundlegend und vor allem auch in Alternativen zu denken, diskutieren und zu entscheiden.

Verfassungsbeschwerde

Sollte der Bundestag ESM und Fiskalpakt zustimmen, ohne uns Bürger zu fragen, werden wir uns dieses Recht durch Verfassungsbeschwerden erkämpfen. Dann reichen wir jeweils am Tag nach der Verabschiedung des Zustimmungsgesetzes Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe ein. Und jeder Bürger11) kann mitklagen. Kostenlos. Unter www.verfassungsbeschwerde.eu Auf das auch in Zukunft alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht.

Literaturhinweise

1) Niemand war klug genug, das zu durchschauen. Das hat niemand kommen sehen.“

2) Dick Cheney in: Deb Reichman, associated press, 8. Januar 2009.

3) Nouriel Roubini, Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft, Campus Verlag.

4) Siehe Fußnote 3.

5) Susanne Steinborn, Kurzstudie im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Stand November 2009

6) Auszug Lobbypedia

7) FAZ 18.01.2011:http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/alternativlos-merkelsverdrusswort-1574350.html.

8 ) FAZ 18.01.2011:http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/alternativlos-merkelsverdrusswort-1574350.html.

9) http://www.wiso.uni-hamburg.de/lucke/?p=581.

10) Die Gesamthöhe der Haftungssummen Deutschlands aller Rettungsmaßnahmen (Rettungsschirme, Rettungspakete für Griechenland, Portugal, Irland, EZB-Kredite etc. beträgt mittlerweile – laut dem IFO-Institut 641 Mrd. Euro – Stand 29.5.2012

11) Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung, 3.3.2012, Fiskalpakt kratzt am Grundgesetz Dazu muss man deutscher Staatsbürger sein.


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