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Zwischen EU-Beitritt und bilateralem Weg: Überlegungen und Reformbedarf aus kantonaler Sicht

Das Buch enthält drei Expertenberichte, die im Auftrag der Arbeitsgruppe „Europa – Reformen der Kantone“ der Konferenz der Kantonsregierungen erstellt wurden. Der erste der Berichte beschäftigt sich mit der Mitwirkung der kantonalen Parlamenten an der europapolitischen Willensbildung (Prof. Kurt Nuspliger). Der zweite Bericht untersucht die Bewertung verschiedener europapolitischer Optionen bezüglich ihrer Auswirkungen auf die Kantone aus rechtlicher Sicht“ (Astrid Epiney; Annekathrin Meier; Robert Mosters). Ein letzter Beitrag behandelt die Frage „Die Kantone zwischen EU-Beitritt und bilateralem Weg: Direkte Demokratie, Mitwirkung an der Europapolitik und Umsetzung“ (Andreas Auer, Bénédicte Tornay; Irène Renfer).

Der Auftrag an die erste Studie umfasste „die Analyse der Frage des Einbezugs der kantonalen Parlamente im Rahmen der Mitwirkung der Kantone im Bereich der Aussenpolitik. Insbesondere gilt es zu prüfen, ob und wie die kantonalen Parlamente in den Willensbildungsprozess einbezogen werden können. Konkret stellt sich neben der rechtlichen Grundlage hierbei die Frage, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Form die Parlamente informiert bzw. konsultiert werden sollen. Diese Frage soll auch anhand bestehender Modelle erläutert werden“. Bei der Beteiligung der Kantonsparlamente an der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sind zwei Fälle zu unterscheiden. (1) Die Zuständigkeit liegt bei den Kantonen. Für diesen Fall muss untersucht werden, wie die kantonalen Parlamente frühzeitig Einfluss nehmen können. (2) Die Kompetenz liegt auf Bundesebene. Nach Artikel 55 der Bundesverfassung wirken die Kantone an der Vorbereitung aussenpolitischer Entscheide jedoch mit – sofern ihre Zuständigkeiten oder ihre wesentlichen Interessen betroffen sind. Die primären Ansprechpartner des Bundes sind in diesem Falle die Kantonsregierungen. Für diesen Fall geht es um die Frage, wie die Kantonsparlamente auf ihre Regierungen Einfluss nehmen können. Es liegt dabei in der Autonomie der einzelnen Kantone festzulegen, ob und gegebenenfalls in welchem Ausmass sie die Mitwirkungsmöglichkeiten der Parlamente in diesem Bereich gewährleisten.

Die Problematik stellt sich im Rahmen der Entwicklung des Völkerrechts nach dem zweiten Weltkrieg. Das internationale Recht, traditionell eine Domäne der Exekutiven der Staaten, wurde immer wichtiger. Dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Struktur föderalistisch organisierte Länder und schlägt sich in „Föderalismusreformen“ sowie Regelungen bezüglich der Berücksichtigung der Gesichtspunkte der Gliedstaaten nieder. In der Studie wird an Beispielen analysiert, wie dies in den verschiedenen Staaten gehandhabt wird (die gliedstaatliche Mitwirkung in ausgewählten Ländern, S. 17 ff.). In Deutschland spielt etwa der Bundesrat (Rat von Vertretern der Landesregierungen) eine gewisse Rolle – etwa auch bezüglich der EU-Politik. Allerdings wird damit der Einfluss der Länderexekutiven gefördert, was nicht überall goutiert wird. Bezüglich der Kontrolle durch die Länderparlamente kann bemerkt werden, dass sich diese auf Informationsrechte der Parlamente, sowie auf Stellungsnahmen letzterer beschränken. Die Stellungnahmen sind von den Exekutiven zu „berücksichtigen“ – rechtlich verbindlich sind sie jedoch nicht. Deshalb kann allgemein festgestellt werden, dass durch die Internationalisierung der Politik nicht nur auf staatlicher Ebene eine Verschiebung der Gewichte von den Parlamenten hin zu den Exekutiven stattfindet, sondern auch auf der teilstaatlichen Ebene in Bundesstaaten. Diese Tendenz wird verstärkt durch die wirklichen oder angeblichen Imperative der immer engeren Zusammenarbeit zwischen den untergeordneten Gebietskörperschaften. Dadurch entsteht etwa in der Schweiz eine weitere politische Ebene zwischen den Kantonen und dem Bund, nämlich die Ebene der Konkordate, Kantonsregierungskonferenzen etc. Diese Ebene wurde durch neueste Entwicklungen des Verfassungsrechts auf Bundesebene gefördert (Möglichkeit der Verbindlicherklärung von Konkordaten). Bei dieser Ebene zwischen Bundesstaat und Kantonen stellen sich im Prinzip genau dieselben Demokratieprobleme wie auf der EU-Ebene. Die Verhandlungen liegen in der Hand der (Kantons-)Regierungen und der Verwaltung und werden im Wesentlichen im Nachhinein von den Parlamenten abgesegnet.

Nuspliger schlägt in diesem Zusammenhang vor, dass diese Auswirkungen der Internationalisierung und Interkantonalisierung durch folgende Massnahmen abzufedern wären: - Frühzeitige Information des Parlaments über grundsätzliche Fragen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und der EU-Integration. - Festlegung von Grundsätzen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Rahmen der Gesetzgebung. - Einflussnahme des Parlamentsplenums auf wichtige Fragen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und der EU-Integration (Grundsatzentscheide; Standesinitiativen; parlamentarische Vorstösse, Behandlung von Berichtung; Planungserklärungen). - Einsetzung von parlamentarischen Kommissionen, die in einem einfachen Verfahren zu Grundsatzfragen informiert und konsultiert werden können. - Kontrolle des aussenpolitischen Handelns der Regierungen (Rechenschaftsberichte, Aktivitäten im Rahmen der Oberaufsicht des Parlaments über Regierung und Verwaltung.

Ob diese Massnahmen das wachsende Demokratiedefizit zu mindern vermag, bleibe dahin gestellt. Innerhalb der EU liefern sie angesichts des dort herrschenden Gesetzgebungs- und Zeitdrucks kaum realistische Einflussmöglichkeiten. Die entsprechenden Instrumente würden zum demokratiepolitischen Feigenblatt verkommen.

Im zweiten Beitrag werden EU-Beitritt und bilaterale Verträge gegenüber gestellt – unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation der beiden Varianten. Bezüglich der bilateralen Verträge vermerken die AutorInnen, dass im Anwendungsbereich der bilateralen Verträge und soweit sie den einschlägigen acquis communautaire übernehmen, für dessen Übernahme die einschlägigen Bestimmungen des schweizerischen (Verfassungs-)Rechts und die in den Verträgen selbst vorgesehenen Vorschriften zur Anwendung kommen; insoweit sei also durchaus eine demokratische Legitimation gegeben. Es sei aber zu beachten, dass der inhaltliche Spielraum hier denkbar gering ausfalle; zur Debatte stünden nämlich im Wesentlichen nur die Frage der Übernahme eines vorgegebenen Rechtsbestandes. Jedenfalls bleibe aber zu berücksichtigen, dass die Schweiz sowohl beim Abschluss der Verträge als auch bei der Übernahme des zukünftigen einschlägigen acquis communautaire insofern frei bleibe, als sie eine ablehnende Haltung einnehmen könne, wobei diese ggf. weitreichende Folgen nach sich zieht oder ziehen könnte. Nicht möglich sei jedoch in aller Regel eine Modifikation des durch die Gemeinschaft beschlossenen acquis communautaire, an dessen Erlass die Schweiz nicht beteiligt war.

Im Falle eines EU-Betritts müsste die Schweiz alle Pflichten eines Mitgliedstaats erfüllen, was insbesondere implizierte, dass sie den gesamten acquis communautaire unter Beachtung der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben anwenden müsste. Ihr stünde es insbesondere auch nicht - im Gegensatz zur Rechtslage unter (gewissen) bilateralen Verträgen - frei, «auszuscheren» und gewisse Entwicklungen des acquis communautaire nicht zu übernehmen, ggf. um den Preis des Ausserkrafttretens der (betroffenen) Verträge. Weiter ist zu bemerken, dass der zu übernehmende Rechtsbestand bei einem EU-Beitritt selbstverständlich den gesamten acquis communautaire erfasste und nicht nur Teile desselben wie bei der Fortführung des «Bilateralen Weges». Die demokratische Legitimation des acquis communautaire kommt also nicht mehr über die Annahme oder Ablehnung von klassischen zwischenstaatlichen Verträgen zu Stande, sondern mittels (1) der Annahme der EU-Verträge und (2) über die Teilnahme der schweizerischen Regierungsvertreter und der schweizerischen Administration an den Entscheidungsprozessen in Brüssel. Die Autoren weisen mit Recht darauf hin, dass die Exekutivlastigkeit des verbleibenden Einflusses der Schweiz nicht allzu sehr durchs Parlament beschränkt werden kann: Einfluss der Parlamente der Mitgliedstaaten ist nur möglich, sofern aufgrund von Art. 10 EGV die Handlungsfähigkeit des Gemeinschaftsorgans Rat nicht gefährdet wird. Eine entsprechende Beschränkung würde auch für allfällige Versuche der Beeinflussung der Positionen der Schweiz in Brüssel durch direktdemokratische Instrumente gelten (was die AutorInnen allerdings nicht erwähnen).

Die AutorInnen schliessen aus dieser Auslegeordnung seltsamer Weise und ziemlich voreilig, „dass in Bezug auf die demokratische Legitimation des in der Schweiz anzuwendenden Rechts die Vorteile im Falle eines EU-Beitritts im Vergleich zum «Bilateralen Weg» insgesamt überwiegen dürften, soweit es um bilaterale Verträge geht, die Teile des acquis communautaire übernehmen“. In der Tat wird hier eine Gewichtung zugunsten der (vermutlich nicht besonders grossen) Einflussnahme der Exekutive zulasten der Kontrollmöglichkeiten der gesamten Bevölkerung vorgenommen, die diskutabel ist.

Nach diesen Ausführungen zur demokratischen Legitimation der beiden möglichen Verhältnisse zur EU diskutieren die AutorInnen die Möglichkeiten der Einflussnahme der Kantone auf die Brüsseler Entscheidungsprozesse im Falle eines EU-Beitrittts und im Falle der Fortführung der bilateralen Verträge. Im Falle eines EU-Beitritts könnten die Kantone im Ausschuss der Regionen teilnehmen. Dieser Auschuss enthält Vertreter der Regionen, die unabhängig von Weisungen aus ihren Regionen ihr Mandat zum Wohle der EU ausüben müssen. Der Ausschuss hat beratende Funktionen, wobei er in manchen Fällen obligatorisch anzuhören ist. Der Ausschuss kann rechtlich unverbindliche Stellungnahmen zu Themen abgeben, die regionale Interessen berühren. Neben dem Ausschuss der Regionen können Vertreter von untergeordneten Gebietskörperschaften den Bundesstaat in Brüsseler Gremien vertreten (wenn dies durch den Bundesstaat so beschlossen wird). Zuletzt können untergeordnete Gebietskörperschaften in Brüssel Lobbying betreiben. Die AutorInnen malen die entsprechenden Einflussmöglichkeiten für die Kantone wohl etwas zu rosig aus, wenn sie diese mit den Aktivitäten Deutscher Bundesländer vergleichen (Nordrheinwestfalen hat 24 Millionen Einwohner; Bayern 9 Millionen!). Entsprechend rosig fällt die Option EU-Beitritt dann im Vergleich zur Option „Bilaterale Verträge“ aus. Jedenfalls macht die Beschreibung der beiden Optionen klar, welche Kreise von den (potentiell!) erweiterten Möglichkeiten des Mitmischens in Brüssel profitierten: im Falle eines EU-Beitritts könnten Beamte der kantonalen Verwaltungen und Regierungsratsmitglieder mehr mitmischen als im Falle des bilateralen Wegs. Dies als Vorteil für die „Kantone“ hinzustellen, ist wohl etwas gewagt.

Der letzte Beitrag disqualifiziert sich in der Einleitung gleich selber: „Die drei erwähnten Kapitel werden nicht in einer akademischen Perspektive angegangen, sozusagen mit dem Anspruch, das Thema erschöpfend und gleichzeitig neutral abzuhandeln. Sie wurden ja nicht für die wissenschaftliche Gemeinschaft verfasst, sondern für die Kantonsregierungen als politische Akteure. Es handelt sich also hier um eine mitunter tendenziöse und lückenhafte Kurzfassung, die ganz bewusst zu manchen Verkürzungen greift.“ (S. 219). Als ob Kantonsregierungen für die Festlegung von Positionen nicht möglichst neutraler Informationen bedürften, um Entscheidungen zu treffen! Bemerkenswert ist etwa die Argumentation, im Falle eines EU-Beitritts würde die direkte Demokratie in der Schweiz nicht tangiert – denn man dürfe immer noch über alles abstimmen, was nicht in den Kompetenzbereich der Brüsseler Institutionen gerate. Laut dieser merkwürdigen Argumentation der AutorInnen braucht die Demokratie keiner inhaltlicher Entscheidungskompetenzen. Ein System würden sie so selbst dann als direktdemokratisch bezeichnen können, wenn es inhaltlich überhaupt nichts mehr zu entscheiden gäbe: es genügt, das formale Recht, Entscheidungen zu fällen! Solche „Argumentationen“ kann man mit Fug als versuchten politischen Betrug bezeichnen. Hier werden offenbar Sprachverdrehungen für künftige EU-Kampagnen entwickelt. Auf dem Hintergrund dieser Taschenspielertricks gelangen die AutorInnen nämlich zur abstrusen „Schlussfolgerung“, die „direkte Demokratie sollte als Argument weder von den [Gegnern noch von den Befürwortern eines EU-Beitritts] angeführt werden“, da die direkte Demokratie durch den EU-Beitritt nicht betroffen sei (S. 249). Dabei geben die Autoren durchaus zu, dass im Falle eines Beitritts Kompetenzen nach Brüssel fliessen. Das „relativieren“ sie durch die seltsame Argumentation, die Behörden würden allerdings mehr verlieren als das Volk. Dies zeigt deutlich, dass die AutorInnen implizit die Volkssouveränität ablehnen.

Konferenz der Kantonsregierungen (Hrsg.), Zwischen EU-Beitritt und bilateralem Weg: Überlegungen und Reformbedarf aus kantonaler Sicht: Expertenberichte im Auftrag der Arbeitsgruppe „Europa – Reformen der Kantone“, Zürich, Schulthess, 2006.

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