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Bilaterale Verträge und Landwirtschaft



Die Bilateralen Verträge mit der EU öffnen im Landwirtschaftsbereich gegenseitig den Zugang zum Markt und harmonisieren die Anerkennung von technischen Vorschriften, zum Beispiel bei der Zulassung von Pflanzenbehandlungsmitteln oder bei den Bestimmungen des biologischen Landbaus. Das Ziel ist mehr Agrarhandel in beiden Richtungen. Wirtschaftlich am bedeutendsten wird der Zollabbau bei Käse sein. Innert fünf Jahren werden in diesem Bereich praktisch Wettbewerbsverhältnisse hergestellt. Der Schweizer Käserei- und Milchwirtschaft eröffnen sich Exportmöglichkeiten, sie hat sich aber im offenen Konkurrenzkampf mit den Erzeugnissen der EU-Mitgliedstaaten zu messen, auch auf dem einheimischen Markt. Ob Bauern und Käsereigewerbe die Herausforderung meistern, welche die neue Situation zweifelsohne darstellt? Entscheidend sind die innovativen Kräftereserven, die freigesetzt werden können.

von Herbert Karch, Sekretär VKMB

Landwirtschaft als Verliererin?

Auf dem Land geht die Angst um, die Landwirtschaft werde für die Vorteile der übrigen Wirtschaft die Zeche zahlen müssen. Sicherlich wird Christoph Blocher bei Bäuerinnen und Bauern Stimmung und Stimmen machen, wenn es zum Referendum über die Bilateralen Verträge kommen sollte. Die Gefolgschaft auf dem Land erwächst ihm aus Unzufriedenheit und Verunsicherung heraus, nicht aus einer besseren Perspektive für die Landwirtschaft unter "eigenständigen" Bedingungen. Die Europäisierung und Globalisierung des Agrar- und Lebensmittelmarktes ist unaufhaltsam in Gang. Schweizer Konzerne wie Nestlé, André und Metro mischen an vorderster Stelle mit.

Die Vernetzung der Welt über neue Kommunikationsmittel relativiert die Wirkung von Landesgrenzen. Auch den Warenströmen bieten sie je länger je weniger ein Hindernis. Ob mit oder ohne Bilaterale Verträge, der Importdruck auf den Schweizer Agrarsektor verstärkt sich. Das Währungs- und Preisgefälle ist zu attraktiv. Lehnen wir die Vertragslösung ab, so gibt es keine Gegenleistung der EU, also keinen erleichterten Zutritt für schweizerische Erzeugnisse in den Euromarkt. Eine Coop-Studie berechnet den Einkauf von Nahrungsmitteln durch Schweizer Konsumenten im Ausland auf jährlich etwa 1.5 Milliarden Franken (für Fleisch, Milchprodukte und andere Lebensmittel). Das ist zwar weniger als ein Zwanzigstel der Haushaltausgaben für Nahrungs- und Genussmittel. Doch der Anteil ist hoch genug, um das unter hohem Produktivitätszuwachs labile Gleichgewicht am schweizerischen Milch- und Fleischmarkt zu kippen. Wenn in nächster Zeit auch noch 50'000 Flüchtlinge und Asylsuchende nach Bosnien und Kosovo zurückkehren und die Touristen wegen der Wetterkapriolen weniger zahlreich in die Schweiz kommen, sind Überschüsse und Agrarpreisstürze programmiert.

Hausgemachte Probleme

Die Auseinandersetzung um die Bilateralen Verträge sollte nicht verdecken, dass die Marktprobleme in erster Linie hausgemacht sind. Die Schweizer Landwirtschaft produziert in den Hauptbetriebszweigen - neben Milch und Fleisch geht es um Getreide, Kartoffeln und Obst - nahe oder über der Selbst-versorgungsgrenze. Latent drohen Marktzusammenbrüche. Und trotzdem steigern Milchproduzenten und Viehzüchter unentwegt die Milchleistung der Kühe, selektionieren Schweinehalter auf schnelleren Mastzuwachs und eifern Ackerbauern, von Saatgut- und Chemiemultis eifrig beraten, um Höchsterträge an Getreide, Mais und anderen Nutzpflanzen. Doch weder die Steigerung der Produktivität noch der Strukturwandel, der jährlich die Zahl der Bauernhöfe reduziert, damit die verbleibenden wachsen können, ändern etwas an der Ausgangslage: Die schweizerische Landwirtschaft produziert teurer als die ausländische Konkurrenz. Dafür sorgen Klima und Topografie, welche die Bewirtschaftung vieler Gegenden erschweren. Aber ein ebenso gewichtiger Faktor sind die höheren Kosten für die Vorleistungen, welche die Landwirtschaft einkauft. Bodenpreise, Pachtzinsen, Maschinenreparaturen, Dünger, Futtermittel usw., alles kostet bei uns mehr als in der EU. Zwar haben sich die Produktionsmittel in den letzten Jahren nicht verteuert, einige sind sogar billiger geworden, doch der Effekt auf die Wettbewerbsfähigkeit wird von der parallelen Entwicklung im Ausland neutralisiert.

Weg vom Rohproduktemarkt!

Mit ihren Problemen stehen die Schweizer Bauern nicht alleine da. Alle Nahrungsproduzenten, alle Rohstoffproduzenten, gehören zu den Verlierern der Globalisierung. Das weltweite Angebot an Rohstoffen übersteigt seit etwa zwanzig Jahren die Nachfrage. Bei Nahrungsmitteln muss man präzisieren: das Angebot ist grösser als die zahlungsfähige Nachfrage. Rohstoffhändler und -verarbeiter sitzen am längeren Hebel. Sie sind straffer organisiert, besser informiert und beweglicher am Weltmarkt als die Produzenten, die sich gegeneinander ausspielen lassen. Die Produzenten sind - vor allem in den Industrieländern - in ein wahres Wettrüsten des technischen Fortschrittes eingespannt. Die Mechanisierung und Techno-logisierung schreitet voran, verschafft den Erstanwendern kurzzeitig wirtschaftliche Vorteile, macht die grosse Mehrheit aber zu Opfern des Verdrängungswettbewerbes.

Wer nicht zu den Spitzenreitern gehört, dem ist die Rolle als Wachstumsreserve zugedacht. Die Bauern sind solange nur Marktverdrängungspotential, als sie sich nicht von der Funktion der Rohwarenproduktion verabschieden. Ein entschiedener Kurswechsel ist nötig, um den Prozess von Strukturwandel und Konzentration, der vielen schon wie ein Naturgesetz erscheint, zu durchbrechen. Diesen Schritt müssen Bäuerinnen und Bauern zuerst im Kopf und dann auf ihren Betrieben vollziehen.

Bisher hat dies erst eine Minderheit in der Schweizer Landwirtschaft geschafft. Fünf- bis sechstausend Bauernfamilien haben sich pionierhaft eigene Märkte geschaffen. Sie fabrizieren aus Rohstoffen begehrte Spezialitäten, sie bieten Erzeugnisse mit deklariertem ökologischem Zusatznutzen an und sie suchen die kurzen Wege zu den Konsumenten. Die meisten dieser Pionierbetriebe sind kleine und mittlere Bauernhöfe, von der früheren Agrarpolitik eher benachteiligt. Für den grossen Rest der Bauern, durch Absatz- und Preisgarantien auf Massenproduktion abgerichtet, braucht es Druck von aussen, damit so etwas wie eine Reform in Gang kommt. Die mass-vollen Schritte der Agrarpolitik 2002 mussten der Schweizer Landwirtschaft mit dem Damoklesschwert der radikalen Kleinbauern-Initiative mehr oder weniger aufgezwungen werden.

Agrarpolitik durch die Verträge nicht eingeschränkt

Durch die Bilateralen Verträgen wird die schweizerische Landwirtschaftspolitik nicht eingeschränkt. Die Neuausrichtung auf Ökologie und marktgerechte Produktion hat die Schweizer Landwirtschaft - spät zwar, aber immerhin - auf die Marktöffnung vorbereitet. Die Kritik an den Bilateralen Verträgen gilt, was die Landwirtschaft anbelangt, mehr der Agrarreform als den ausgehandelten Vereinbarungen. Es sind traditionalistisch orientierte Kräfte aus der Landwirtschaft, die opponieren. Man hat Mühe mit dem Mentalitätswandel, kann noch nicht begreifen, dass kriegswirtschaftliche Staatseingriffe im Agrarsektor mit einer auf dem Industrie- und Dienstleistungsmarkt liberal organisierten Wirtschaft nicht mehr zusammenpassen. Zum andern wehren sich Profiteure der alten Agrarpolitik, zum Beispiel gegen die Streichung staatlicher Subventionen im Käse- oder Viehexport. Für mindestens zehntausend vorwiegend grössere Landwirtschaftsbetriebe, welche sich von Bank- und Staatskrediten zu teuren Landkäufen und überdimensionierten Investitionen verleiten liessen, geht die Rechnung nicht mehr mit den gleich grossen Gewinnen auf wie in den goldenen achtziger Jahren.

Mit 2.5 Milliarden Franken Direktzahlungen im Jahr stützt der Bund die Produktionsnachteile der Schweizer Bauern und honoriert so die multifunktionalen Leistungen zugunsten der Umwelt, des Tierschutzes und der Landschaftspflege. Es könnte noch eine Milliarde Franken mehr zur Verfügung stehen, jenes Geld, das heute in die Kassen von Landwirtschafts- und Marktorganisationen geschüttet wird, um angeblich den Absatz von Schweizer Produkten zu verbessern. Die Auseinandersetzung um die sinnvolle Verwendung öffentlicher Gelder hat aber mit den Bilateralen Verträgen nichts zu tun. Hier geht es um reine Innenpolitik.

Von der bürgerlichen Mehrheit im Parlament werden soziale und ökologische Fortschritte - nicht nur in der Agrarpolitik - zur Zeit völlig blockiert. Hoffen muss man in dieser Beziehung - und das klingt fast paradox - auf die Verhandlungen über die Welthandelsregeln. Wenn nämlich im WTO-Agrarabkommen die Export- und Produktesubventionen weiter abgebaut oder gar abgeschafft werden, sind die EU und die Schweiz gezwungen, ineffiziente Markteingriffe aufzugeben. Mit dem gesparten Geld - für die EU jährlich mindestens 50 Milliarden Franken - könnten die multifunktionalen Leistungen der Landwirtschaft besser entschädigt werden.

EU-Beitritt als agrarpolitischer Rückschlag

Agrarpolitisch sind die Bilateralen Verträge wenig problematisch. Einziger Wermutstropfen ist die vom Bauernverband verlangte flankierende Massnahme: Die grossen Landwirt-schaftsverbände wollen staatlich erzwungene Bauernbeiträge an ihre Werbebudgets. Die Agrolobby nutzt die Gunst der Stunde, um ein altes Anliegen durchzuboxen, obwohl die Volksabstimmung von 1995 zur gleichen Frage ein deutliches Nein ergeben hatte.

Kritischer als die Folgen der EU-Verträge muss man die agrarpolitischen Auswirkungen eines Beitritts beurteilen. Unter der geltenden Agrarmarktordnung der EU müssten unsere Reformen zu einem grossen Teil rückgängig gemacht werden. Es sei denn, man könnte eine möglichst lange Übergangszeit aushandeln, in der Hoffnung auf eine spätere Öko- und Sozialreform der EU-Agrarpolitik. Die Hoffnung auf die Reformierbarkeit der EU-Agrarpolitik wurde allerdings dieses Jahr herb enttäuscht. Ob die Bedingungen für mehr Ökologie und soziale Gerechtigkeit bei der Verteilung des Agrarbudgets in der nächsten Reform von 2006 besser stehen, bleibt offen.



Steigende Direktimporte von Nahrungs- und Genussmitteln





1989


1991


1993


1996


1998

über 600 Millionen Franken


über 1'000 Millionen Franken


über 1'500 Millionen Franken


über 1'550 Millionen Franken


über 1'600 Millionen Franken

nach Produktegruppen

1993

1996

1998

alkoholische Getränke


Fleisch/Fleischwaren


Milchprodukte/Käse


Speiseöl/Speisefett


Obst/Gemüse


Übrige Lebensmittel

375


450


300


150


-


225

450


400


300


150


50


200

445


415


300


150


80


210

Quelle: Coop Schweiz

Einkommensschätzungen für die Landwirtschaft


(Beiträge in Milliarden Franken)

Referenz
2003

Alleingang
2007

EU-Beitritt
2007

Wert Endproduktion (Markterlös


Direktzahlungen


Total Einnahmen





% Variable Kosten


% Strukturkosten (2% Strukturwandel)


Sektoreinkommen


6.9


2.6


9.5





2.6


4.4


2.5


5.7


2.5


8.2





2.1


4.1


2.0


4.4


2.3


6.7





1.4


3.9


1.4




Quelle: Integrationsbericht 1999 / ETH-Institut für Agrarwirtschaft



Bio-Bauern - zu marktfreundlich?

( Redaktion des Europa-Magazins)

Bei offiziellen Vertretern der Biobauern lässt sich in den letzten Jahren eine gewisse Markteurophorie beobachten. Dabei werden von ihnen u.E. verschiedene Aspekte ausgeblendet. (1) Als Biobauer müsste man beim Schielen auf Exportmöglichkeiten auch die Auswirkungen auf den Gütertransport beachten. Ist es sinnvoll, Biofleisch aus der Schweiz nach Holland zu transportieren, obwohl man dort solches Fleisch auch produzieren könnte (und früher oder später auch produzieren wird, wenn erst mal eine Nachfrage dafür da ist)? Etwas anders sieht es mit Spezialitäten aus, bezüglich derer man Transporte eher rechtfertigen könnte. (2) Wenn auf Direktvermarktung hingewiesen wird, müsste vorgängig untersucht werden, ob sich denn alle Bauern auf diese Art durchschlagen könnten. Marktnischen eröffnen sich oft nur solange, als nicht zu viele Anbieter hineindrängen. (3) Schweinezyklusphänomene werden sich auch auf "freien" Biomärkten ergeben. Der "freie" Markt wird sich vermutlich spätestens dann an markteuphorischen Biobauern rächen, wenn der Biomarkt genügend gross und entsprechend unübersichtlich geworden ist. Diese kritischen Bemerkungen sind nicht gegen jegliche Marktmechanismen in der Landwirtschaft gerichtet. Regionale Märkte sind aber vermutlich für kleinstrukturierte Biobauern auf die Dauer interessanter als kontinentale oder gar globale Agrarmärkte.

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