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Leitideen des Anarchismus und EU-Kritik

Der Anarchismus – wobei der bestimmte Artikel wohl schlecht gewählt ist, man würde besser von Anarchismen sprechen – vertritt im Selbstverständnis die Idee der Herrschaftsfreiheit: kein Mensch soll über einen anderen herrschen. Was genau unter “herrschen” zu verstehen ist und wieviel Organisation der Gesellschaft sich mit der Idee verträgt, ist dabei bei den Anarchisten umstritten. In der Öffentlichkeit hingegen wird der Anarchismus mit Gegnerschaft zu jeder gesellschaftlichen Ordnung oder gar mit Terrorismus identifiziert. Für beide Vorurteile sind die Anarchisten historisch gesehen zum Teil auch mitverantwortlich. Vor allem wurde der Anarchismus jedoch im 20. Jahrhundert Opfer von negativer Propaganda, wie dies vor der Französischen Revolution auch bezüglich der Demokratie der Fall war (s. als ersten Einstieg den lesenswerten Artikel in Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Anarchismus).

Von Chris Zumbrunn

Bis ins 18. Jahrhundert wurde Demokratie meist abschätzig als "unkontrollierte" Macht des Volkes verstanden und war damit mit dem im 20. Jahrhundert gängigen Verständnis des Begriffs „Anarchismus“ weitgehend synonym. Unter "moderner" Demokratie wird vor allem repräsentative Demokratie in der Form von Parlaments- und Regierungswahlen verstanden. Die direkte Demokratie gilt allgemein als schon fast utopischer Idealzustand. Im Vergleich zu Monarchie und Diktatur geht es sowohl bei der Demokratie wie auch beim Anarchismus eigentlich um das Recht der Bevölkerung sich selber zu organisieren. Gegenüber "moderner" Demokratie steht der Anarchismus aber für ein konsequenteres Recht auf Selbstorganisation und einen ausgeprägteren Schutz der Freiheiten, auch von Minderheiten.

Herrschaftsfreiheit

Es stellt sich beim Ruf nach Herrschaftsfreiheit die Frage, was damit genau gemeint ist. Bei den Soziologen oder Politologen wird man bei der Suche nach einer griffigen und funktionierenden Definition kaum fündig. Von einer solchen Definition hängt aber jede sinnvolle Diskussion ab. Handelt es sich um Herrschaft, wenn Beschlüsse gegen den Willen von betroffenen Personen durchgesetzt werden und diese Beschlüsse demokratisch und bei möglichst grosser Kompromissbereitschaft der Mehrheit gegenüber den Minderheiten sowie unter gleichberechtigter Mitbestimmung aller Betroffenen gefällt wurden? Wenn die Gesellschaft ohne solche Beschlüsse nicht so organisierbar ist, so dass die Menschen die Grundbedürfnisse befriedigen können und in Sicherheit leben können, und würde der Herrschaftsbegriff solche Machtausübung umfassen, wäre die Forderung nach Herrschaftsfreiheit abzulehnen. Bei der Diskussion der verschiedenen anarchistischen Strömungen und Organisationsformen, geht es denn auch vor allem um die Frage, inwiefern es solche Beschlüsse für eine sinnvolle Organisation der Gesellschaft braucht. Aber selbst wenn man die Forderung nach völliger Herrschaftsfreiheit – je nach Begriffsdefinition – ablehnt, ist die Forderung nach möglichst reduzierte Herrschaft begrüssenwert.

Freie Kooperation freier Individuen?

Die Idee von der herrschaftsfreien Zusammenarbeit der Menschen wird oft mit dem Schlagwort "freie Kooperation freier Individuen" zusammengefasst. Auch hier stellt sich die Frage, was "freie Kooperation" genau heisst. Ist unter freier Kooperation auch eine Kooperation zu verstehen, welche mit Einverständnis aller - oder fast aller - alle verpflichtet, gewisse Dinge zu tun, z.B. zur Schaffung öffentlicher Güter beizutragen, wie Schulen, Strassen, Eisenbahnen oder anderer Netze? Diesbezüglich gehen die Anarchisten oft davon aus, dass grundsätzlich alle gesellschaftlich zur Zusammenarbeit verpflichtet sind, dass die freiwillige Pflichterfüllung aber ausreicht und kein eigentlicher Zwang notwendig ist. Solche Kooperation ist durchaus möglich, wie die bewährten Arbeitspraktiken zur Entwicklung der technischen Spezifikationen des Internet und zur Entwicklung von Software in der Open Source Bewegung zeigen, wo es sehr gut gelingt, mit anarchistischen Organisationsstrukturen öffentliche Güter zu produzieren. Die in diesem Bereich gemachten Erfahrungen der letzten vierzig Jahre sind in Zukunft möglicherweise gut auf manche andere Bereiche der Gesellschaft übertragbar. Wie dem auch sei, die Forderung nach freier Kooperation freier Individuen in möglichst vielen Bereichen ist begrüssenswert. Sie ist durch die Forderung zu ergänzen, dass Kooperationszwang nur dann zulässig ist, wenn er sich als nötig für die Produktion grossmehrheitlich gewünschter öffentlicher Güter erweist und durch demokratisches Einverständnis legitimiert wird.

Ablehnung des Staates

Eine wichtige Forderung des Anarchismus, und gleichzeitig jene Forderung die am meisten Misverständnisse auslöst, ist die Ablehnung des Staates. In der heutigen, aus Nationalstaaten bestehenden Welt, zeichnet sich ein Staat dadurch aus, dass er für ein bestimmtes, von der internationalen Gemeinschaft akzeptiertes Territorium die Verwaltungshoheit hat. Der Staat hat typischerweise eine Hauptstadt und eine Regierung, von der aus das Land und die Bevölkerung mehr oder weniger zentralistisch verwaltet wird. Es ist diese Verwaltungshoheit, die der Anarchismus ablehnt. Stattdessen besteht er auf der dezentralen Selbstorganisation des Territoriums. Aus dieser dezentralen Selbstorganisation aus freiem Willen entstehende staatsähnliche Strukturen der Zusammenarbeit über das ganze Territorium, und über dessen Grenzen hinweg in die ganze Welt, werden von den meisten Anarchisten nicht abgelehnt. Aus anarchistischer Sicht handelt es sich dabei nicht um einen Staat. Es geht bei der Ablehnung des Staates also eigentlich nur um die konsequente Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips. Kritisch anzumerken ist hier, dass dadurch der Frieden zwischen den staatsähnlichen Gebietskörperschaften nicht unbedingt gewährleistet wird. Das Problem wird – wie die Geschichte zeigt – durch territorial ausgedehnte Staaten ebenso wenig gelöst. Entsprechend wäre vielleicht nach Modellen zu suchen, welche die bestehenden Staaten nicht abschafft, aber durch die horizontale und vertikale grenzüberschreitende Verflechtung der Gebietskörperschaften auf allen Ebenen (Gemeinden, Regionen, Staaten, internationale Organisationen) nach unten und nach aussen einbindet. Das Modell hätte den Vorteil, dass die - demokratisch zu kontrollierende - Kompetenz, Entscheidungskompetenzen zu gewähren, bei den bisherigen Staaten bliebe und nicht ein ewiges Gerangel um Entscheidungskompetenzen zu befürchten wäre.

Eigentum ist Diebstahl

Ein weiteres Schlagwort aus der anarchistischen Tradition, das auf Pierre-Joseph Proudhon (1809 – 1865) zurückgeht, ist "Eigentum ist Diebstahl". Proudhon geht es dabei um Eigentum an Produktionsmitteln. Im Arbeitsprozess, wo Menschen für Geld arbeiten müssen, wird von den Eigentümern oder dessen Verwaltern Herrschaft auf die Arbeitnehmer ausgeübt – und zwar in einem sensiblen Bereich. Wer nicht willfährig ist, droht die Arbeit zu verlieren. Gibt es nicht viele Alternativen zum augenblicklichen Arbeitgeber, liegen hier etliche Druckmittel bereit – es geht immerhin um die materielle Basis des Lebens. Traditionell fordern die Anarchisten die Kollektivierung des Eigentums an Produktionsmitteln – oft ohne zu verdeutlichen, was das genau heisst. Vermutlich heisst Kollektivierung von Eigentum, dass das Kollektiv mit demokratischen Strukturen die Unternehmung führt. Dies kann zum Beispiel in der Form von Genossenschaften umgesetzt werden, bei denen alle neuen Mitarbeiter automatisch Genossenschafter werden und beim Verlassen des Unternehmens wieder aus der Genossenschaft ausscheiden. Auch die Strukturen des Vereinswesens würden solchen Anforderungen entsprechen.

Schwieriger als die Organisationsformen, ist das Finden von sinnvollen, gut funktionierenden Wirtschaftsordnungen: Wie sind die Beziehungen zwischen den Kollektiven zu regulieren? Traditionell sind manche Anarchisten dafür, dass dies über Beziehungsnetze erfolgt, die von den Kollektiven kontrolliert werden – es ergäbe sich eine Art Räterepublik.

Das Problem mit solchen Konzepten besteht darin, dass sie faktisch zur Bürokratisierung und Hierarchisierung der Gesellschaft führen. Die meisten Menschen haben kein Interesse daran, tagelang an irgendwelchen mühsamen Sitzungen herumzuhängen. Sie werden entsprechend Entscheidungsbefugnisse delegieren. Dies gilt vor allem für die interkollektive Ebene. Dadurch ergibt sich aber automatisch ein Wissensgefälle, das zu Machtungleichgewichten zwischen Individuen führt. Ohne eine von diesen ökonomischen Beziehungsgeflechten relativ unabhängigen Organisation der Gesellschaft (was de facto einem Staat gleichkommt), welche dem Individuum gewisse Rechte garantiert, würden sich unkontrollierte Machtverhältnisse bilden, die den Ideen der Herrschaftsfreiheit diametral entgegenliefen: die Forderung nach der Aufhebung des Staates durch die vernetzten Kollektive ist für die Freiheit der Individuen gefährlich. Selbst bei einem direktdemokratisch organisierten Rechtsstaat mit Gewaltentrennung bliebe das Problem, dass man als Invididuum dem jeweiligen Kollektiv recht stark ausgeliefert wäre, besonders dann wenn es keine anderen Kollektive gibt, die einem aufnehmen würden. Herrschaft hat sicher etwas mit Privateigentum an Produktionsmitteln zu tun, woraus man aber nicht schliessen kann, dass Herrschaftsfreiheit über Kollektivierung zu erreichen wäre.

Eine Alternative zur Regelung der Beziehungen zwischen den Kollektiven bestünde in einem Markt. Auch dieser würde allerdings eine staatliche Regulierung voraussetzen – ohne die der Markt zu Oligo- oder Monopolen führen würde, die mit der Herrschaftsfreiheit unvereinbar sind. Es wäre zudem wiederum keineswegs garantiert, dass alle Menschen in einem Kollektiv Platz fänden. Die Auffassung, dass der Staat in die Kollektive und deren Vertretungen in interkollektiven Gesandtschaften zu verschwinden hat, wird denn auch nicht von allen Anarchisten geteilt. Proudhon vertritt die Vision eines Föderalismus von Gebietskörperschaften ohne Zentralstaat, wobei diese Gebietskörperschaften dann wohl einfach Staaten wären – auf tieferer Ebene.

Bei einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung, die anarchistischen Ansprüchen genügte, müsste anstelle der Geldschöpfung durch Zinskredite und dem damit verbundenen reinen Wachstumsanreizen, eine Geldschöpfung auf Grund von gezielten, demokratisch legitimierten Anreizkriterien die Wirtschaftsaktivität lenken.

Ni Dieu, ni maître

Wichtiger am Anarchismus als die konkrete Ausgestaltung der verschiedenen Organisationsformen, welche ja schliesslich auch im Sinne der Selbstorganisation frei gewählt werden könnten, scheint die machtkritische und egalitäre Haltung dieser Strömung, und deren Betonung freiwilliger Kooperation. Eine solche Haltung ist für eine nicht nur formale Demokratie und einen Staat, der im Dienste der Bevölkerung steht, zentral. Für eine moderne Politik lassen sich aus dieser Haltung ein paar Prinzipien skizzieren, die von Bedeutung sind:

● Die staatlichen Strukturen müssen von möglichst der gesamten Bevölkerung die in diesen Strukturen lebt, gewollt sein.

● Es muss möglichst vielen klar sein, dass die staatlichen Strukturen, die nötig sind, ihren Zweck nur erfüllen können, wenn möglichst viele Menschen staatskritisch sind. Der Staatsapparat muss kritisch begleitet werden und seine Dienstfunktion ist stetig in Erinnerung zu rufen. Jegliche obrigkeitsstaatliche Kultur ist ständig aufzulösen. Die staatliche Verwendung der Mittel wird von den Bevölkerungen inhaltlich und nicht nur parlamentarisch kontrolliert.

● Entscheidungsbefugnisse sind möglichst nahe an den Bevölkerungen anzusiedeln, damit sie auf Entscheidungen Einfluss haben.

● Entscheidungskompetenzen dürfen nur so weit als nötig delegiert werden und möglichst wenig weit weg (geographisch oder gesellschaftlich).

● Das Prinzip der Herrschaftsfreiheit ist so weit als möglich anzuerkennen. Minderheiten ist immer so weit als möglich entgegenzukommen.

● Wenn immer möglich, sind öffentliche Güter durch freie Zusammenarbeit zu produzieren. Kooperationszwang ist nur dann zulässig ist, wenn er sich als nötig für die Produktion grossmehrheitlich gewünschter öffentlicher Güter erweist und durch demokratisches Einverständnis legitimiert wird.

● Identifikation mit dem Staat ist abzulehnen. Soweit der Staat nötig ist, ist er als reines Instrument für den Dienst an der Bevölkerung zu sehen. Eigenes Engagement und freiwillige Zusammenarbeit mit anderen ist nötig, um die Distanz zum Staat klein zu halten und um minimale staatliche Strukturen zu ermöglichen.

Damit ist auch schon klar, was Anarchismen mit der EU-Integration zu tun haben könnten. Sie könnten eine wichtige Inspriationsquelle für Kritik an Tendenzen sein, Kompetenzen nach oben in Gremien zu verschieben, die demokratisch nicht kontrolliert werden oder die höchstens formal demokratisch kontrollierbar sind.


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