Übersicht Dossiers Europäische Union Lissabonner Vertrag Das irische Votum – ein trister Tag für die Demokratie in EuropaFreitag, der 2. Oktober 2009 wird als trauriger Tag in die europäische Geschichte eingehen. Eine Wiederholung des ersten, ablehnenden Referendums zum Vertrag von Lissabon führte zu einer Annahme dieses Vertrages durch 67% der irischen Bürgerinnen und Bürger, bei einer Stimmbeteiligung von 58%. Dies wird vermutlich die letzte Abstimmung über EU-Verträge sein. Ein nächste Mal werden die Verträge wohl geändert, ohne Bürgerinnen und Bürger zu befragen.
Von Jens-Peter Bonde*,
Das Irische Ja zum Vertrag von Lissabon kann keineswegs als Billigung des Vertrages von Lissabon durch die Bevölkerungen in den EU-Staaten gedeutet werden. Die ursprüngliche EU-Verfassung wurde 2005 durch 55% der französischen und 62% der holländischen Abstimmenden verworfen. Dies hätte legal das Ende der Verfassung sein müssen. Alle Inhalte der Verfassung wurden aber in der Folge in eine neue Hülle verpackt – um die Worte von Giscard d`Estaing zu verwenden, des früheren französischen Präsidenten und Vorsitzenden des „Konventes zur Zukunft Europas“, der die EU-Verfassung ausarbeitete. Ich versprach eine Flasche erstklassigen Weines jeder Person, die mir ein Beispiel für ein Gesetz hätte angeben können, das unter der EU-Verfassung hätte erlassen werden können, nicht jedoch unter dem Vertrag von Lissabon. Um Nicht-Weintrinker ebenfalls ins Wettangebot einzuschliessen, erweiterte ich das Angebot um eine Schachtel bester belgischer Schokolade. Mir wurde bisher kein Beispiel vorgetragen.
Die EU-Verfassung und der Vertrag von Lissabon sind dasselbe. Die Billigung des Vertrages von Lissabon durch die Parlamente in Frankreich und Holland ist illegal, da in einer Demokratie ein Parlament nicht das Ergebnis eines Referendums übergehen darf. Zudem dürfen in einer wirklichen Demokratie Referenden, die den Eliten nicht passen, nicht einfach wiederholt werden, bis das erwünschte Resultat erfolgt. Zuletzt wurden alle anderen in EU-Ländern geplanten Abstimmungen abgesagt – weil man das Votum der Bevölkerungen fürchtete.
Missachtung demokratischer Entscheide
Die Iren verwarfen bei der ersten Abstimmung vom 12. Juni 2008 den Vertrag von Lissabon zu 53%– im irischen Parlament waren 95% für den Vertrag gewesen. Die 27 Premierminister und Präsidenten in der EU konnten dieses Votum nicht akzeptieren. Sie bereiteten eine Wiederholung der Abstimmung vor, indem sie angeblich verbindliche Garantien offerierten. Dies erlaubte es der irischen Regierung und den grösseren politischen Partien, ein „neues“ Paket zu präsentieren, dass angeblich alle irischen Vorbehalte respektieren würden.
Diesbezüglich ist zu sagen, dass diese "Zusicherungen" nicht legal bindend sind, da Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Interpretation der EU-Verträge vom EU-Gerichtshof entschieden werden (Artikel 344 des „Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“). Zweitens enthalten die „Zusicherungen“ eine Klausel, welche besagt, dass durch sie weder der Inhalt noch die Anwendung des Vertrages von Lissabon verändert würden. Diese einfachen Tatsachen hinderten die irischen Befürworter des Vertrages von Lissabon nicht daran, von angeblich bindenden Änderungen des Vertrages von Lissabon zu sprechen, die Irland zugestanden worden seien.
Den Iren wurde gesagt, sie würden ihren EU-Kommissar verlieren, wenn Sie Nein stimmten und sie würden ihn behalten, wenn sie Ja stimmten. Die Tatsache ist, dass Artikel 213 des Vertrages von Nizza jedem Mitgliedstaat einen Kommissar garantiert, ausser alle Staaten würden einstimmig einer Reduktion der Zahl der Kommissionsmitglieder zustimmen. Der Vertrag von Lissabon reduziert demgegenüber die Kommission auf 18 Kommissare, ausser wenn die Mitgliedstaaten einstimmig je einem Kommissar behalten wollen. Die Staatschefs entschieden politisch, dass jedes Land wenigstens bis zur nächsten EU-Erweiterung in der Kommission vertreten sein soll. Entsprechend hätte die nächste Kommission einen Kommissar aus jedem Mitgliedstaat gehabt, unabhängig vom Ausgang des irischen Votums. Dies wurde dem irischen Volk verschwiegen. Die einfachen Tatsachen wurden in einer konzertierten Kampagne verdreht, einer Kampagne, die durch die EU-Kommission, Irlands Referendums-Kommission und die irische Regierung geführt wurde, mittels Steuergeldern, um einseitig eine Seite in der Referendumsdiskussion zu stützen, obwohl das irische Verfassungsgericht dies explizit verboten hatte. Diese drei Institutionen verschwiegen gemeinsam auch die wichtigsten Änderungen des Vertrages von Lissabon, so z.B. die Änderungen im Stimmengewicht, wodurch Irland und andere kleine Mitgliedstaaten die Hälfte ihres Gewichtes verlieren, während die grössten Mitgliedstaaten ihr Stimmgewicht um 50 bis 100% anheben konnten. Die EU-Kommission beschwichtigte die Iren mit der Aussage, bezüglich Steuern würde sich nichts ändern, obwohl eine Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung auf der Traktandenliste der Kommission steht und eine entsprechender Entwurf bereits von den Dienstellen der Kommission erarbeitet wurde. Und Artikel 113 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union hält fest: „Der Rat erlässt gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses einstimmig die Bestimmungen zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern, die Verbrauchsabgaben und sonstige indirekte Steuern, soweit diese Harmonisierung für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts und die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen notwendig ist.“
In Irland sah man während der Kampagne kein einziges Plakat für den Vertrag von Lissabon. Die Ja-Plakate machten alle Stimmung für die irische Mitgliedschaft in der EU oder gar die Mitgliedschaft in „Europa“. Dabei stand weder das eine noch das andere zur Debatte. Der frühere Präsident des EU-Parlamentes, Pat Cox, fabulierte in einer professionellen Kampagne von einer Wahl zwischen "Ruin" und "Aufschwung" – einer Kampagne, die nota bene durch Millionen von Steuergeldern und Geldern von Multis getragen wurde. Die Ja-Seite hatte 10 mal mehr Geld zur Verfügung als die Nein-Seite. Für das Niveau der Ja-Kampagne sind die ganzseitigen Inserate der Organisation "Europe For Ireland.eu" in irischen Zeitungen am Tag vor der Abstimmung bezeichnend: Der Vertrag von Lissabon wurde nie erwähnt. Statt dessen wurden "billige Flüge, Champions League, Arbeit, Eurovision Song Contest, sichere Nahrungsmittel, Heineken Cup, neue Autobahnen, moderne Landwirtschaft" und ähnliches versprochen – so als ob die irischen Sänger und Sängerinnen nie mehr die Chance hätten, den European Song Contest zu gewinnen, wenn die Iren Nein zu Lissabon sagten!
Eine der Nein-Gruppierungen argumentierte, der irische Minimallohn könnte bei einer Annahme des Vertrages von 8.65 auf 1.84 Euro sinken. Sie wurden von der EU-Kommission als Lügner taxiert, obwohl die EU-Kommission selber vorschlägt, dass nicht-irische Arbeitskräfte in Irland zu den Tarifen ihres Heimatlandes arbeiten könnten – was sogar weniger als die behaupteten 1.84 Euro bedeuten könnte. 1.84 Euro ist der durchschnittliche Minimallohn in den neuen Mitgliedstaaten. Die Laval-Entscheidung des EU-Gerichtshofes verbietet Gewerkschaften die Organisation von Streiks, um für Arbeitskräfte aus anderen Ländern höhere Löhne als die Minimallöhne oder den allgemein anwendbaren nationalen Lohnstandard jener Länder zu fordern.
Die Rüffert-Entscheidung des EU-Gerichtshofes ging sogar noch weiter. Sie erlaubt es, 53 polnischen Bauarbeitern nur 46% des Mininallohnes des deutschen Landes Niedersachsen zu zahlen. Es ist nunmehr in EU-Staaten illegal, für öffentliche Arbeiten die Auszahlung normaler Löhne des eigenen Landes zu verlangen. Alle Mitgliedstaaten müssen das Niveau des Ursprungslandes im eigenen Land zulassen, solange die Minimallöhne des Ursprungslandes nicht unterschritten werden – das simple Resultat radikaler Gerichtsentscheide des EU-Gerichtshofes. Dies wurde in den offiziellen Informationen in Irland verschwiegen. Statt dessen wurden neue soziale Garantien versprochen, basierend auf den Zugeständnissen, die Irland angeblich gemacht wurden. In Wirklichkeit handelt es sich um leere Worte, die kein Komma am Vertrag von Lissabon oder an den Entscheidungen des EU-Gerichtshofes ändern. Die irische Ja-Seite nannte die Nein-Seite Lügner, obwohl dieses Wort die Desinformationskampgane der Ja-Seite viel besser beschrieben hätte.
Der grösste Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten irischen Referendum ist die ökonomische Situation in Irland – ein erwarteter Rückgang des Bruttosozialproduktes (BSP) um einen Zehntel im Jahre 2009, ein Budgetdefizit von 12% des irischen BSPs, 450,000 Arbeitslose bei einer arbeitsfähigen Bevölkerung von 2.2 Millionen und eine erneute Netto-Emigration. Die Iren liessen sich durch die Arbeitsplatzverlust-Drohungen der Ja-Seite beeindrucken. Viele irische Unternehmungen drohten ihren Angestellten mit Arbeitsplatzverlust im Falle einer Nein-Mehrheit. Die Ja-Seite versprach einen wirtschaftlichen Aufschwung im Falle eines Ja’s.
Nach drei Wochen Aufenthalt in Irland könnte ich das zweite irische Referendum nie als eine freie öffentliche Beurteilung des Vertrages von Lissabon anerkennen. Ich traf keinen einzigen Stimmenden, der seine Meinung über der Vertrag von Lissabon geändert hätte. Viele wollten zwar diesmal ein Ja einwerfen – aus Angst. „Dieses Land liegt am Boden“, sagte eine führender Geschäftsmann, mit dem ich an einer Debatte am irischen Radio teilnahm. „Wir müssen akzeptieren, was sie wollen. Wir brauchen die Europäische Zentralbank, um uns aus dem Schlamassel zu kaufen“. Die Iren stimmten dem Vertrag von Lissabon nicht aus Überzeug zu, sie übernahmen ihn einfach als scheinbare Notwendigkeit.
Wie weiter?
Leider konnten die Präsidenten Polens und Tschechiens dem Druck der EU nicht standhalten und haben mittlerweile den Vertrag von Lissabon ratifiziert. Dabei wäre es für die EU ein Segen gewesen, wenn die Präsidenten dieser Länder es dem britischen Volk ermöglicht hätten, über den Vertrag von Lissabon abzustimmen. Dann hätte die neue britische Regierung eventuell das Referendum abgehalten, das von Blair und Brown vor den letzten Wahlen versprochen worden war. Die konservative Partei hatte nämlich ein Referendum über den Vertrag von Lissabon versprochen, sofern der Vertrag bei einer allfälligen Übernahme der Regierung durch die Konservativen noch nicht überall ratifiziert ist.
Am 30. Juni 2009 äusserte das Deutsche Verfassungsgericht eine radikale Kritik des Vertrages von Lissabon. Das Gericht betrachtet eine Ratifizierung als verfassungswidrig, wenn die Ratifizierung nicht von Regeln auf Landesebene flankiert wird, welche eine parlamentarische Kontrolle der Gesetzgebung auf EU-Ebene im Rahmen des Vertrages von Lissabon erlaubt. Den Wählern muss die Möglichkeit verbleiben, die Gesetze, durch welche sie regiert werden, durch Wahlen auf nationaler Ebene zu beeinflussen. Das Urteil des Deutschen Gerichtes ist eine offene Einladung zur Lancierung ähnlicher Klagen in all jenen Ländern, in denen keine oder nur schwache parlamentarische Verfahren beschlossen wurden, um die Regierungen bezüglich der EU-Politik im Rahmen des Vertrages von Lissabon zu kontrollieren.
Das Wesen der Demokratie besteht in der Möglichkeit, neue Mehrheiten zu schaffen und damit neue Gesetze. Dieses Prinzip ist nun ein weiteren 49 Bereichen durch den Vertrag von Lissabon abgeschafft worden. Das EU-Parlament wird zwar an Einfluss gewinnen. Es gewinnt aber nicht soviel hinzu, wie die Bürgerinnen und Bürger, sowie die nationalen Parlamente verlieren. Das Netto-Ergebnis des Vertrages von Lissabon ist damit ein noch grösseres Demokratie-Defizit der EU.
Verfassungsklagen in verschiedenen Ländern könnten einen Weg darstellen, um die Idee der Demokratie in Europa zu schützen, einer Idee, die in Athen vor 2500 Jahren geboren wurde. Diese Idee könnte verstärkt werden durch drei konkrete Forderungen an die EU-Institutionen:
1. Wir müssen auf dem zentralen Prinzip der Demokratie bestehen, wonach alle Gesetze durch gewählte Vertreter von Parlamenten zu erlassen sind - national oder auf EU-Ebene;
2. Wir müssen reformierte Transparenzregeln in der EU verlangen, so dass alle gesetzgeberischen Versammlungen und Dokumente offen und transparent sind – ausser bei vernünftigen und allgemein akzeptierten Ausnahmen;
3. Wir dürfen das Monopol der Initiative auf Gesetzesvorschläge nicht bei den nicht-gewählten Kommissaren belassen. Man könnte die Kommissare ja durch direkte Wahlen in jedem Mitgliedstaat wählen. Dies mag heute die einzige Methode sein, um eine minimale demokratische Kontrolle zu gewährleisten.
Solche Reformen könnten das gemeinsame Resultat von Verfassungsklagen sein, welche die verfassungsmässige Notwendigkeit, das Demokratiedefizit der EU zu überwinden, einfordern. Diese Forderungen könnten auch die Basis neuer politischer Bewegungen, Parteien und Allianzen quer durch Europa werden, welche die Demokratie in der EU und auf nationaler Ebene schützen. Wir können es uns nicht leisten, die Idee der Demokratie in Europa zu beerdigen, indem wir heute stillsitzen.
• dänisches Mitglied des EU-Parlamentes von 1979 bis 2008 als Vertreter der dänischen EU-kritischen Juni-Bewegung. Verfasser des Buches "The Lisbon Treaty - The Readable Version", das unter www.euABC.com heruntergeladen werden kann.
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