Die Gewerkschaften rügen einerseits die Liberalisierungspolitik der EU, wollen aber trotzdem beitreten. SGB-Präsident Rechsteiner will in die EU, ohne jedoch an der Währungsunion teilzunehmen. Gewerkschafter wie Rennwald rühmen die Währungsunion hingegen als künftiges Instrument im Dienste der Wirtschaft. Margrit Meier will möglichst lange ein tieferes Zinsniveau, aber möglichst schnell in die EU. Dazu will sie geeignete Übergangsbestimmungen, ohne sich darum zu kümmern, um so etwas machbar ist. Da werden die sozialen Errungenschaften der EU gepriesen - und dann nebenbei die neoliberalen Politik und die Arbeitslosenzahlen erwähnt. Die 50 Millionen Armen werden nicht angeführt. Die Demokratieverluste wollen die Gewerkschaften immer noch durch das hierfür untaugliche Instrument des fakultativen Referendums wettmachen.
Von Paul Ruppen
Der schweizerische Gewerkschaftsbund begründet seine Ja-Parole zur "Ja-zur EU-Intiative" mit folgenden Worten. "Eine Integration unseres Landes in das 15-Länder-Europa hätte positive Auswirkungen auf die Sozialversicherungen und auf das Arbeitsrecht, wie die folgenden Beispiele zeigen:
- In der EU ist die Mutterschaftsversicherung längst realisiert. Der Mutterschaftsurlaub beträgt 14 Wochen vor oder nach der Niederkunft mit Lohnfortzahlung oder Zahlung einer entsprechenden Leistung.
- In den meisten EU-Ländern ist die Arbeitszeit kürzer als in der Schweiz. In den EU-Ländern wird durchschnittlich zwei Stunden pro Woche weniger gearbeitet als in der Schweiz. In der EU ist die wöchentliche Arbeitszeit auf 48 Stunden beschränkt, Überstunden inbegriffen. In der Schweiz hingegen ist es möglich, weit darüber hin-aus zu gehen.
- Teilzeitbeschäftigte geniessen in der EU Rechte, die hierzulande unbekannt sind. Eine Teilzeitangestellte/ein Teilzeitangestellter, welche/welcher eine Vollzeitstelle ablehnt, darf nicht entlassen werden, und der Arbeitgeber hat die Wünsche nach ei-ner Erhöhung des Arbeitspensums nach Möglichkeit zu berücksichtigen.
- In der EU hätten die Schweizer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Mitwir-kungsrechte, und sie wären gegen Kündigungen besser geschützt, insbesondere bei Betriebsverlegungen und Betriebsschliessungen.
- In der EU haben die Arbeitnehmenden einen viel leichteren Zugang zu Bildungs-möglichkeiten als in der Schweiz." (SGB-Preessedienst, Nr 1, 2001, S 4)
Dazu ist folgendes zu bemerken. (1) Die Aussagen sind oft zu wenig detailliert, so dass sie kaum in ihrer Relevanz eingeschätzt werden können. Was ist z.B. unter "Mitwirkungsrechten" zu verstehen. Die "Mitbestimmungsrechte" in den "europäischen" Betriebsräten beschränken sich jedenfalls auf Anhörungs- und Informationsrechte. Die entspechenden Rechte in der neuen "europäischen Aktiengesellschaft" sind noch nicht beschlossene Sache und werden sich im allgemeinen ebenfalls auf Anhörungs- und Informationsrechte beschränken. Was bedeuten diese Rechte gegenüber dem massiven Liberalisierungsdruck in der EU, der sich auf die Löhne, die Arbeitslosigkeit und auch auf die "Disziplin" der Arbeitnehmer auswirkt? Der SGB schreibt: "ohne diese Rahmenbedingungen (z.B. griffiger Beschäftigungspakt) besteht nach wir vor das Risiko, dass die Währungsunion zu vermehrtem Lohndruck und/oder Beschäftigungseinbrüchen in einzelnen Ländern führt" (SGB-Dokument, Nr. 74, S. 5). Es ist nicht sehr überzeugend, solche realen Risiken zu erwähnen und dann trotzdem recht feurig Ja zur EU zu sagen.
(2) Die Sozialbestimmungen der EU sind "soft law", weiche Gesetze, die oft auf Zustimmung der Beteiligten beruhen. Die EU verabschiedet davon gerade so viele, wie es braucht, um bei den Gewerkschaften gewisse Hoffnungen auf Besserung zu wecken. Die Deregulierung mit ihren sozialen Folgen hingegen wird hart durchgesetzt. Die vermehrte Standordkonkurrenz und die dadurch verursachte Schwächung der "nationalen" Gewerkschaften ist dabei wohl ein von den Multis gewünschtes Nebenprodukt der EU. Auf absehbare Zeit werden die Europäische Gewerkschaftsbund dem nichts entgegensetzen können. (siehe dazu Andrew Watt, What has Become of Employment Policy? Explaining the Ineffectiveness of Employment Policy in the European Union, Basler Schriften zur europäischen Integration, 2000, Nr. 47/48).
(3) Die obigen Reformen können in der direkten Demokratie ohne weiteres eingeführt werden, wenn dies eine Mehrheit der Stimmberechtigten wünscht. Offenbar ist der Gewerkschaftsbund der Meinung, für die obigen Anliegen können man keine Mehrheit finden. Es dann allerdings nicht sehr demokratisch, sie mit Hilfe eines EU-Beitritts am Mehrheitswillen vorbeischmuggeln zu wollen.
(4) In der gewerkschaftlichen Analyse fehlt die massive materielle Umverteilung (von unten nach oben), die ein EU-Beitritt beinhaltete, fast völlig. Zwar wird die Erhöhung der Mehrwertsteuer erwähnt. Man glaubt sie jedoch mit der Forderung nach einem Ersatz der unsozialen Kopfprämien im Krankenkassenwesen als Problem erledigt zu haben. Die massiven Mietzinserhöhungen, die einer Anpassung ans EU-Zinsniveau zuzuscheiben wären, redet man mit der Forderung nach Übergangsklauseln weg. Auch der Verlust einer eigenen Währungspolitik im Falle eines Beitritts, der die optimale Anpassung an die konjunkturellen Schwankungen in der Schweiz ermöglicht, wird kaum erwähnt. Ein Abwägen der kleinen, in der Schweiz selber auf demokratischem Weg erreichbaren Vorteile und der massiven sozialen und demokratischen Auswirkungen erfolgt nicht.
Demokratiefrage
Die Gewerkschaften erwähnen im Gegensatz zu anderen EU-Befürwortern den Demokratieverlust durch einen EU-Beitritt und sie versteigen sich auch etwas weniger zu orwellschen Umformulierung dieser Verluste in Gewinne: "Besonders das Demokratieargument verdient Beachtung" (SGB-Dokument, Nr. 74, S. 9). Richtig ernst zu nehmen scheint man den Einwand aber doch nicht, wird er doch nur in einem Satz angeführt, um dann zu eher fadenscheinigen Gegenargumenten überzugehen. Da wird etwa die Grundrechtscharta von Nizza erwähnt, als ob eine Charta in irgendwelcher Art Demokratieverluste wettmachen könnte - von den übrigen Problemen der Charta wie der Konkurrenz zur Menschenrechtscharta des Europarates und verschiedenen inhaltlichen Mängeln ganz abgesehen.
Angeführt werden auch einige Abstimmungen in EU-Ländern zu EU-Vertragsveränderungen - als ob ein obligatorisches Verfassungsreferendum in einigen Staaten schon der Höhepunkt des gewerkschaftlichen Demokratieverständnisses wäre. Die Gewerkschaften führen auch das Ausländerstimmrecht auf Gemeindeebene an. Dazu ist zu bemerken, dass dieses nur für EU-Bürgerinnen und Bürger gilt. Zweitens ist es kaum angebracht, in der Schweiz einer grossen Mehrheit demokratische Rechte in massivem Ausmass wegzunehmen, um einer Minderheit ein paar mickrige Rechte auf Gemeindeebene zu verleihen. Eine fortschrittliche Gewerkschaftspolitik muss darin bestehen, allen mehr Rechte zu verschaffen. Ausländerinnen und Ausländer - und nicht nur EU-Ausländerinnen und EU-Ausländer - müssen von ihrem Grundrecht auf politische Mitbestimmung auf allen politischen Ebenen profitieren können.
Zuletzt wird wieder mal das konstruktive Referendum bemüht. Dabei erfolgt damit in Bezug auf EU-Gesetze nur insoweit ein bescheidenes Korrektiv, als im Rahmen der Richtlinie Varianten möglich sind. Die Richtlinie als solche - und damit das, worum es eigentlich geht - kann nicht in Frage gestellt werden. Die meisten Gesetze werden in der EU in der Form von Verordnungen erlassen, die direkt anwendbar sind und keinen Umsetzungsspielraum gewähren. Aber auch viele Richtlinien sind so detailliert ausgestaltet, dass sie keinen Gestaltungsspielaum belassen und in vielen Teilen sogar unmittelbar anwendbar sind. Das "konstruktive Referendum" ist als zusätzliches demokratisches Instrument wünschenswert - sofern nicht wie bei der letzten SP-Vorlage Parlamentarier die Finger im Referendum haben müssen - als Mittel für die Begrenzung des Demokratieverlustes im Falle eines EU-Beitrittes ist es jedoch überhaupt nicht geeignet.
Seltsame Identifikation mit der "Schweiz"
In der gewerkschaftlichen Argumentation erstaunt auch etwas die seltsame Identikation mit der Schweiz als solcher. Da wird etwa angeführt, das sie Schweiz "als offizielle Beitrittskandidatin den Erweiterungsprozess mitgestalten und ein gewisses Verhandlungsgewicht in die Waagschale werden könnte" (SGB-Dokument, Nr. 74, S. 15). Kein Zweifel daran, ob ein solcher Einfluss wirklich positiv wäre. Da wird der autonome Nachvollzug bedauert und der mangelnde Einfluss "der offiziellen Schweiz (Regierung und Parlament) in der Entwicklung Europas" Die Gewerkschaften möchten, dass die Schweizer Sozialpartner an der Ausarbeitung von europäischen Normen und Vereinbarungen mitreden dürfen. "Ein EU-Beitritt ist somit für uns ein Gewinn an Mitbestimmung und Souveränität, welche das Abgeben gewisser Souveränitätsrechte an die EU mehr als aufwiegen". Da bestimmt der Bundesrat mit einem Stimmengwicht von 3% in Brüssel mit (und wird dabei wohl kaum vorrangig Gewerkschaftsinteressen vertreten), da reden ein paar Gewerkschafter völlig unverbindlich in letztlich einflusslosen Gremien mit, und schon wird dies angesichts eines direktdemokratischen Komptenzverlustes in der Schweiz von über 50% als Gewinn verbucht. Da kann man sich nur erstaunt die Augen reiben. "Ein Beitritt würde den Arbeitnehmerorganisationen ein neues Aktionsfeld eröffnen" - als ob Aktionsfelder allein schon soziale Errungenschaften bedeuteten und als ob internationale Zusammenarbeit der Gewerkschaften nicht auch ohne Beitritt möglich wäre.
EU als globaler Heilsbringer
Etwas überfordert fühlt man sich bei der Lektüre der gewerkschaftlichen Pro-EU-Papiere, sobald die EU zum globalen Heilsbringer im Kampf gegen die negativen Auswirkungen der Gobalisierung avanciert. "Die EU ist aber heute die einzige Wirtschaftsmacht, die von ihrer Grösse und von ihrem sozialpolitischen Modell her auch auf Weltebene neue Rahmenbedingungen durchsetzen und so das europäische Modell der sozialen Sicherheit und der Sozialbeziehungen für Europa erhalten und auch "exportieren" kann" (SGB-Dokument, Nr. 74, S. 16) Dabei ist doch die EU das Globalisierungsinstrument der Euro-Multis par excellence - in Europa und Weltweit via GATT/WTO. (siehe: EuropeInc. Regional & Global Restructurung and the rise of Corpaorate Power, London, 2000, Deutsche Version erscheint im Rot-Punkt-Verlag im Mai 2001). Die massive Deregulierung Westeuropas, vor allem auch der öffentlichen Dienste, wäre ohne die EU nicht möglich gewesen. Die EU vertritt auf internationaler Ebene zusammen mit den USA - abgesehen von einigen propagandastisch ausgeschlachteten Teilgebieten - seit Jahren eine offensive, neoliberale Politik.
Die Dokumente des SGB könne auf dem Internet eingesehen werden (www.sgb.ch).
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