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Positionen zur Neutralität

Durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine kam in der Schweiz eine neue Neutralitätsdiskussion in Gang. Unterschiedliche Meinungen zu Wirtschaftssanktionen und zur Weiterleitung von durch die Schweiz gelieferten Waffen an die Ukraine führten zu ausführlichen Debatten.

Von Paul Ruppen

Die Neutralitätsinitiative

Am 11. April 2024 wurde von SVP-nahen Kreisen die Volksinitiative «Wahrung der schweizerischen Neutralität» (Neutralitätsinitiative) vom Initiativkomitee «Neutralitätsinitiative» mit 129'806 gültigen Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht. Mit der Initiative soll ein neuer Artikel (Artikel 54a) in die Bundesverfassung aufgenommen werden. Der Wortlaut der Initiative: Art. 54a Schweizerische Neutralität

1) Die Schweiz ist neutral. Ihre Neutralität ist immerwährend und bewaffnet.

2) Die Schweiz tritt keinem Militär- oder Verteidigungsbündnis bei. Vorbehalten ist eine Zusammenarbeit mit solchen Bündnissen für den Fall eines direkten militärischen Angriffs auf die Schweiz oder für den Fall von Handlungen zur Vorbereitung eines solchen Angriffs.

3) Die Schweiz beteiligt sich nicht an militärischen Auseinandersetzungen zwischen Drittstaaten und trifft auch keine nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen gegen kriegführende Staaten. Vorbehalten sind Verpflichtungen gegenüber der Organisation der Vereinten Nationen (UNO) sowie Massnahmen zur Verhinderung der Umgehung von nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen anderer Staaten.

4) Die Schweiz nutzt ihre immerwährende Neutralität für die Verhinderung und Lösung von Konflikten und steht als Vermittlerin zur Verfügung. Der Artikel würde also gewisse Elemente der bestehenden Neutralitätspraxis der Schweiz in der Verfassung verankern und würde die Neutralität insbesondere im Bereich der Sanktionen und der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit enger fassen.

Gegen die Initiative kann folgendes vorgebracht werden:

(1) Es ist nicht ersichtlich, wieso die Neutralität bewaffnet sein muss. Ein militärischer Angriff auf die Schweiz ist auf absehbare Zeit sehr unwahrscheinlich, da die Schweiz von einem Ring von Nato-Staaten umgeben ist. Die militärische Aufrüstung der Schweiz, die für eine unabhängige Verteidigungsfähigkeit nötig wäre, trägt damit zur Sicherheit der Schweiz nichts bei. In dieser Lage wäre es für die Sicherheitsinteressen der Schweiz angebrachter, statt weitere Milliarden in die Armee, diese in die nicht-militärische Friedenssicherung zu stecken (kluge und wirksame Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe in Kriegsgebieten, etc.). In Anbetracht des Nato-Ziels, 2% des Bruttosozialproduktes (BSP) ins Militär zu investieren, sollte die Schweiz sich zum Ziel setzen, 2% des BSPs in die nicht-militärische Friedenssicherung zu investieren. Damit würde sie sich u.a. auch eher des Vorwurfs des Trittbrettfahrens erwehren können.

(2) Die Initiative wendet sich mit der Passage «und trifft auch keine nichtmilitärischen Zwangsmassnahmen gegen kriegführende Staaten» gegen die Übernahme von Sanktionen gegenüber kriegsführenden Staaten, die nicht von der UNO beschlossen wurden. Sie geht mit dieser Forderung nicht nur über die bisherige Neutralitäts-Praxis hinaus, sondern geht auch weiter als das Neutralitätsrecht (Hager-Abkommen). Zudem wird dadurch verhindert, dass wirtschaftliche Sanktionen gegen Verletzungen des Völkerrechts mitgetragen werden, sobald eines der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates die Verfügung von wirtschaftlichen Sanktionen durch sein Veto blockiert. Offenbar besteht das Ziel der Initianten darin, möglichst ungehindert mit allen Ländern Handel treiben zu dürfen, ohne sich um deren Einhaltung des Völkerrechts und der Menschenrechte kümmern zu müssen. Diese Haltung ist ethisch fragwürdig und schadet zudem dem Bild der Schweiz in der internationalen Welt.

Allerdings ist zu bedenken, dass Wirtschaftssanktionen der Schweiz sich kaum wirklich konsequent nach dem Völkerrecht und den Menschenrechten ausrichten oder ausrichten werden. So ist die China-Politik der Schweiz bezüglich Menschenrechten und Taiwan fragwürdig und bei völkerrechtswidrigen Aktionen z.B. der USA wurden gegen die USA keine wirtschaftlichen Sanktionen erwogen. Der Bundesrat betont denn auch in den Texten zur Neutralität, dass diese als ein flexibles Mittel zur Wahrung der Interessen der Schweiz zu betrachten sind 1). Die Interessen werden dabei jeweils allein erwähnt und immer an erster Stelle, wenn die Ziele der Neutralität durch «Solidarität», «humanitäre Tradition» und die «Guten Dienste» ergänzt werden. Selbst wenn man eingesteht, dass «Interessen» nicht nur ökonomischer Natur sein können, sondern auch z.B. in Sicherheitsinteressen bestehen können, ist durch die Praxis des Bundesrates der Schwerpunkt auf ökonomische Interessen hinlänglich belegt.

Als positiv am Initiativetext zu werten ist

(1) die Forderung, Zusammenarbeit mit Militär- und Verteidigungsbündnissen auf den Fall eines direkten Angriffs auf die Schweiz zu beschränken. Damit wird Zusammenarbeit in Friedenszeiten verboten. Dies richtet sich vor allem gegen die Beteiligungen an Nato-Programmen. Bestrebungen, allzu nahe an die Nato und die Militarisierungstendenzen der EU zu rücken, werden verfassungsmässig geblockt. 2)

(2) Durch die Forderung nach der immerwährenden Neutralität wird eine weiteres Hindernis für einen etwaigen EU-Beitritt verfassungsmässig verankert. Als der Bundesrat noch die EU-Mitgliedschaft anstrebte, kündigte er bezüglich der Neutralität Vorbehalte an: «Im Rahmen der vom Maastrichter Vertrag festgelegten politischen Verpflichtungen der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik müsste sich die Schweiz als EU-Mitglied in politischen und wirtschaftlichen Fragen von der Solidarität gegenüber den EU-Staaten leiten lassen. Darüber hinaus gehört zur Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik "auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte (Maastrichter Vertrag Art. J.4. Abs.1). Auch wenn diese politische Absichtserklärung noch keine rechtliche Verpflichtung zu einer späteren militärischen Zusammenarbeit im EU-Rahmen darstellt, muss ein beitrittswilliges Land doch diese Sicherheits- und verteidigungspolitische Finalität der Europäischen Union mittragen. Dies bedeutet, dass der Neutrale auch bereit sein muss seine Neutralität grundsätzlich zu überdenken, falls sich dies eines Tages aufgrund der Entwicklung der Union als notwendig erweisen sollte».3)

(3) Als positiv zu werten ist auch der Artikel 4 des vorgeschlagenen Verfassungsartikels.

Die Position der SP

Die SP fordert in ihrem Positionspapier vom 21. Juni 2024 in Olten (Parteiratssitzung) eine konsequent am Völkerrecht ausgerichtete Neutralitätspolitik 4): «Die neutrale Schweiz muss [] zur Anwältin des Völkerrechts werden, um sich glaubwürdig für Frieden und Sicherheit einsetzen zu können. Was dies konkret heisst, kann am Beispiel des Ukraine-Krieges aufgezeigt werden: Als Anwältin des Völkerrechts hat sich die Schweiz vehement gegen den Völkerrechtsbruch auszusprechen. Neben einer unzweideutigen Verurteilung des Angriffskriegs (ius ad bellum) und Verletzungen des humanitären Völkerrechts (ius in bello) gilt es, sich für die Handlungsfähigkeit der UNO und der OSZE einzusetzen, in deren Rahmen die (nukleare) Abrüstung vorangetrieben werden soll. Denn auch wenn diese internationalen Organisationen heute schwach sind, so führt mittelfristig kein Weg ein einer kooperativen Sicherheitspolitik vorbei: Anstatt die militärische Blockbildung voranzutreiben, müssen möglichst universelle Dialogplattformen erhalten bleiben, in deren Rahmen Antworten auf globale Gefahren gefunden und Friedensverhandlungen geführt werden können. Kurzfristig bedeutet die Rolle der Schweiz als Anwältin des Völkerrechts aber vor allem, dass die Schweiz wirtschaftliche Massnahmen treffen und dem kriegstreibenden Staat den Geldhahn abdrehen muss (mehr dazu im Kapitel 2). «Einem Aggressor in die Hände zu spielen, ist nicht neutral»: Diese richtige Aussage von Bundesrat Cassis muss zukünftig konsequenter umgesetzt werden.» (S. 3)

Bezüglich dieses Positionsbezugs kann man die SP nur unterstützen. Leider verliert sich die SP dann bezüglich des Blockbildungsprojektes EU in Widersprüche: «Die Schweiz erhöht ihre Sicherheit und jene des europäischen Kontinentes, indem sie sich unmissverständlich zur Wertegemeinschaft mit der EU bekennt, deren sicherheitspolitische Massnahmen vollumfänglich mitträgt und sich multilateral für den Frieden einsetzt.» Der SP scheinen die militärischen Ambitionen des EU-Projektes entgangen zu sein. Immerhin wurde und wird von EU-Granden immer wieder verkündet, dass die Militarisierung der EU auch der Sicherung von Rohstoffen und Absatzmärkten dienen soll. Einen Nato-Beitritt lehnt die SP ab, wirbt dafür aber umso vehementer für die EU. Das ist auf dem Hintergrund der obigen Eingangszitats eher seltsam, erklärt sich aber durch die unverantwortliche Idealisierung des EU-Blockbildungsprojektes. Der Nato wird vorgeworfen, dass sie eine militärische Bockbildung darstellt, «während die EU die europäische Integration und Souveränität mit dem Ziel der Überwindung von geopolitischen Einflusszonen vorantreibt.» Und: «Die EU ist ein wirtschaftliches und friedenspolitisches Integrationsprojekt, welches sich nicht in Abgrenzung gegenüber anderen Blöcken definiert und einem inklusiven Multilateralismus verpflichtet ist». (S. 8 ). Damit werden die Dinge auf den Kopf gestellt: während die Nato wenigstens offiziell ein reines Verteidigungsbündnis darstellt, ist die EU ein durchaus selbstdeklariertes Grossmacht- und Blockbildungsprojekt. „Wir müssen lernen, die Sprache der Macht zu sprechen“ (Josep Borrell, EU-Außenbeauftragten). Diese Äusserung von Borrell steht auch im Zusammenhang mit der Forderung nach Schnelleingreiftruppen, die ausserhalb der EU zum Einsatz kommen sollen. Zum Thema «Ziel der Überwindung von geopolitischen Einflusszonen durch die EU» befragt man wohl am besten informierte Afrikaner, Asiaten und Südamerikaner.

Die Position der Grünen 5)

Im Gegensatz zur SP spricht sich die Mehrheit der Grünen gegen die Weitergabe von aus der Schweiz stammenden Waffen an die Ukraine aus. Den Lockerungen des Schweizer Kriegsmaterialexportgesetzes stehen sie generell kritisch gegenüber. Sie erachten die Ausfuhr von Kriegsmaterial grundsätzlich als problematisch: Es handle sich dabei um ein Geschäftsmodell, welches dazu führe, dass aufgrund von Schlupflöchern in der Gesetzgebung immer wieder Schweizer Kriegsmaterial in Bürgerkriegen und parastaatlichen Konflikten eine wichtige Rolle spiele. Gerade deshalb sei es wichtig, dass die Schweiz ein äusserst strenges Kriegsmaterialexportgesetz beibehalte.

Der militärischen Neutralität schreiben die Grünen gewisse Vorteile zu: (1) «Internationale Organisationen wie das IKRK und die UNO mit Sitz in der Schweiz sind auf eine glaubwürdige militärische Neutralität angewiesen. Sie stehen im Dienste der Versorgung der Zivilbevölkerung beider Seiten im Krieg». (2) «Als Depositarstaat der Genfer Abkommen kommt der Schweiz eine besondere Erfahrung und Rolle zu, um das Völkerrecht und seine Verträge zu hüten und auf dieser Basis international zu vermitteln und Frieden zu fördern.» (3) Die militärische Neutralität erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Schweiz Schutzmachtmandate zur Förderung des Austausches zwischen Konfliktpartien übernehmen kann.

Das Papier schliesst mit den Worten: «Ob und welche Auslegung von Neutralität noch zeitgemäss ist, und ob die Schweiz überhaupt weiterhin ein (militärisch) neutrales Land sein soll – das sind legitime Fragen. Anstatt die Grundsatzfragen aufgrund kurzfristiger Entscheide vorwegzunehmen, braucht es eine mittel- und langfristig ernsthafte Diskussion darüber, welche neben der konkreten Sicherheitspolitik auch die aussenpolitische Rolle der Schweiz miteinbezieht.»

Die Neutralitäts-Diskussion ist (wieder einmal) eröffnet. Die Neutralität ist gemäss Umfragen in der schweizerischen Bevölkerung stark verankert – die Zustimmungsraten schwanken um die 90% herum. Möchte man, dass die Schweiz in der internationalen Gemeinschaft mehr für Frieden, Entwicklung, Demokratie und Menschenrechte unternimmt, ist es politisch sicher klug, an diese Verankerung anzuknüpfen, und dann die Neutralität dezidiert an menschenrechtlichen und völkerrechtlichen Gesichtspunkten auszurichten.

Anmerkungen:

1) s. z.B. Bericht zur Neutralität: Anhang zum Bericht über die Aussenpolitik der Schweiz in den 90er Jahren vom 29. November 1993, S. 1. oder auch Klarheit und Orientierung in der Neutralitätspolitik: Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulates 22.3385, Aussenpolitische Kommission SR, 11.04.2022, S. 7; Link zu offiziellen Papieren zur Neutralitätspolitik der Schweiz: https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/aussenpolitik/voelkerrecht/neutralitaet.html

2) solche Bestrebungen wurden in jüngster Zeit verstärkt, s. Bericht der Studienkommission Sicherheitspolitik, 08. 2024, https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/89334.pdf)

3) Bericht zur Neutralität: Anhang zum Bericht über die Aussenpolitik der Schweiz in den 90er Jahren vom 29. November 1993, 65.)

4) https://www.sp-ps.ch/datei/sp-positionspapier-neutralitaet-2024

5) https://gruene.ch/news/kriegswaffenexport-position-der-gruenen#k2)


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