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Das definitive Ende der Neutralität



Von der Redaktion des Europa-Magazins angefragt, wie es denn um die Haltung der schweizerischen Friedensbewegung zur traditionellen Neutralität stehe, konnte ich herzlich wenig weiterhelfen. Von einer aktuellen breiten Auseinandersetzung ums Thema in den verschiedenen Friedensorganisationen der deutschen oder französischen Schweiz ist wenig bis nichts zu spüren. Weshalb dieses offensichtliche Desinteresse?

Von Peter Weishaupt (Peter Weishaupt war während Jahren Redaktor der «Friedenszeitung» und arbeitet zurzeit vorübergehend beim Schweizerischen Friedensrat in Zürich)

Blocher verstellt die Aussicht

Sind die Friedensbewegten mit dem bisherigen Zustand zufrieden oder wird hier eine gefährliche Entwicklung Richtung schleichende Aufgabe der militärischen Neutralität zugunsten einer Annäherung an die Nato verschlafen ? Gibt es wenigstens wie in Österreich einen Ansatz zu einer «Schweizerischen Neutralitätsbewegung»?

Ja, die gibt's, nennt sich aber AUNS * und verkörpert das Gegenteil einer aktiven Friedenspolitik der Schweiz, nämlich einen extremen isolationistischen Nationalismus. Die Dominanz dieser reaktionären Strömung, die die Maxime der (schwerbewaffneten) Neutralität als ideologische Hauptwaffe im Kampf gegen europäische und internationale Zusammenarbeit einsetzt, erklärt wohl einen Teil der friedenspolitischen Mühe mit einem positiven Begriff der schweizerischen Neutralität. Es gibt aber noch gravierendere Gründe dafür, weshalb diese definitiv in die Krise geraten und unbrauchbar geworden ist.

Rissiges Fundament

Ich will mich hier nicht lange historisch aufhalten und auch auf ähnlichgelagerte oder abweichende Bedingungen in anderen europäischen Mittel- und Kleinstaaten nicht eingehen, möchte aber simpel festhalten, dass die schweizerische Neutralität nie aus einer aktiven Friedenspolitik entstand und heranwuchs, sondern das schmerzliche Ergebnis militärischer Niederlage in der Mitte des 14. Jahrhunderts war, als die Mittelmacht-Aspirationen einiger Stände begraben werden mussten. Die wehrhafte Neutralität diente fortan dem Zusammenhalt der keineswegs natürlich zusammenwachsenden Landesteile (noch 1914 hätte sich die Schweiz ohne militärische Distanz zu den Kriegsparteien in Nichts aufgelöst) und wurde so zum eigentlichen nationalen Kleinstaatsmythos, der 1945 darin gipfelte, sie hätte uns vorm Krieg bewahrt.

Das Konzept der Neutralität war aber eine einzige Lebenslüge. Ein Sieg der Nazis in Europa hätte die Schweiz mit ihrer ganzen Neutralität obsolet gemacht. Wie kann es eine irgendwie geartete Neutralität zwischen einem Hitler und dem Rest der Zivilisation geben? Die aktuelle Auseinandersetzung um die wirtschaftlich-militärischen Beziehungen mit dem Dritten Reich hat endlich daran erinnert, dass über eine gewisse militärische Zurückhaltung hinaus eine Neutralitätspolitik versagen musste, selbst wenn es die einhellige Absicht des Bundesrates gewesen wäre, Hitler weniger entgegenzukommen.

Andauernde Lebenslüge

Die Neutralitätsdoktrin konnte sich zwar noch 50 Jahre über das Ende des Zweiten Weltkrieges hinaus halten, auch wenn rasch klar war, dass eine weitere Lebenslüge folgte, denn auch im beginnenden Kalten Krieg konnte es keine echte Neutralität geben, der atomare Schirm der Nato hatte kein Loch in Europas Mitte. Doch es ist kein Zufall, dass die neutrale Rolle der Schweiz heute mehr unter dem Aspekt des Kriegsgewinnlertums als einer löblichen Nichteinmischung in kriegerische Konflikte gesehen wird.

Der traditionellen Ausprägung der Neutralitätspolitik nach dem Krieg, die sich im Wesentlichen auf das freundliche Zurverfügungstellung von einigem Platz und Gebäuden für Gesprächs-Treffpunkte verfeindeter Gruppen auf neutralem Boden und etwas humanitärem Engagement beschränkte, wurde nach dem Zusammenbruch der bipolaren Welt nach 1989 die Grundlage entzogen. Das Bedürfnis nach neutralen Verschnauf- und Handelsorten ist nach dem Ende der grossen Antagonismen erheblich bescheidener geworden, die Gastgeber und ihre Guten Dienste werden unvoreingenommener und kritischer betrachtet, ja da und dort wird gar nach einem etwas beherzteren Engagement der Schweiz gefragt.

Absetzung von Schweden und Österreich

Dies war nämlich der grosse Unterschied zur Ausgestaltung der Neutralität unter Schwedens Palme (Vietnam und Südafrika) und Österreichs Kreisky (Ost- und Nahostpolitik). Sie füllten sie mit politischem Inhalt und engagierten sich aktiv zur Lösung oder Schlichtung und nicht zur neutralen Betrachtung von Konflikten. Und sie verwendeten nicht ihr Hauptaugenmerk auf eine möglichst totale autonome militärische Verteidigung des eigenen Landes. Ganz anders die Schweizer.

Sie machten nicht einmal gemeinsame Politik mit ihren Brüdern und Schwestern, sondern unterliefen gar die internationalen Südafrika-Boykottbestrebungen. Und sahen in Österreich vor allem das ungenügend gerüstete und mangelhafte abwehrbereite Einfallstor des Warschauer Paktes. Mit einem Wort: Eine engagierte aktive Neutralitätspolitik, wie es Schweden oder Österreich zeitweise praktizierten, gab es in der Schweiz nicht. Wir können uns deshalb weder in ihrer Geschichte noch in ihrer bisherigen Ausgestaltung positiv auf sie beziehen.

Der Begriff hat sich aufgelöst

Das schweizerische Neutralitätskonzept ist also definitiv unbrauchbar geworden. Wenn der Neutralitätsbegriff in Zeiten der europäischen Kriege und der weltweiten Blockkonfrontation noch einen gewissen Sinn hatte, so verflüchtigt er sich heute buchstäblich. Denn wem gegenüber wollen wir in einer globalisierten Welt wie und vor allem warum neutral bleiben? Der Ausgleich der Interessen auf zivilisierte Weise ist doch nur über einigermassen funktionierende internationale Zusammenarbeit möglich, und auch in Europa wollen wir nicht zum Problemlösungsverfahren unserer nationalistischen Vorfahren zurückgreifen, zuallerletzt nach den Bürgerkriegen in Ex-Jugoslawien.

Beitritt zur Nato?

Die Schweiz wird sich auch im eigenen Interesse einfach nicht länger von internationaler und europäischer Koordination abseits halten können. Nicht über das ob, sondern über das wie muss noch gestritten werden. Heisst das nun beispielsweise am Ende auch die Aufgabe der militärischen Allianzfreiheit, den Beitritt zum einzig überlebenden, dem westlichen Militärbündnis? Mehr und mehr Leute in der Schweiz, nicht nur Militärs und Strategen, freunden sich mit dieser Antwort auf den Zusammenbruch der traditionellen Neutralität an. Sie ist aber typisch für das alles bemühende absichernde Denken in der Schweiz.

Eine andere Antwort könnte aber in einer tatsächlich zurückhaltenderen Verteidigungspolitik sein (auch wenn sie nicht im Ernst ihre Nachbarn bedroht, so ist je länger je unklarer, wozu die Schweiz nach wie vor ein völlig überdimensioniertes Heer unterhält) und vor allem in der Entwicklung einer aktiven Aussen- und echten Friedenspolitik sein. Dazu müsste die Schweiz aber erst mal richtig in der Welt ankommen...

* Aktionsgemeinschaft für eine unabhängige und neutrale Schweiz: Starke rechtskonservative Sammlungsbewegung gegen Mitgliedschaft in Uno und vor allem EU unter der Führung des SVP-Politikers Christoph Blocher (Anmerkung für LeserInnen aus Österreich, Schweden oder auch Irland) zurück zum Text

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