Eine keynesianistische Politik würde helfen, die Arbeitslosigkeit in der EU deutlich zu senken. So die Überzeugung des SGB-Ökonomen Serge Gaillard (SG). Nur: kann auf eu-ropäischer Ebene funktionieren, was in der Schweiz positive Wirkung zeitigte? Simone Mo-ser fragte nach.
SM:
In einem Artikel der Roten Revue behauptest Du, keynesianische Rezepte zur Steue-rung der Nachfrage könnten helfen, die europäische Arbeitslosigkeit zu sen-ken...
SG: Die Geld- und Finanzpolitik sind die mächtigsten wirtschaftspolitischen Instrumente zur Be-einflussung des Wirtschaftswachstum und damit der Beschäftigungsentwicklung. Dies zeigt nicht zuletzt auch die Erfahrung in der Schweiz. Viel zu hohe Zinsen 1991/92, ein zu hoher Wechselkurs 1994 bis 1996 und eine extreme Politik der Defizitreduktion 1994/95 haben die längste Krise der Nachkriegszeit verursacht. Die Wende 1996 hin zu tieferen Zinsen, zu einer Geldpolitik, welche den Franken zunächst abschwächte und dann jede Aufwertung verhinderte, sowie das Investiti-onsprogramm haben massgeblich dazu beigetragen, dass die schweizerische Wirt-schaft wieder zu mehr Wachstum zurückgefunden hat. Das gleiche gilt für andere europäische Länder.
SM: Die Wirtschaftsstrukturen sind in allen europäischen Staaten unterschiedlich. Keyne-sianische Politik heisst, dass die Wirtschaftspolitik den unterschiedlichen Strukturen anzupassen ist. Kann eine keynesianische Politik auf europäischer Ebene funktionieren?
SG: Die wichtigsten Instrumente der keynesianischen Politik sind die Geld- und Finanzpolitik. Mit der Schaffung der Währungsunion gibt es nur noch eine Geldpolitik für die Eu-rozone. Das bedeutet, dass eine keynesianische Politik nur noch für die ganze Eu-rozone durchgeführt werden kann. Aber auch die Finanzpolitik sollte koordiniert werden. Ein Land, das die Staatsausgaben ausweitet, um die Wirtschaft anzukur-beln, erhöht wegen der intensiven wirtschaftlichen Verflechtung in Europa auch die Nachfrage im Nachbarland. Das Nachbarland profitiert somit von den Defiziten des expansiven Landes. Deshalb ergeben ökonomische Simulationsrechnungen eine viel grössere Wirksamkeit für international abgestimmte Investitionsprogramme als für nationale. Der Anteil des Aussenhandels der EU beträgt nicht viel mehr als 10%. Damit könnte die EU das Wirtschaftswachstum mit der Geld- und Finanzpolitik steuern wie es nach dem zweiten Weltkrieg die Nationalstaaten konnten. Der "Globalisierungsbegriff", wie er in der Diskussion heute verwendet wird, ist in die-sem Zusammenhang irreführend. Die EU hätte alle nötigen Instrumente in der Hand, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen.
Natürlich erschweren die unterschiedlichen wirtschaftlichen Strukturen eine solche Politik: Frankreich, Deutschland und Italien beispielsweise brauchen während meh-reren Jahren ein kräftiges Wirtschaftswachstum von mehr als 3%, um die Arbeits-losigkeit nur um 4% zu senken, während Holland nach 6 Jahren Konjunkturauf-schwung bereits Kapazitätsengpässe aufweist. Das verunmöglicht die Koordination jedoch nicht, macht sie jedoch etwas komplizierter. Insbesondere braucht es eine Koordination der EU-Geldpolitik mit der nationalen Finanz- und Lohnpolitik. Ein Beispiel: Tiefe Zinsen sollten ein starkes Wirtschaftswachstum ermöglichen. Hätte die europäische Zentralbank zum Ziel, die Arbeitslosigkeit im Euroraum um 4% zu senken und würde sie die gleichen geldpolitischen Regeln wie die US-Zentralbank verfolgen, wären die kurzfristigen Zinsen heute etwa bei 1.7% und nicht bei 3.3%. Die Wirtschaft in den Niederlanden würde bei solchen Zinsen eher zu stark wach-sen. Es drohte eventuell eine inflationäre Ueberhitzung. Deshalb müsste die Fiskal-politk restriktiv sein. Das würde bedeuten, dass die öffentlichen Haushalte in den Niederlanden Ueberschüsse zur Schuldentilgung oder Reservenbildung für die So-zialversicherungen verwenden sollten. Und in der Lohnpolitik müsste auf die Teue-rungsgefahren Rücksicht genommen werden.
SM: Von einer solchen Politik ist aber heute weit und breit nichts zu sehen?
SG: In der Europäischen Union dominiert noch immer die Tendenz, die Arbeitsmarktprobleme auf irgendwelche, nie präzis beschriebene "Verkrustungen" auf den Arbeitsmärkten zurückzuführen. Ausgerechnet der Chefökonom der Europäischen Zentralbank, welche eine wichtige Verantwortung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hätte, verkündet ständig solche Theorien. Umgekehrt hat die französische Regierung keynesianische Vorschläge vorgebracht. Auch in Schweden und Österreich gibt es Kräfte, welche solche Vorschläge unterstützen. Was fehlt, sind die Institutionen, die auf europäischer Ebene die konjunkturpolitische Verantwortung haben. Auf Betreiben der französischen Regierung immerhin ein "makroökonomischer Dialog" institutionalisiert. Bis jetzt hat man von diesem aber noch nicht viel Brauchbares gehört.
SM: Die SP regiert in den meisten Ländern der EU - trotzdem wird keine keynesianische Politik betrieben. Ist das nicht ein Beweis, dass diese Politik überholt ist?
SG: Aus verschiedenen Gründen haben Teile der europäischen Sozialdemokratie in den achtzi-ger Jahren vom Keynesisanismus Abschied genommen. Heute ist eine Gegenbewe-gung spürbar. Denn ohne keynesianische Politik wird es nicht möglich sein, die Ar-beitslosigkeit zu bekämpfen. In Frankreich, den nordischen Ländern und Öster-reich, in den Gewerkschaften gibt es Kräfte, die sich für eine europäische Koordi-nation der Wirtschaftspolitik einsetzen, Lafontaine setzte sich in Deutschland ebenfalls dafür ein. Vielfach wird Keynesianismus einseitig mit zusätzlichen Staats-ausgaben gleichgesetzt. Das schreckt viele ab, nachdem in den letzten Jahren müh-sam die Defizite abgetragen wurden, welche in der Krise bzw. in Deutschland mit der Wiedervereinigung zu Beginn der neunziger Jahren entstanden waren. Diese Befürchtungen sind jedoch zweifach falsch: Erstens spielt die Geldpolitik in einer keynesianischen Politik eine zentrale Rolle: Tiefere Zinsen entlasten die öffentli-chen Haushalte doppelt: Durch tiefere Zinszahlungen und - Dank des stärkeren Wirtschaftswachstums - durch höhere Steuererträge. Aber auch international abge-sprochene Investitionsprogramme würden den Haushalt wenig belasten. Ihre Wir-kung wäre doppelt so gross wie in nationalen Alleingängen. Deshalb würden sie in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit eine etwa doppelt so hohe Zunahme der Wirt-schaftstätigkeit bewirken, als der Staat an zusätzlichen Mitteln ausgibt. Damit stei-gen die Steuereinnahmen, und die zusätzlichen Ausgaben würden zu mindestens zwei Drittens kompensiert.
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