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Das verschreckte Gespenst des Eurokeynesianismus



Nach dem Wahlsieg Gerhard Schröders in Deutschland 1998 keimte für einen kurzen Moment neue Hoffnung: eine gestärkte Mehrheit von Mitte-links-Regierungen in der EU könnte einen Politikwechsel für mehr Beschäftigung einleiten. Ein Positionspapier der sozialdemokratischen Wirtschafts- und Finanzminister verwies auf veränderte Rahmenbedingungen durch den Euro und forderte "Wirtschaftsreformen in der Währungsunion". Der deutsche Finanzminister Oskar Lafontaine propagierte eine neue internationale Finanzarchitektur, eine entspanntere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, höhere Löhne, eine Stärkung der Binnennachfrage sowie ein Ende des Steuerdumpings in der EU. Alternative Wirtschaftswissenschaftler hatten schon 1997 in einem Memorandum eine radikalere Politik für "Vollbeschäftigung, sozialen Zusammenhalt und Gerechtigkeit" gefordert. Lafontaine griff einige ihrer Argumente in moderater Form auf. Eine Rückkehr des "Keynesianismus" via EU schien greifbar nahe. Die Hoffnungen sind jedoch verflogen.

von Klaus Dräger

Das Dilemma des nationalstaatlichen Keynesianismus

Der "Keynesianismus" setzte stets auf eine gesamtwirtschaftliche Globalsteuerung im Rahmen einer weitgehend geschlossenen nationalen Volkswirtschaft. Die europäischen Nationalstaaten waren in den 80er Jahren allerdings recht offene Volkswirtschaften. Die Aussenwirtschaftsabhängigkeit der EU-Mitgliedstaaten lag zwischen 20 und 40 Prozent ihres jeweiligen Bruttoinlandsprodukts. Kleine und mittlere Volkswirtschaften mit hoher Außenwirtschaftsabhängigkeit konnten sich keine expansive Haushaltspolitik mehr leisten. Denn im Zweifelsfall förderten sie damit den Kauf importierter Waren und Dienstleistungen. Die erhöhte Nachfrage brachte im Inland kaum erhöhte Steuereinnahmen und keine zusätzliche Beschäftigung. Expansive Haushaltspolitik verstärkte unter diesen Bedingungen die Gefahr, daß die öffentliche Hand sich zunehmend in einer Schuldenfalle verstrickte. Die Bedingungen für keynesianische Politik, so schien es, waren nicht mehr gegeben.

Eurokeynesianismus - Phönix aus der Asche?

Für die Europäische Union als Wirtschaftseinheit stellt sich die Lage anders dar. Die EU bildet einen Wirtschaftsraum, der mit rund 8 Prozent des EU-Bruttoinlandsprodukts nur sehr gering vom Außenhandel abhängig ist. Das hat Folgen für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion: Wechselkursschwankungen wirken sich geringer auf das "inländische" Preisniveau und das Bruttosozialprodukt in Euroland aus als bei den für die EU typischen mittleren und kleineren Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten. Die Frage der "globalen Wettbewerbsfähigkeit" stellt sich im wesentlichen für jene 10 % der Wirtschaft in Euroland, die auf den Export ausserhalb Europas ausgerichtet sind - also nur für einen relativ kleinen Teil der Gesamtwirtschaft. Für die wirtschaftliche Dynamik in der EU liegt damit die rational überlegene Strategie darin, die "Binnenwirtschaft" zu entwickeln und die Investitionstätigkeit regional ausgewogen zu fördern. Wenn auf der EU-Ebene angesetzt wird, ergibt sich damit ein beachtliches Potential für eine "eurokeynesianische" gesamtwirtschaftliche Politik.

Wenn alle Mitgliedstaaten der EU sich gemeinsam auf eine expansivere Haushaltspolitik verständigen könnten, müsste niemand in die Schuldenfalle laufen. Zusätzliche vom Staat erzeugte Nachfrage, die qualitativ die Kriterien der ökologischen Nachhaltigkeit und sozialen Nützlichkeit erfüllt - z.B. durch nachhaltige öffentliche Zukunftsinvestitionen oder höhere Sozialausgaben im Dienste des dauerhaften sozialen Zusammenhalts - würde bis zu 90% durch Produkte und Dienstleistungen made in Euroland umgesetzt. Selbst höhere Löhne würden im Vergleich zu kleinen und mittleren Volkswirtschaften mit geringerer Wirkung auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit durchschlagen. Die höhere Binnennachfrage hätte wiederum vermehrte Steuereinnahmen zur Folge, weil die Sickereffekte relativ gering ausfielen. So würde eine kluge Ausweitung öffentlicher Investitionen und die Stabilisierung der Binnennachfrage dazu führen, dass die Mitgliedstaaten mittelfristig ihre erhöhten Ausgaben über Steuermehreinnahmen refinanzieren können.

Verdrängte europäische Debatten

Oskar Lafontaine argumentierte zusätzlich für eine entspanntere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank nach US-amerikanischem Muster. Die Notenbank der USA hatte damit zu Anfang der 90er Jahre dafür gesorgt, dass die Rezession von 1993 in einer "weichen Landung" mündete und der danach folgende Aufschwung umso kräftiger ausfiel. Die Experten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung sahen in diesem "Durchatmen" der US-Wirtschaft auch die Hauptursache für die Zunahme der Beschäftigung in den USA in diesem Zeitraum. Die Hoffnung lag in einer Kooperation zwischen der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank und einer beschäftigungsorientierten Wirtschafts- und Fiskalpolitik der Mitgliedstaaten. Da die Europäische Zentralbank selbst für absehbare Zeit keine Inflationsgefahr für die EU diagnostizierte, könnte sie ähnlich wie die Notenbank der USA ihre Politik auf niedrigere Zinsen und einen Inflationskorridor von 3 bis 4 Prozent ausrichten. Eine Modellrechung des WSI von 1994 hatte für die Bundesrepublik gezeigt, daß allein eine dauerhafte Lockerung der Geldpolitik der Bundesbank bis zu 600 000 zusätzliche Arbeitsplätze ermöglicht hätte, ohne die Inflation unvertretbar anzuheizen.

Die Diskussionen auf dem informellen EU-Ratstreffen im österreichischen Pörtschach brachten 1998 erstmals neue Ideen für eine alternative wirtschaftspolitische Strategie in Europa. Eine europäische Initiative zur stärkeren Regulierung globaler Finanzmärkte und einem kooperativen Wechselkursregime würde der gewachsenen Verantwortung der EU für die Weltwirtschaft nach der Währungsunion gerecht.

Eine EU-weite Koordinierung der Steuerpolitiken wurde gefordert, die über den unlängst verabschiedeten Verhaltenskodex zu Steuerfragen hinausgehen müsse. Eine konzentrierte Aktion zur Einführung EU-weiter Umwelt- und Energiesteuern, einer Tobin-Tax auf Devisentransaktionen, einer harmonisierten Quellensteuer auf Kapitalzinsen und zur Einführung eines Mindestsatzes für Körperschaftssteuern war in der Debatte. Steueroasen innerhalb der Mitgliedstaaten (z.B. Treuhandkonstruktionen, steuerbegünstigte Holdings wie die belgischen "Coordination Centers" etc.) und in ihren "Sonderterritorien" (z.B. niederländische Antillen, britische Cayman Islands, Kanalinseln etc.) könnten mittelfristig durch EU-Vereinbarungen und Vertragsänderungen trockengelegt werden.

Die italienische Regierung hatte vorgeschlagen, die durch die Europäische Währungsunion freiwerdenden, von der EZB nicht benötigten Devisenreserven der Zentralbanken europaweit für den Beschäftigungsaufbau einzusetzen. Ein Potential von rund 90 Mrd. US-$ könnte so einer aktiven Beschäftigungspolitik nach Verhandlungen mit den nationalen Zentralbanken zur Verfügung stehen. Die Überschußreserven müssten von den jeweiligen Zentralbanken in einen europäischen Fonds eingespeist und könnten nur schrittweise verausgabt werden, um eine Aufwertung des Euro zu vermeiden.

Die französische Regierung hatte ferner den Vorschlag des Delors-Weißbuchs von 1993 für ein Infrastrukturprogramm neu in die Debatte gebracht. Der alte Kommissionspräsident Jacques Delors hatte die Idee, einen Europäischen Investitionsfonds ins Leben zu rufen, um arbeitsplatzschaffende Infrastrukturprojekte zu finanzieren. Der Europäische Investitionsfonds (EIF) kann außerhalb des Geltungsbereichs der Maastricht-Kriterien operieren. Über die Ausgabe von Unionsanleihen und anderen Finanzinstrumenten könnte er einen Teil der derzeitigen Überersparnis von 5 % im OECD-Raum in Investitionen umleiten. Um die ursprünglich vorgesehene Kreditkapazität des EIF von 60 Mrd. ECU zu erreichen, müsste sein Kapitalstock allerdings erweitert werden. Die Europäische Investitionsbank (EIB) stellt im übrigen weitere ähnliche Kreditfaszilitäten bereit.

Neue Infrastrukturinvestionen, so eine Überlegung der damaligen Finanzminister Lafontaine und Strauss-Kahn, sollten einer nachhaltigen Entwicklung dienen. Die EU könnte mit ihren bisherigen und neu erschlossenen Mitteln vor allem dezentrale Netzwerke mit hoher Beschäftigungsintensität fördern: den Ausbau der Schiene im Regionalverkehr, Energieeinsparung und erneuerbare Energien, nicht-kommerzielle und öffentlich-rechtliche Angebote in Multimedia- und Informationsnetzwerken, Umweltschutz, Stadterneuerung, Bildung, Gesundheitswesen und Sozial- und Kulturwirtschaft. Öffentlich geförderte Beschäftigung sollte Bedürfnisse befriedigen helfen, die bisher nicht oder nur unvollständig von privaten Märkten abgedeckt wurden. Somit könnten Wirtschaftswachstum, Beschäftigungsaufbau und Umweltschutz Hand in Hand gehen. Professor Norman Birnbaum von der Georgetown University in Washington bilanzierte: "Lafontaine besaß eine ökonomische und soziale Vision für Europa, die es mit Kohls politischem Projekt aufnehmen konnte." (1)

Fehlstart des Eurokeynesianismus

Die Vision blieb allerdings Vision - das Gespenst des "Eurokeynesianismus" entwich verschreckt in den Keller, je mehr die Debatte um den "Dritten Weg" in Europa an Fahrt gewann. Birnbaum analysiert die Gründe des Scheiterns: "Die Franzosen hielten sich auffällig zurück, die Briten zeigten höfliche Feindschaft, die Vereinigten Staaten offene Verachtung. Jetzt muss Frankreich dafür bezahlen; Paris wird es mit einem Großbritannien zu tun bekommen, das Jospins gouvernement economique ablehnt, und mit einem deutschen Kanzler, der dem nationalen Kapital verpflichtet ist. Eine Europäische Union, die den Vereinigten Staaten ökonomisch und politisch gleichberechtigt gegenübertreten könnte, wird angesichts fehlender ökonomischer und sozialer Institutionen für Europa ein ferner Traum bleiben." (2) Der freudig erwartete "Politikwechsel" in der EU nahm nach Lafontaines Abgang eine andere Richtung: zum geplanten Ausbau der Militärmacht EU, zur Festung gegen Flüchtlinge und MigrantInnen, zur Fortsetzung der Sparpolitik, der Deregulierung des Europäischen Binnenmarkts und der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. Die Europäische Sozialdemokratie und die von ihnen geführten Mitte-links-Regierungen konnten sich nicht auf ein neues gemeinsames Konzept "eurokeynesianischer" Wirtschaftspolitik verständigen. Frankreich und die Achse Berlin-London blockierten sich gegenseitig, so dass in der EU nur eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners möglich ist. Die "pragmatische Europapolitik" folgt in vielen Elementen allerdings eher der Strategie des "Dritten Weges" als einer "Fortsetzung des Neoliberalismus mit anderen Mitteln" (Michael Felder). So ist das Thema "Eurokeynesianismus" wieder an die schwachen sozialen Bewegungen in der EU zurückverwiesen, ohne dass diese auf gewichtige Ansprech- und Bündnispartner in den Regierungen zählen könnten.

Wachstum und Selbstbegrenzung - ein lösbarer Widerspruch?

Für den ökologischen Teil der Bewegungen stellt sich ohnehin die Frage, ob eine eurokeynesianische Strategie dauerhaft tragfähig sein könnte. Für einen Übergangszeitraum kann eine eurokeynesianische "Wachstumspolitik" ohne Zweifel auch umweltgerecht sein, sofern sie den Hauptakzent auf Arbeitszeitverkürzung legt und den ökologischen Strukturwandel fördert. Ob die ökologische Strategie der "Suffizienz" (Gut leben, statt viel haben) aber dauerhaft mit einer Wachstumspolitik vereinbar ist, darf bezweifelt werden. Eine Verminderung des Rohstoff- und Energiedurchsatzes der Wirtschaft um den Faktor 10 - also um 90 Prozent - ist nach heutigem Erkenntnisstand durchaus möglich. Doch ob die technisch realisierbaren Einsparpotentiale darüber hinausgehen, erscheint fraglich. Dann würde allerdings ein jährliches Wirtschaftswachstum von 2 bis 3 Prozent in wenigen Jahren die ökologischen Fortschritte wieder in Frage stellen und die Wirtschaft von einem nachhaltigen Entwicklungspfad wegführen. Die schon seit den 80er Jahren anstehende Diskussion um die dauerhafte Vereinbarkeit von "Eurokeynesianismus" und "Suffizienz" muss ohne Scheuklappen von beiden Seiten geführt werden. Eine alternative wirtschaftspolitische Strategie wird nur Glaubwürdigkeit erlangen können, wenn sie dieses Dilemma lösen kann. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist diese Debatte ohnehin auf die noch schwachen Pflänzchen europäischer sozialer Bewegungen zurückverwiesen.

Anmerkungen

(1) und (2) Norman Birnbaum: Europas Unterwerfung, in: Die Woche vom 26.3.1999

Literatur

· Oskar Lafontaine: Das Herz schlägt links, München 1999

· Hermann Scheer: Solare Weltwirtschaft, Verlag Antje Kunstmann, 1999

· Europäische WirtschaftswissenschaftlerInnen für eine alternative Wirtschaftspolitik in Europa: Vollbeschäftigung, sozialer Zusammenhalt und Gerechtigkeit - Für eine alternative Wirtschaftspolitik in Europa, Bremen 1997; in: Memo-Forum Nr. 25, Juli 1997

· Patrick Ziltener: Strukturwandel der europäischen Integration, Münster 199

· Hermann Schwengel: Globalisierung mit europäischem Gesicht. Der Kampf um die politische Form der Zukunft, Berlin 1999

· Frieder O. Wolf: Vollbeschäftigung neu bestimmen. Strategien für eine europäische Beschäftigungspolitik, Berlin 1999

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