von Jan A. Johansson, Politischer Sekretär der sozialdemokratischen Abordnung Schwedens im EU-Parlament
Die Stärkung des EU-Parlamentes führt nicht zur Demokratisierung der EU. Das durch den Amsterdamervertrag auf 700 Parlamentarier begrenzte Gremium würde nicht zu einer angemessenen Repräsentation der Bevölkerung und der verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen führen. Die kleinen Staaten würden von den grossen Staaten leicht überstimmt werden. Demokratiekompatibel kann Europa nur durch die Zusammenarbeit demokratischer Staaten integriert werden.
Die politische Situation in Schweden
Schweden hat das EU-skeptischste Volk der EU und einen starken Widerstand gegen die Schaffung einer Einheitswährung. Die Opposition der schwedischen Bevölkerung gegen die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) war für die sozialdemokratische Regierung der Grund, Schweden 1999 ausserhalb der WWU zu halten. Die Auseinandersetzung um die WWU fand nicht nur bei den Wählern sondern auch in der Regierung selber statt. "Die Auswirkungen der WWU abwarten" ist die Parole des Augenblicks. Was nach den Parlamentswahlen im Dezember 98 geschehen wird, ist allerdings offen. Die schwedischen Behörden werden im Herbst 98 anfangen, "WWU-Informationen" zu verteilen. Heute wissen wir noch nicht, was die Informationen beinhalten. Eine versteckte Propaganda für die WWU? Während des EU-Referendums waren die "Informationen" in Tat und Wahrheit Propaganda für den Beitritt zur EU.
Schweden trat der EU nach einem Referendum im November 1994 bei: mit 52,3% Ja und 46,5% Nein. Es handelt sich um die bislang geringste Mehrheit, die bezüglich der EU-Mitgliedschaft in einem Staat je erreicht wurde. Das politische Establishment und die Wirtschaft butterten ungefähr 1 Milliarde schwedischer Kronen in die Ja-Kampagne gegenüber 50 Millionen schwedischen Kronen der Nein-Seite. Die Versprechen der Ja Seite bezüglich Arbeitsplatzbeschaffung, tieferen Nahrungsmittelpreisen, tieferen Zinsraten sowie deren wilden wirtschaftlichen Drohungen wurden gegen Ende der Kampagne so übertrieben, das sich dies heute für die EU-Befürworter als Bumerang erweist. Erstens zeigte sich, dass die Versprechen bezüglich mehr Jobs und tieferen Nahrungsmittelpreisen falsch waren. Zweitens hatte Norwegen wegen des Neins zur Mitgliedschaft überhaupt keine erwähnenswerte ökonomische Nachteile in Kauf zu nehmen. Drittens waren die Folgen des Beitritts Schwedens zur EU oft grotesk, etwa als Passagiere einen Bus mitten auf einer Landstrasse wechseln mussten, die Salmonellenkontrollen bei Fleisch, das nach Schweden importiert wurde, ungenau ausgeführt wurden, Fischer ihre Fischernetze auswechseln mussten, an Bauern Formulare zurückgeschickt wurden, weil sie die falsche Farbe hatten, usw.
Die Jungen waren der EU-Mitgliedschaft gegenüber skeptischer eingestellt als die älteren Wähler. Dieser Effekt ist teilweise politisch links stehenden sowie umweltpolitisch aktiven Jugendlichen zuzuschreiben. Andrerseits spielten auch Jugendliche eine Rolle, die gegenüber dem politischen Establishment skeptisch eingestellt sind. 55% der Jungen im Alter von 18-21 Jahren stimmten Nein und nur 42% Ja. In der Altersgruppe 22-30 stimmten 52% Nein und 46% Ja. Je älter die Altersgruppe, um so höher der Ja-Anteil. Bei der Berücksichtigung des Geschlechtsfaktors wird sehr deutlich: junge Frauen stimmten am stärksten gegen den EU-Beitritt. Die 18-21jährigen Frauen stimmten zu 66% Nein und 31% Ja (Männer in derselben Altersgruppe 50% Ja, 47% Nein). In der Altersgruppe 22-30 stimmten 50% der Frauen Nein, 38% Ja (Männer 53% Ja und 45% Nein). Auch in der Altersgruppe 31-40 und 51-60, stimmten mehr Frauen als Männer Nein.
EU-Zentralismus ohne demokratischen Einfluss
Ich arbeite seit März 1995 als politischer Sekretär der sozialdemokratischen Abordnung Schwedens im EU-Parlament. Einiges an der Brüsseler Realtität ist ziemlich besorgniserregend. Wenn ich im Restaurant des EU-Parlamentes herumspaziere, höre ich sehr verschiedene Sprachen. Auf den ersten Blick sieht das ganze sehr harmonisch aus: nach Fraternisierung und Bruderschaft zwischen den westeuropäischen Völkern. Wenn man aber etwas näher hinschaut, wird der Konflikt zwischen den Eliten und dem Volk jedoch über deutlich. Wenige Bürger in der EU sprechen neben ihrer Muttersprache eine zweite Sprache. In Spanien etwa gibt es sehr wenige, die in Englisch kommunizieren können. Spanier, die gut Englisch sprechen, findet man oft in gut bezahlten Jobs in Brüssel. Die meisten Beamten, die im Dienste des EU-Parlamentes, des Rates und der EU-Kommisison arbeiten, sind gut ausgebildet und haben an mehreren Universitäten in Europa studiert. Bereits als Teenager wurden sie von ihren Eltern als Austauschstudenten nach den USA geschickt. Oft gehörten die Beamten zur Gruppe von Elitestudenten reicher Familien und sie wissen daher wenig oder gar nichts darüber, wie für die Betroffenen das Leben auf dem Existenzminimum oder eine Langzeitarbeitslosigkeit ohne finanzielle Unterstützung aussieht.
In Brüssel ist eine EU-Elite-Klasse im Entstehen - man braucht gute Kontakte, wenn man einen Fuss als Praktikant in die EU-Maschinerie halten will oder wenn man Informationen über freie Stellen bekommen will. Da bekanntlich Kinder mit einer recht hohen Wahrscheinlichkeit dieselben Jobs wie ihre Eltern wählen, ist eine sich in Brüssel selbst reproduzierende Bürokratenelite im Entstehen, die ihr privates Leben in einem Wohlstand verbringt, der vor den Belgiern abgeschirmt bleibt. Tendenzen in diese Richtung sind im heutigen Brüssel deutlich zu erkennen. Und der Einfluss der Beamten auf die Politik ist nicht unwichtig. Sie regeln die Gesellschaft weit weg von der Relität. Die Politiker, die sich mit EU-Politik beschäftigen, haben ihrerseits auch nicht besonders viel Kontakt zur Realität. Die Minister kommen zu den Ratstagungen in schwarzen Limousinen, durch schwarze Fenster, Polizeieskorten, Sicherheitsmänner, Pressesekretäre und Berater vom Rest der Welt abgesichert.
Ist es möglich, eine zentralisierte Demokratie in der EU auf die Beine zu stellen? Wenn das EU-Parlament in der EU das höchste gesetzgebende Organ würde - wie könnten die vom Maastrichter Vertrag vorgesehenen 700 Parlamentier eine Wählerschaft von mehreren hundert Millionen vertreten?
- Die 15 heutigen EU-Mitgliedstaaten haben 370 Millionen Einwohner. Kommen die sechs Beitrittskandidaten Polen, Tschechien, Ungarn, Slovenien, Estland und Zypern, die gemäss der EU-Kommision in der nächsten Beitrittsrunde mitmachen, hinzu, werden daraus 433 Millionen. Wenn alle elf heutigen Beitrittskandidaten mitmachen, werden daraus 476 Millionen Einwohnen in 26 Mitgliedstaaten. 700 EU-Parlamentarier auf 476 Millionen Einwohner bedeutet, dass jeder Parlamentarier 680 000 Bürger vertreten würde. Diese wären auf Grund der Parteizugehörigkeit und dem Proporzwahlrecht noch über weite Gebiete verstreut. Viele Gruppen und Meinungen, selbst ziemlich grosse Parteien werden überhaupt nicht repräsentiert sein. In Schweden, mit 13 Sitzen, würde eine politische Partei über 7.7% der Stimmen machen müssen, um überhaupt einen Sitz zu gewinnen. Die Schlussfolgerung daraus ist klar: Wenn das EU-Parlament einen Zuwachs an politischer Macht gewinnt, wird der Graben zwischen Politikern und Bürgern tiefer sein als der Grand Canyon.
- Heute mit 15 Mitgliedstaaten gibt es 626 Parlamentarier. Kleinere Länder sind bezüglich ihrer Bevölkerung im Augenblick übervertreten. Deutschland mit 80 Millionen Einwohnern hat 99 Sitze und Schweden mit 8,8 Millionen Einwohnern hat 22. Die Anhänger eines europäischen Bundesstaates planen für die Zukunft ein System, in dem das Prinzip "ein Bürger - eine Stimme" verwirklicht ist. Deutschland, Frankreich, Italien und Grossbritannien stellen zusammen 59% der gesamten heutigen Einwohnerschaft der EU. Damit würden die kleinen Länder ins Abseits gedrängt.
- Befürworter eines europäischen Bundesstaates sagen, dass europäische Fragen auf EU-Ebene zu behandeln sind. Was ist aber eine europäische Frage und was sind Fragen, die einzelne Staaten betreffen. Tatsache ist, dass die EU immer mehr politische Entscheidungskompetenzen von den Mitgliedstaaten aufsaugt. Das Interesse der Wähler entspricht aber keineswegs dieser Stärkung von Kompetenzen auf EU-Ebene. Wahlen fürs EU-Parlament haben eine vorwiegend innerstaatliche Bedeutung. Der Wähler betrachtet sie als Gelegenheit, um seine Unzufriedenheit mit der eigenen Regierung auszudrücken. Die Plattformen der EU-weit organisierten Parteien interessieren ihn dabei nicht. Die innerstaatlichen Wahlen dominieren weitgehend das politische Leben, während die Wahlen fürs EU-Parlament kaum interessieren. In einer solchen Situation ist jede Kompetenzverlagerung hin zum EU-Parlament und zur EU-Ebene eine Verlagerung weg von der demokratisch kontrollierten Ebene hin zur bürokratischen Ebene.
- Ein weiteres Problem der EU-Politik besteht darin, dass die Trends in den verschiedenen Ländern sich zu einem bestimmten Augenblick jeweils in verschiedene Richtungen entwickeln. Damit wirken sich Wählerentscheide in einem Land auf die EU-Ebene nicht aus. Der Wähler verliert jeglichen Einfluss auf den Gang der Dinge.
Die politische Macht ist in den Händen von Christdemokraten
Die Sozialdemokraten stellen in der EU im Augenblick (August 1998) neun Premierminister und beteiligen sich in 12 von 15 Staaten an der Regierung. Aber nur in fünf (Frankreich, Griechenland, Portugal, Schweden und Grossbritannien) können sie auch auf eine linke Parlamentsmehrheit zählen. Die politische Ideologie der meisten Regierungen mit sozialdemokratischer Beteiligung scheint die Langlebigkeit des freien Marktes zu sein: Deregulierung auf Teufel komm raus! Während des Luxemburger Beschäftigungsgipfels im Herbst 97 zahlte sich die Regierungsbeteilung der Sozialdemokraten faktisch nicht in einer sozialeren Politik aus. Die Sozialdemokraten waren sich nicht über ein Beschäftigungsprogramm einig, das in der EU umgesetzt werden könnte. Angesichts dieser Uneinigkeit konnten sie gegen die konservativen Deutschen und Spanier (Kohl und Aznar) keine Neuerungen in der Beschäftigungspolitik durchsetzen, obwohl die "Europäische Sozialdemokratie" noch nie seit 1945 auf Regierungsebene so breit vertreten war. Ist die britische Labour Party unter der Führung eines Tony Blair aber überhaupt noch als eine linke Partei zu betrachten? Was unter "Europäischer Sozialdemokratie" zu verstehen ist, ist höchst unklar und schwammig. Man kann es drehen und wenden wie man will. Faktisch wird die EU - trotz sozialdemokratischer Regierungsbeteilung in 12 von 15 EU-Staaten - von einer christdemokratischen, rechtsliberalen Dominanz geprägt.
Meine Vision Europas und Schwedens
Für die heute absehbare Zeit müssen wir die Demokratie im Rahmen des traditionellen Territorialstaates und auf lokaler Ebene ansiedeln. Es ist der klassische Territorialstaat, wo sich in den letzten Hundert Jahren eine gemeinsame demokratische Tradition herausgebildet hat. Es ist in diesen Staaten, wo sich eine gemeinsame politische Kultur und Mentalität und oft auch eine gemeinsame Sprache entwickelt hat, und wo die demokratische politische Debatte stattfindet. Es gibt sehr wenige Medien, die auf multinationaler Ebene arbeiten und eine wirkliche Funktion haben. "The European" wird nur von sehr wenigen Bürgern in Ländern gelesen, die nicht eine anglophile Tradition aufweisen. Die Medien haben nur eine nationale und regionale Basis. Die demokratische Debatte findet entsprechend auf Landesebene statt. Deshalb müssen die wichtigen Entscheidungskompetenzen auf dieser Ebene angesiedelt bleiben. Befürworter eines europäischen Bundesstaates und die EU-Kommission beklagen oft die langsamen Entscheidungsprozesse in den Mitgliedstaaten und folgern daraus, die Entscheidungen sollten auf EU-Ebene erfolgen. Demokratie braucht aber ihre Zeit. Wenn von den Bürgern gewählte Parlamentarier ein bremsendes Bein in die Brüsseler Entscheidungsprozess halten, liegt es an den Bürgern, sofern ihnen dieses Verhalten missfällt, die Parlamentarier bei den nächsten Wahlen zu ersetzten. Es ist nicht die Aufgabe der EU-Kommisson, an gewählten Volksvertretern herumzumeckern. Die Kooperation in Europa muss auf der Idee der Zusammenarbeit von Demokratien beruhen. Die fünf nordischen Länder hatten während Jahrzehnten den freien Personenverkehr und einen freien Markt realisiert. Es handelte sich um eine sehr unbürokratische Zusammenarbeit, die keine demokratiepolitische Probleme verursachte. Wenn manche Staaten in bestimmten Bereichen eine zusätzliche Integration wünschen, soll es an ihren Parlamenten liegen, die entsprechenden Entscheidungen zu treffen.
Ich möchte Schweden als einen Staat sehen, der frei von Allianzen bleibt, ein Staat der international für Demokratie und die demokratische Bildung der Bürger der Welt arbeitet. Als junger Sozialdemokrat schaue ich mit Nostalgie auf die Tage zurück, als Olof Palme Premierminister Schwedens war. Die Solidaritätsarbeit für die Unterdrückten in der Welt war damals sehr lebendig. Schweden unterstützte aktiv den ANC gegen das Apartheid Regime in Südafrika. Die erste Auslandreise von Nelson Mandela nach seiner Entlassung aus dem Gefängis erfolgte denn auch nach Stockholm. Ich möchte auch, dass Schweden eine Brücke zwischen Russland und Westeuropa bildet. Eine weitere wichtige Aufgabe für die Zukunft ist der Bau einer Brücke zwischen Europa und der islamischen Welt. Die Tendenzen hin zur einer gemeinschaftlichen Aussen- und Sicherheitspolitik innerhalb der EU stellen ein bedeutsames Problem und ein Hindernis für meine Vision einer künftigen schwedischen Aussenpolitik dar. Ich möchte, dass die EU zu einer reinen zwischenstaatlichen Zusammenarbeit reduziert wird, in der die Parlamente der Mitgliedstaaten im Zentrum der Entscheidungen stehen. Die Befürworter eines EU-Bundesstaates und die EU-Bürokratie haben eine Propagandalawine gestartet, die jene, die keine supranationale EU wollen, als "Antieuropäer" zu diskreditieren sucht. Wie es möglich sein soll, Gegner eines Kontinentes zu sein, habe ich nie verstanden. Wer gegenüber der Weltbank als Institution kritisch eingestellt ist, ist doch auch nicht gegen die Welt.
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