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Jetzt werden wir direkt (Teil I)



Überall fordern Bürger Volksabstimmungen. Die Zeit ist reif für mehr Demokratie.

von Uwe Jean Heuser, Gero von Randow und Ute Watermann

"Sie glauben wohl auch, daß wir hier oben etwas altmodisch sind. Aber Vorsicht, das stimmt nicht! It's cool man!"(P. "Cool Man"Steiner, 81,Bergbauer in der Milka- Werbung)

Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Sie dringt durch alle Ritzen, lockert jeden Widerstand, tritt an unerwarteten Stellen hervor. Da kommt Freude auf. Sogar Deutschland, das Land des Reformstaus und der schlechten Laune, ist dagegen nicht gefeit: Derzeit erfrischt die Idee der direkten Demokratie die Szenerie - die Ergänzung der Wahlen durch Abstimmungen auf allen Ebenen, von der Gemeinde bis zum Bund, ja bis zur Europäischen Union.

Das britische Wochenblatt Economist begründete schon vor mehr als einem Jahr, warum die Bürgerdemokratie fällig ist: Die Europäer sind im Schnitt gebildeter denn je. Sie nutzen vielfältige Kommunikationsmittel und Informationsquellen. Sie haben Zeit für die Beteiligung in der Zivilgesellschaft und wollen sie sich auch nehmen.

Und das nicht nur, um Guildo Horn zu wählen. Oder in Berlin die FDP aufzumischen. In der Bundesrepublik fordert eine neue Bürgerbewegung mehr direkte Demokratie. Keiner Partei und keiner speziellen Altersgruppe zugehörig, organisiert sie sich, ganz deutsch, in Vereinen. Sie mobilisiert bereits mehr Stimmbürger als Grüne und FDP zusammen. Wer in Bremen den Hauptbahnhof verläßt, sieht ihre Plakate für Bürgerentscheide, ebenso in München, und auch in Münster verstellen die ersten Infostände Passanten den Weg.

Erst vor zwei Wochen stimmten in Hamburg - gegen den Widerstand der regierenden SPD - über achtzehn Prozent der Wahlberechtigten dafür, einen Volksentscheid zu veranstalten. Thema: niedrigere Hürden für Volksentscheide. Und schon vor drei Jahren gewann die Bewegung genügend Bayern für die Einführung von kommunalen Bürgerentscheiden und brachte damit der CSU ihre erste Niederlage seit vierzig Jahren bei.

Die Initiativen haben Verbündete in der Politik: "Wir wollen auf Bundesebene die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid", heißt es im Programm der SPD. Fragen nach dem Woher der Forderung führen zur Rechtsexpertin Herta Däubler-Gmelin. "Wie alt sind Sie',", fragt sie am Telephon als erstes denn das Thema hat Tradition. Schon seit Jahrzehnten streitet eine Gruppe in der SPD für direkte Demokratie "jetzt könnte die Forderung mehrheitsfähig sein', hofft die Schwäbin.

Die Christdemokraten sind dagegen. "Ich finde, wir, die Politik, die Politiker müssen entscheiden": Essigsauer kommentiert CDUFraktionschef Wolfgang Schäuble die Idee der britischen Regierung, Referenden einzuführen. Doch die Ablehnungsfront der Konservativen bröckelt. Weniger aus Einsicht. Es sieht nicht gut aus, wenn man wenig zustande bringt, aber dem Bürger das Mitregieren verweigert.

Die Bürgerbewegten sind keine Freaks. In der Münsteraner Aktivistengruppe zum Beispiel geht es wohlanständig zu.- Ein Ingenieur, eine Altenpflegerin, ein Professor, ein Finanzkaufmann, und so geht die Aufzählung weiter, treffen sich in adretten Privatwohnungen und einmal im Monat am Stammtisch. Im Hamburger Verein haben sich gefunden: junge Politologen, ein promovierter Landwirt und eine gutbezahlte Redakteurin, ein arbeitsloser Tischler und eine freiberufliche Tanzpädagogin. Eine gemeinsame politische Heim haben sie nicht. Hier wiederwachte 68er, dort Anhänger der versponnenen Gesellschaftslehren des Anthroposophen Rudolf Steiner, doch es überwiegen die scheinbar Unpolitischen: Bürger, für die Demokratie ein Grundprinzip ist. Und wenn Neonazis bei ihnen mitmachen wollen? Kopfschütteln: Das könne man sich nicht vorstellen, die seien doch undemokratisch und folgten dem Führerprinzip.

"Wir sind Idealisten", sagt Markus Hiller, Sprecher der Hamburger Initiative. Der Politikstudent erzählt, wie er mit ein paar andern vor vier Jahren begann. Sie suchten Verbündete und fanden sie: den Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) ebenso wie die Arbeitsgemeinschaft selbständiger Unternehmer, die linksgrüne GAL und die Hamburger FDP

Direktwahlen, etwa des Bürgermeisters, oder gar Abwahlen von Kommunalchefs, wie sie die Brandenburger zuletzt in Serie hinlegten, haben die Demokratiebewegten nicht im Sinn. Sie wollen, daß Bürger über Sachfragen befinden. Und zwar auf eigene Veranlassung: Mit Plebisziten hat das alles ebenfalls nichts zu tun. Beim Plebiszit fragt ein Oberer die Unteren, ob sie ihm auch brav zustimmen.

Einmischung von unten ist in den Bundesländern im Prinzip längst vorgesehen. Doch die Aktivisten monieren, es sei momentan fast aussichtslos, einen Volksentscheid zu gewinnen. In Hamburg ist direkte Demokratie tatsächlich ein Hindernisiauf. 20 000 wahlberechtigte Bürger müssen zunächst eine Volksinitiative unterschreiben. Volle zehn Prozent des Stimmvolkes, etwa 120 000 Menschen, müssen sodann binnen zwei Wochen aufs Amt oder einen Brief einwerfen, um das Volksbegehren zu zeichnen. Erst dann läuft der eigentliche Entscheid an, der nur durchkommt, wenn die Mehrheit zustimmt und - das ist die höchste Hürde - mindestens ein Viertel aller Wahlberechtigten ausmacht.

Dieses sogenannte Zustimmungsquorum von 25 Prozent will Mehr Demokratie e. V. ein für allemal beseitigt sehen. Bei allen anderen Wahlen gelte schließlich die einfache Mehrheit, argumentiert der Verein. Es sei nicht wenn Enthaltungen und Neinstimmen faktisch zusammengezählt würden. Er will bei dieser Gelegenheit auch den Bürgerentscheid auf Bezirksebene einführen und den Katalog der Themen verkleinern, an die das Volk keinesfalls herandarf Am 27. September, dem Tag der Bundestagswahl, entscheiden nun die Hanseaten auch darüber, wie ihre Demokratie künftig funktionieren soll.

Die Initiatoren sind siegesgewiß. Seit Jahren zeigen Umfragen, daß die Deutschen mehr Volksabstimmungen wollen. Ihr Wunsch ist alles andere als exotisch. In Europa ist die direkte Demokratie auf regionaler und lokaler Ebene Standard, und die Verfassungen fast aller europäischen Länder sehen Volksabstimmungen auch auf nationaler Ebene vor. Aber meist nur solche, die von oben angeordnet werden. Das stärkste Mittel, die landesweite Volksinitiative von unten, kennen nur Schweizer, Slowaken, Litauer, Ungarn und Liechtensteiner.

Das weltweit beste Labor für direkte Demokratie liegt in den Alpen. Seit mehr als 120 Jahren üben sich die Schweizer darin, ihren Repräsentanten Grenzen zu ziehen und neue Horizonte zu zeigen. Mit Referenden können sie Gesetze kippen, mit Volksinitiativen eigene Entwürfe für Verfassungsänderungen zur bundesweiten Abstimmung stellen.

So wie Daniel Ammann. Der bedächtige Züricher Biologe ist einer der Frontmänner der Gen-Schutz-Initiative. Als sich die Abgeordneten im Berner Bundeshaus Anfang der neunziger Jahre partout nicht auf ein Rahmengesetz für die Gentechnik verständigen wollten, traten Ammann und seine Mitstreiter mit ihrem Begehren vor die Eidgenossen. Ihr Vorschlag für eine Verfassungsänderung könnte den Schwveizer Pharmakonzernen das Geschäft verderben, weil er vielversprechende Pfade der Gentechnik sperren würde - sogar die medizinische Forschung an genmanipulierten Tieren.

Zunächst konnten die Initiatoren binnen achtzehn Monaten mehr als die erforderlichen 100 000 Unterschriften sammeln. Anschließend mußten sich die Regierung und die beiden Kammern des Parlaments mit dem Entwurf beschäftigen. Sie verzichteten auf ihr Recht, den Wählern Gegenvorschläge zu unterbreiten. Anfang Juni dieses Jahres wird es daher heißen: "entweder - oder". Kein Wunder, daß die die verschreckte Industrie schon mehr als vierzig Millionen Mark in ihre Kampagne gegen die Vorlage gepumpt haben soll, während die Befünvorter mit kaum mehr als einem Zehntel auskommen müssen.

Seit mehr als einem halben Jahrzehnt argumentiert Ammann nun in Einzelgesprächen, auf Podien und in den Medien für seine Sache. Nichts wäre falscher, als anzunehmen, er fiebere dem Abstimmungstag entgegen. Die Ernte, sagt er, "liegt in der gesellschaftlichen Diskussion, nicht im Entscheid selbst". So habe das Parlament bereits einzelne Paragraphen zur Gentechnik beschlossen. Der Bürger Ammann lehnt sich zurück: Das Ganze ist für ihn nur "ein Beitrag, um das junge Thema einzupendeln. Das wird noch lange gehen."

Der Wettbewerb um die bessere Politik ist in der Schweiz ein Dauerzustand. Regelmäßig baut der Einzelkämpfer Werner Schmid-Bieri seinen Stand in der Berner Fußgängerzone auf, um bis zum 20. November Unterschriften für einen Verfassungsentwurf gegen den Grundbesitz zu sammeln. Er will damit die Gesellschaft gerechter machen. Plakate anderer Bürgergruppen finden sich allerorten. Derzeit stehen allein fünf Bundesinitiativen zur Abstimmung an, darunter Vorstöße für eine "Schweiz ohne Schnüffelpolizei" oder für die "Legalisierung aller Drogen unter staatlicher Aufsicht".

Seit 23 Jahren entgeht Hans Urs Willi kein bundesweites Begehren. Umstellt von Aktenschränken, " verwaltet der akribische Bundesbeamte in seinem kleinen Büro sämtliche Eingaben aus dem Volk: "Ich bin das Relais." Für Willi ist die direkte Demokratie ein "Forum zum Brainstorming'. Die meisten Bürgerverfahren führten indirekt zu neuen Gesetzen oder wenigstens zu neuem Verständnis.

Die Bürger der Alpenrepublik haben mit ihrer Demokratie gut zu tun. Denn in den Kantonen sind die Volksverfahren ungleich vielfältiger als im Bund. Dort können die Schweizer - und das ist wie alles in dem Land "von Kanton zu Kanton verschieden'- außer der Verfassung auch Gesetze ändern, in Finanzfragen mitreden und über Verordnungen befinden. Alle drei oder vier Monate kommen ihnen daher umgängliche "Abstimmungsbüchlein' über anstehende Entscheidungen ins Haus. Viel Lesestoff. Verständlich, daß nur eine Minderheit von rund vierzig Prozent an den Bundesentscheiden teilnimmt. Das sei auch völlig in Ordnung, sagt Andreas Gross, der bekannteste Protagonist direkter Demokratie in der Schweiz. Die passive Mehrheit sei ja nicht verdrossen, sondern vertraue dem Bürgersystem. Auch daß es kein Zustimmungsquorum gibt, hält er für vernünftig: "Das belohnt nur diejenigen, die sich dem Dialog verweigern." Mit einer seiner Initiativen wollte der sozialdemokratische Nationalratsabgeordnete sogar die Armee abschaffen. Das gelang zwar nicht, aber die Landesverteidigung blieb Diskussionsthema.

Unterdessen setzte eine ändere Initiative den Zivildienst durch. Per Volksabstimmung verordneten sich die Schweizer auch die landesweite Mehrwertsteuer, erleichterten sie die Einbürgerung junger Ausländer und verdarben sie ihren Abgeordneten eine Diätenerhöhung statt dessen bewilligten sie eine höhere Aufwandsentschädigung.

Gelegentlich drohen sich die Eidgenossen im Klein-Klein der Sachthemen zu verlieren, von den "Wasserflugzeugen auf Schweizer Seen" bis zur "Beibehaltung des Brieftaubeneinsatzes bei der Armee".. Über manches wichtige Thema darf das Volk dagegen nicht abstimmen, weil es nicht in Gesetzesform paßt. Deshalb will Justizminister Arnold Koller die Volksrechte in seinem Land ‚verwesentlichen'. Einerseits soll die Unterschriftenhürde hochgesetzt, andererseits die Bürgermitsprache auf Finanzbeschlüsse und Verwaltungsakte ausgeweitet werden - freilich nur, soweit das Parlament dies für angemessen hält. Bürgerbewegte wie Andreas Gross gehen da an die Decke, weil echte Direktdemokratie nur von unten kommt.

Im Kanton Bern dürfen die Bürger bereits über Verwaltungsakte abstimmen. Daß die Berner nun neue Probleme bekommen, etwa durch Entscheide, die sich widersprechen, zeigt: Direkte Demokratie ist ein ewiges Experiment; perfekte Institutionen gibt es nicht, alle Seiten, müssen wachbleiben und das System weiterentwickeln.

Zuweilen führt das zu absurden Ergebnissen. Die Schweizer Verfassung sieht wie ein Flickenteppich aus. Denn die Bürger dürfen nur die Verfassung ändern, nicht aber Gesetze. Daher zwingen sie absonderliche Einzelheiten in ihr Grundgesetz - bis hin zu Vorschriften über den Verkauf von Enzianschnaps. Und was ist davon zu halten, wenn eine Supermarktkette Unterschriften sammelt, indem sie an der Kasse ein paar Franken Preisnachlaß gewährt?

Das alles hält kaum einen Eidgenossen davon ab, sich mit leuchtenden Augen zur Direktdemokratie made in Switzerland zu bekennen. Warnungen kommen erst im Nachsatz - wie von Frank A. Meyer. Für Deutschland wäre das gefährlich, sagt der Chefpublizist des Medienkonzerns Ringier. Im Fernsehzeitalter könnten sich Rechtspopulisten der Volksinstrumente bemächtigen. Auch in der Schweiz versuchten das Leute wie Nationalrat Christoph Blocher, der milliardenschwere Präsident der Volkspartei in Zürich. Aber die Schweizer seien zu erfahren, um jedem Populisten gleich auf den Leim zu gehen. "Wir haben eben ständig Krach miteinander", sagt Frank A. Meyer. Dafür strahlt die Regierung, zusammengestellt nach dem sogenannten Konkordanzprinzip, Stabilität aus. Statt nur eine Person oder Partei an die Regierung zu bringen, ist der Großteil des politischen Spektrums vertreten. Trotzdem reagieren die obersten Schweizer oft schnell auf Volkes Willen, weil sie sich sonst neuen Referenden ausgesetzt sehen.

Das paßt zur direkten Demokratie. Nur gibt es keinen Grund anzunehmen, ein solches Klima könne lediglich in Alpentälern herrschen. Die Schweiz ist mit vier Sprachen und Traditionen alles andere als homogen. Und an den Genen liegt es auch nicht: Die Eidgenossenschaft war mehr als ein halbes Jahrtausend alt, als sie sich die Direktdemokratie verschrieb.

Gut die Hälfte der Vereinigten Staaten kennt ebenfalls Verfahren der Volksgesetzgebung. Praktiziert werden sie mit Vorliebe in Kalifornien. Vor zwanzig Jahren priesen Liberale und Linke direkte Demokratie der Welt als Vorbild. In den sechziger Jahren setzten die Kalifornier Bürgerrechte für Afroamerikaner durch und in den siebziger Jahren den Umweltschutz. Doch dann der Schock: Proposition 13, die Jarvis-Gann-Initiative des Jahres 1978. Hinter der sachlichen Bezeichnung verbarg sich nicht weniger als eine Steuerrebellion. Die Kommunen durften die Grundsteuern - ihre Haupteinnahmequelle - nicht mehr erhöhen. Proposition 13 wurde von einer Bewegung getragen, die bald Ronald Reagan ins Weiße Haus brachte und bis heute die Ideologie der Republikanischen Partei formuliert: weniger Staat, erzwungen durch Steuersenkungen.

Die Front in Kalifornien: Mitte gegen Minderheiten

Die renitenten Bewohner des westlichen US Bundesstaates banden ihren Finanzpolitikern fast vollständig die Hände. Die Hälfte des zurückgestutzten Budgets muß die Regierung seither für das Schulsystem ausgeben, einen guten Teil für die Gefängnisse, einen weiteren für die Rückzahlung bestimmter Schuldverschreibungen. Geld für Neues können sich die Politiker abschminken. Oder die vom Volk angenommene Proposition 187, genannt "Rettet unseren Staat": Sie hätte illegal eingewanderte Jugendliche vom Besuch öffentlicher Schulen ausgeschlossen, wenn die Wähler für dieses Foul nicht die rote Karte gesehen hätten: Ende März verwarf eine Bundesrichterin Proposition 187 als verfassungswidrig. Doch ungehindert schafften die Bürger am Pazifik Quotenregelungen für Minderheiten ab, und im Juni werden sie gar entscheiden, ob Spanisch als zweite Unterrichtssprache für die vielen Schüler lateinamerikanischer Herkunft gestrichen wird.

Die Regeln sind hart im Westen. Wer eine Gesetzesinitiative vor die Kalifornier bringen will, muß fünf Prozent der aktiven Wähler in nur fünf Monaten zur Unterschrift bewegen. Wer kann so viel Energie aufbringen? Es seien vor allem schlagkräftige Interessengruppen, die in Kalifornien "Volksbegehren initiieren und befördern und auf Volksentscheide mit Millionenbeträgen massiven Einfluß nehmen, meint der Göttinger Politologe Peter Lösche. Versicherungen, Rechtsanwaltsgruppen und die Tabakindustrie haben ihre Freude daran.

Das System ist eben schlecht konstruiert. Die Kalifornier stimmen über die Sachfragen ausschließlich zu den großen Wahlterminen ab - und damit in der Regel nur alle zwei Jahre. Dann aber sollen sie sich mit einer ganzen Liste komplizierter Themen befassen. Was zuviel ist, ist zuviel. Wer rät ihnen im Zustand der Überforderung? Das Fernsehen. Den Entscheiden in Kalifornien geht selten ein Diskussionsprozeß voraus - Anhörungen und Debatten sind nicht vorgeschrieben. Immer wieder rasiert die Mittelschicht ungeliebte Minderheiten, und die schwache Linke setzt dem nichts entgegen.

"Für die US-Gliedstaaten läßt sich nachweisen, daß direkte Demokratie nicht zu größerem politischen Interesse und höherer politischer Partizipation führt", resümiert der schweizerische Demokratieforscher Silvano Möckli. Es müssen schon Mindestbedingungen erfüllt sein, damit es klappt: Regeln vor allem, die dem Gespräch genügend Zeit und Raum verschaffen.

Doch bei solchen Fragen ist die Debatte in Deutschland noch gar nicht angekommen. Wer hier mehr direkte Demokratie will, wird nach wie vor schnell zu den Unbedarften gerechnet. Und er wird belehrt:

Bundesweite Volksabstimmungen passen nicht ins Grundgesetz. So lautet die herrschende Meinung unter Verfassungsjuristen. Doch weder der Wortlaut des Grundgesetzes noch die Protokolle seiner Entstehung belegen dieses Dogma. Das Volk übt laut Grundgesetz die Staatsgewalt "in Wahlen und Abstimmungen' aus; das steht im Artikel 20, der zum Kern der Verfassung gerechnet wird. Ansonsten ist im Grundgesetz wenig über Abstimmungen zu finden, weil die Gründer der Republik im Kalten Krieg vermeiden wollten, daß sich die Kommunisten des Volksentscheids bedienten. Womöglich hatten die Gründer damals - aus naheliegenden Gründen nicht viel Vertrauen ins Volk.

Direkte Demokratie hat die Weimarer Republik geschwächt. Schwach war in Weimar das Parlament. Der direkt gewählte Reichspräsident konnte es mit Notverordnungen aushebeln. Doch heute werden nicht Direktwahlen, sondern Volksentscheide gefordert. Damals kam es übrigens zu acht Volksbegehren, doch nur über zwei wurde abgestimmt. Und Hitlers Ermächtigungsgesetz wurde nicht vom Volk, sondern von Parlamentariern beschlossen.

Direkte Demokratie ist nichts für große Länder. Das klingt so, als würden sich die sechs Millionen Einwohner der Schweiz allesamt persönlich kennen oder per Alphorn verständigen. Zwar fällt es in großen Staaten schwerer, prozentuale Hürden zu übersteigen, weshalb die Medien dort eine stärkere Rolle spielen. Das gilt freilich für Wahlkämpfe nicht minder.

Direkte Demokratie bremst Reformen. Der Einwand läßt sich auch anders ausdrucken: Das Volk stört beim Regieren. Dabei könnte es mit einer Gesetzesinitiative zum Beispiel die deutsche Steuerblockade auflösen. Den Bürgern fielen bestimmt noch mehr Themen für Reformen ein - wie in der Schweiz. Dort sind ökologische Reformen der Landwirtschaft oder Steuerreformen möglich gewesen, die hierzulande allseits blockiert wurden.

Direkte Demokratie ist umständlich. Demokratie ist überhaupt umständlich. Am praktischsten ist die Diktatur - für Diktatoren. "Wir Regierenden hätten es einfacher ohne direkte Demokratie", sagt der Schweizer Justizminister Koller lächelnd. Der Vertrag von Maastricht kam über die Deutschen wie das Wetter, während sich die Franzosen bis zu ihrer Volksabstimmung im Jahre 1992 die Köpfe heiß redeten. Auch über ihre Wiedervereinigung durften die Deutschen nicht abstimmen. Ein historischer Fehler. Sie würden die Folgen heute solidarischer tragen.

Unpopulär, aber notwendige Maßnahmen können nicht ergriffen werden. Aber die Schweizer haben sich nicht nur 1993 einen zusätzlichen Feiertag genehmigt, sondern auch mehrmals die Steuern erhöht. Das Argument läuft auf den Verdacht hinaus, der Bürger sei ein egoistisches, kurzsichtiges Wesen und interessiere sich bestenfalls für seinen Vorgarten. Doch direkte Demokratie ist nicht die Herrschaft des Nachbarn, sie hebt auch nicht die Aufgabenteilung zwischen Gemeinde, Land und Bund auf. Volksentscheide können übrigens auch sogenannte non-decisions beseitigen: Das sind Optionen, die im Parlament nie aufs Tapet kommen - wie die Frage, ob die Müllverbrennungsanlage nicht auch in feinen Stadtgebieten wie Hamburg-Blankenese stehen könnte.

Geld dominiert die Abstimmungen. Doch in Deutschland regieren Lobbys in die Pharmapolitik, die Handwerksordnung oder die Steuergesetzgebung und Subventionsvergabe hinein. Jede Form der Demokratie ist anfällig für gutbezahlte Einflüsterungen, auch die Direktdemokratie. Dennoch, in der Schweiz haben mehrfach kleine, finanzschwache Initiativen große Veränderungen ausgelöst.

Komplizierte Themen lassen sich nicht auf Ja/Nein-Entscbeidungen reduzieren,. Auch in Parlamenten muß am Ende jeder Abgeordnete die Stimmkarte heben.

Die direkte Demokratie erlaubt die Diktatur der Mehrheit über Minderheiten. Das Grundgesetz gebietet Minderheitenschutz, und den kann auch eine Volksabstimmung nicht rechtmäßig abschaffen. Ebensowenig die Grundrechte oder den Rechtsstaat. Und die Todesstrafe bleibt ohnedies verfassungswidrig.

Direkte Demokratie begünstigt die Mittelschichten. Das trifft einen wunden Punkt. Die meisten bewegten Bürger kommen tatsächlich aus der Mittelschicht. Hingegen können sich viele sozial Schwache gar nicht mehr zu solchen Aktivitäten aufraffen. Anderen Bürgern, etwa den Alleinerziehenden, fehlt dazu schlicht die Muße. Und je anspruchsvoller die Beteiligungsformen sind, desto mehr Gruppen schließen sie aus. Freilich kann man deswegen den anderen nicht die Zivilgesellschaft verbieten. Außerdem ist der Graben nicht sehr tief. Die jüngste Hamburger Abstimmung erzielte auch in den sozialen Brennpunkten gute Resultate.

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