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Der erste Austritt: Deutsche Politik im Zeichen des Brexits

Das Votum der britischen Bevölkerung für den EU-Austritt ihres Landes erschüttert die EU und die Pläne Berlins, den Staatenbund für die eigene Weltmachtpolitik zu nutzen. Bei einer Wahlbeteiligung von 72 Prozent haben sich annähernd 52 Prozent der britischen Wähler für den Abschied aus dem Bündnis ausgesprochen. Das Votum wiegt für Berlin nicht nur deshalb schwer, weil nun die zweitgrößte Volkswirtschaft nach Deutschland und eine herausragende militärische Macht die EU verlässt und damit für eine über das europäische Bündnis operierende deutsche Weltpolitik nicht mehr zur Verfügung steht. Darüber hinaus droht eine Kettenreaktion: Auch in anderen EU-Staaten wird die Forderung nach einem Referendum laut; die zunehmende Unbeliebtheit der EU in einer ganzen Reihe von Mitgliedsländern stärkt zentrifugale Kräfte. Die schwedische Außenministerin warnte vor dem britischen Referendum explizit vor einem "Spill-over-Effekt", der zum Beispiel zu einem schwedischen EU-Austritt führen könnte. In deutschen Medien wurde die Forderung laut, das Referendum zu ignorieren und das britische Parlament für den Verbleib in der EU votieren zu lassen.

Von http://www.german-foreign-policy.com/

Dynamik gebrochen

Zum ersten Mal in der Geschichte des Staatenbundes hat die Bevölkerung eines ganzen Mitgliedslandes die Trennung von dem Bündnis beschlossen [1]. Gelang es der EU bisher, sich stets zu erweitern, so ist diese Dynamik nun gebrochen. Außerhalb Großbritanniens hat die Anberaumung der Abstimmung schon vor dem Urnengang den Gedanken gefestigt, dass die EU tatsächlich zur Debatte gestellt werden kann. Sie hat auch konkrete Wünsche nach Referenden in anderen Staaten geweckt. Anfang Mai 2016 ergab eine Umfrage in neun EU-Staaten [2], die zusammen drei Viertel der EU-Bevölkerung und 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts repräsentieren, eine Zustimmung von 45 Prozent zu der Forderung, ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft des eigenen Landes abzuhalten. In Frankreich sprachen sich 55 Prozent, in Italien sogar 58 Prozent dafür aus. Ein Drittel der Befragten erklärten, sie würden bei einem Referendum für einen Austritt aus der EU stimmen. In Schweden äußerten dies 39 Prozent, in Frankreich 41 Prozent, in Italien sogar 48 Prozent der Befragten.[3] Anfang Juni 2016 ergab eine Umfrage in Dänemark, dass auch dort 42 Prozent ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft wünschen; im Februar waren es lediglich 37 Prozent gewesen. Gleichzeitig fiel die Zahl derjenigen, die bei einem Referendum für einen Verbleib in der EU stimmen würden, von 56 Prozent im November 2015 auf 44 Prozent, während die Zahl der Austrittsbefürworter von 31 Prozent im November 2015 auf 42 Prozent stieg.[4]

EU zunehmend negativ bewertet

Jenseits der Frage nach Referenden über die EU-Mitgliedschaft hat eine Anfang Juni publizierte Umfrage in zehn EU-Staaten [5] gezeigt, dass der Staatenbund immer negativer beurteilt wird. Klare positive Bewertungen des Bündnisses sind demnach vor allem noch in Polen (72 Prozent) und Ungarn (61 Prozent) anzutreffen. In Spanien hingegen bewerten nur noch 47 Prozent die EU positiv - 16 Prozentpunkte weniger als 2004 -, während 49 Prozent sie als negativ einstufen.[6] In Frankreich ist die Zustimmung von 2004 bis 2016 sogar um 17 Prozentpunkte auf 38 Prozent gefallen, während 61 Prozent die EU ablehnen. In Griechenland bewerten mittlerweile 71 Prozent der Bevölkerung die EU negativ, während lediglich 27 Prozent ihr das Attribut "positiv" verleihen. Niederschmetternde Zustimmungswerte erhält die EU demnach besonders in Antworten auf die Frage, wie ihr Vorgehen in der Wirtschaftskrise bewertet wird. Faktisch handelt es sich dabei um eine Bewertung der deutschen Austeritätsdiktate. Lediglich in zwei der zehn Staaten, in denen die Umfrage durchgeführt wurde, überwiegt eine positive Bewertung - in Deutschland sowie in Polen (47 zu 38 respektive 47 zu 33 Prozent). In Spanien lehnten 65 Prozent der Befragten die EU-Krisenpolitik ab, in Frankreich 66 Prozent, in Italien 68 Prozent und in Griechenland 92 Prozent.

"Den Volkswillen ignorieren"

Die wachsende Ablehnung gegenüber der EU ist insbesondere deswegen von Bedeutung, weil die bisherige erprobte Methode, EU-kritische Milieus über die EU-orientierten Funktionärsriegen der großen politischen Parteien zu neutralisieren, bei Referenden nicht mehr funktioniert. In Großbritannien etwa haben traditionelle Labour-Hochburgen klare Mehrheiten für einen Austritt hervorgebracht, während in der Labour-Fraktion im britischen Unterhaus lediglich sieben Abgeordnete klar für den Abschied von der EU eintraten, 215 jedoch den Verbleib teils energisch befürworteten.

In Deutschland wurden sofort Forderungen laut, das Referendum einfach zu ignorieren. So hatte der Londoner Korrespondent der Tageszeitung "Die Welt", Thomas Kielinger, am Dienstag nach der Abstimmung erklärt, der Premierminister sei möglicherweise an das Referendum gebunden, nicht jedoch das Parlament: "Ist es denkbar, dass ... das Unterhaus bei einem möglichen Brexit überlegen könnte, den Volkswillen zu ignorieren und den Abschied von der EU zurückzuweisen?" Kielinger urteilte, das sei "nicht nur denkbar, sondern sogar wahrscheinlich".[7] "Von den 650 britischen Abgeordneten waren ja 455 für Remain, 130 für einen Brexit, 65 unentschieden. In Prozenten ausgedrückt: 70 Prozent pro Remain, 20 Prozent pro Leave, zehn Prozent nicht festgelegt." Mit einer Parlamentsabstimmung könne die EU gerettet werden. In diesem Sinne haben deutsche Medien sich schon oft offen gegen Referenden ausgesprochen: So hieß es etwa, die Ansicht, "direkte Demokratie sei per se eine gute Sache", sei falsch.

Auch das deutsche Bundeskanzleramt suchte sofort nach dem Referendum nach Optionen, die britische Entscheidung zum Austritt aus der EU rückgängig zu machen. Wie die Wochenzeitschrift "Der Spiegel" berichtet, hat Kanzlerin Angela Merkel bereits am Sonntag nach dem Referendum mit "engen Vertrauten", darunter Kanzleramtschef Peter Altmaier, Möglichkeiten diskutiert, "wie die Briten vielleicht doch noch in der EU bleiben könnten".[8] Erwogen worden seien unter anderem die Wiederholung des Referendums und die Durchführung von Neuwahlen. Allerdings sei man sich bewusst gewesen, dass in der britischen Bevölkerung ein großer Unwille gegenüber auswärtiger Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes verbreitet ist: "Ratschläge von außen wären völlig fehl am Platz", warnt Altmaier. Daher habe man sich zunächst darauf verlegt, Forderungen nach einer schnellen Entscheidung über den britischen Austritt auf EU-Ebene zu vermeiden.

EU-Routine

Damit bestätigt sich, dass höchste Berliner Regierungskreise auch im Falle Großbritanniens den erklärten Mehrheitswillen der Bevölkerung zu unterlaufen streben und allenfalls aus taktischen Erwägungen vorgeben, ihn zu akzeptieren. Dieses Vorgehen hat sich in der EU längst zur Routine entwickelt. In Irland etwa gelang es, zwei ablehnende Referenden (7. Juni 2001, 12. Juni 2008) zu den Verträgen von Nizza und Lissabon per Wiederholung unschädlich zu machen und jeweils nach einer umfassenden PR-Kampagne ein zustimmendes Votum der Bevölkerung einzuholen (19. Oktober 2002, 2. Oktober 2009). Negative Referenden zur EU-Verfassung in Frankreich (29. Mai 2005) und in den Niederlanden (1. Juni 2005) wurden ausgehebelt, indem der Verfassungsentwurf minimal modifiziert und anschließend als "Vertrag von Lissabon" oktroyiert wurde. Das griechische Referendum gegen die deutschen Austeritätsdiktate vom 5. Juli 2015 wurde einfach komplett ignoriert. Auch das niederländische Referendum gegen das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine wird keine Folgen haben: Wie Bundeskanzlerin Merkel vergangene Woche mitteilte, muss die niederländische Regierung eine "Lösung" für den Umgang mit dem Ergebnis des Referendums - Ablehnung der Assoziierung - finden, die das Assoziierungsabkommen nicht tangiert.[9]

Tips und Tricks

Überlegungen, den EU-Austritt Großbritanniens gegen den erklärten Willen der Bevölkerung doch noch zu verhindern, werden in Teilen der EU-orientierten Mehrheit des britischen Establishments, insbesondere auf dem rechten Flügel der Labour-Partei, tatsächlich ventiliert. Befeuert werden sie nun durch eine lebhafte Debatte in den deutschen Leitmedien, wie sich das Resultat des Referendums am günstigsten aushebeln ließe. So zieht etwa die als liberal geltende Wochenzeitung "Die Zeit" in Erwägung, die britische Regierung oder das Parlament könnten sich dem Willen der Bevölkerung schlicht widersetzen und das Austrittsverfahren nicht einleiten bzw. es untersagen.[10] Beides stuft das Blatt auf seiner Online-Präsenz als problematisch ein - nicht aus prinzipiellen, sondern lediglich aus taktischen Erwägungen: Ignoriere die Regierung das Referendum, dann werde ihr das "ein massives Glaubwürdigkeitsproblem einbringen", erhebliche Verluste bei den nächsten Wahlen inklusive; im Falle eines Parlamentsbeschlusses gegen den Austritt hingegen sei damit zu rechnen, dass EU-orientierte Abgeordnete bei den nächsten Wahlen ihr Mandat verlören. Beides würde EU-Gegnern in Großbritannien zu einem beträchtlichen Einflussgewinn verhelfen. Manche plädieren deshalb dafür, mit London über den Austritt zu verhandeln, ihm dabei aber nur miserable, inakzeptable Austrittsbedingungen einzuräumen - in der Hoffnung, dass diese erneut der Bevölkerung vorgelegt und dann abgelehnt werden, mit der Folge, dass Großbritannien in der EU verbliebe.

"Gewichtige Argumente"

Nach entsprechenden Überlegungen in anderen führenden Tageszeitungen hat nun auch die Online-Ausgabe der Wochenzeitung "Der Spiegel" nachgelegt. Es gebe "gewichtige Argumente" dafür, dass "die Umsetzung des Referendums", also der britische Austritt, keinesfalls "selbstverständlich" sei, heißt es dort. "Spiegel Online" zufolge befindet der deutsche Politologe Bernhard Weßels, das Ergebnis des Referendums sei "eigentlich nicht ... belastbar", da die Wahlbeteiligung lediglich bei 72 Prozent gelegen habe. Nach dieser Logik müssten die Regierungen diverser EU-Mitgliedstaaten umgehend zurücktreten. Weiter fragt "Spiegel Online", ob es nicht "undemokratisch" sei, es "zu ignorieren", wenn "Millionen von Pro-Brexit-Wählern ihre Entscheidung revidieren wollen". Abgesehen davon, dass die Behauptung, "Millionen" würden heute anders entscheiden, aktuellen Umfragen glatt widerspricht und frei erfunden ist, führt die Argumentation jegliche demokratische Abstimmung ad absurdum.

Der schottische Joker

Berlin und London setzen zwar trotz des britischen Austritts aus der EU auf eine weiterhin enge ökonomische Kooperation. Dies erklärten Bundeskanzlerin Angela Merkel und die britische Premierministerin Theresa May Mitte Juni 2016. Berlin trägt mit dieser Ankündigung Forderungen der deutschen Wirtschaft Rechnung, deren drittwichtigster Markt und zweitgrößter Investitionsstandort Großbritannien ist; einen "hässlichen Scheidungskrieg" dürfe man keinesfalls riskieren, heißt es in Wirtschaftskreisen. Allerdings behält Berlin spezielle Druckmittel gegen London in der Hand.

"Schottland aufnehmen"

Zu den Mitteln, mit denen Berlin London in den Verhandlungen um den britischen EU-Austritt unter Druck zu setzen sucht, gehört der schottische Separatismus. Deutsche Politiker haben ihn seit dem britischen Referendum am 23. Juni mehrmals offen befeuert. So erklärte der Vorsitzende des Ausschusses für EU-Angelegenheiten im Bundestag, Gunther Krichbaum (CDU), bereits am 26. Juni: "Die EU wird weiter aus 28 Mitgliedstaaten bestehen, denn ich rechne mit einem neuerlichen Unabhängigkeitsreferendum in Schottland, das dann Erfolg haben wird."[11] Krichbaum forderte: "Einen Aufnahmeantrag des EU-freundlichen Landes sollten wir schnell beantworten." Eine kaum verhohlene Aufforderung zur Abspaltung an einen Teil eines offiziell verbündeten Staates ist selbst für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich. Die Provokation ist zudem binnen kürzester Zeit nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich von höchstrangigen Regierungspolitikern übernommen worden. So wurde schon Ende Juni Österreichs Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) mit der Aussage zu einem etwaigen EU-Beitritt Schottlands zitiert: "Es ist jeder willkommen, der seinen Beitrag leisten kann"; Schottland könne dies "mit Gewissheit".[12] Anfang Juli schloss sich schließlich auch der deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) an: "Die EU wird ganz gewiss Schottland aufnehmen, wenn dieser Teil aus dem Vereinigten Königreich austreten und in die EU eintreten will."[13]

Berlin gegen Madrid

Gabriels kategorische Aussage ist in doppelter Hinsicht eine Provokation - denn in der EU gibt es massive Widerstände gegen eine etwaige Aufnahme eines abgespaltenen Schottlands. Bereits Ende Juni hat der spanische Premierminister Mariano Rajoy erklärt, Madrid werde Verhandlungen zwischen der EU und schottischen Separatisten nicht akzeptieren und gegebenenfalls sein Veto einlegen: "Wenn Großbritannien geht, muss auch Schottland gehen."[14] Hintergrund ist, dass ein EU-Beitritt eines abgespaltenen Schottlands die Sezessionsbestrebungen in Teilen Spaniens weiter anfachen würde, vor allem in Katalonien, aber auch im Baskenland. Aus diesem Grund hat Madrid bisher auch dem zeitweise exzessiven Druck aus Berlin getrotzt, das abgespaltene Kosovo als Staat anzuerkennen. Rajoys Ankündigung ist allerdings unmittelbar von deutschen Politikern unterlaufen worden. Während EU-Ratspräsident Donald Tusk sich Ende Juni weigerte, Verhandlungen mit der schottischen Regierungschefin Nicola Sturgeon zu führen - wegen des spanischen Vetos besitzt er kein Mandat dazu -, hat EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) sich über die Position des EU-Verbündeten hinweggesetzt und Sturgeon zu Gesprächen über eine mögliche Abspaltung Schottlands mit folgendem EU-Beitritt empfangen.[15]

Wie Grönland, nur umgekehrt

Dabei ist die Lage in Schottland selbst alles andere als klar. Mit höchster Aufmerksamkeit wird die Entwicklung etwa von der Tageszeitung Financial Times beobachtet, die als Sprachrohr der Londoner Finanzbranche gilt, des Milieus, das wohl am geschlossensten den britischen EU-Austritt bekämpfte. Mitte Juli räumte das Blatt ein, Schottland verfüge - anders als zuletzt vielfach dargestellt - verfassungsrechtlich über keinerlei Mittel, dem EU-Austritt Großbritanniens ein Veto entgegenzusetzen. Auch die Wahrscheinlichkeit eines schottischen Sezessionsreferendums wird in dem Blatt nüchtern eingeschätzt.[16] Aufgrund der Unwägbarkeiten, die mit Referenden verbunden seien, werde Regierungschefin Sturgeon nur dann eine Abstimmung anberaumen, wenn Umfragen eine stabile Mehrheit von 60 Prozent ergäben, heißt es. Aktuelle Umfragen zeigen aber - trotz der aufgeheizten Stimmung - lediglich eine Mehrheit von 53 Prozent, während schottische EU-Gegner wie die Fischereiverbände ankündigen, Manipulationen am Referendumsergebnis vom 23. Juni nicht hinnehmen zu wollen. Schottische EU-Befürworter bringen inzwischen ein Modell ähnlich demjenigen Grönlands, nur umgekehrt, ins Spiel. Grönland gehört zu Dänemark, ist jedoch 1982 aus der damaligen EG ausgetreten.[17] Ebenso könne, sobald Großbritannien die EU verlasse, Schottland als Teil Großbritanniens die Mitgliedschaft in der EU behalten, heißt es. Allerdings schätzen Experten dieses Modell als kaum realistisch ein.

Mit Dublin gegen London

Zusätzlich hat Bundeskanzlerin Merkel den Druck auf London kürzlich mittels einer Einmischung in die irisch-britischen Beziehungen verschärft - mit dem Gespräch, das sie am 12. Juli mit dem irischen Ministerpräsidenten Enda Kenny in Berlin führte. Irland ist von dem britischen EU-Austritt in besonderer Weise betroffen, weil - wie Kenny erläuterte - nicht nur "fast eine Million Iren ... in Großbritannien" leben, sondern auch "sehr enge und weit entwickelte Handelsbeziehungen über das irische Meer hinweg" bestehen. Hinzu kommt die schwierige Lage an der Grenze zwischen Irland und Nordirland, die seit 1922 mit einem speziellen Grenzregime ("Common Travel Area") reguliert wird.[18] Bilaterale Fragen dieser Art sind seit langem Gegenstand von Verhandlungen zwischen London und Dublin; daher erschließt sich aus britischer Sicht nicht, weshalb Berlin sie sich jetzt zu eigen macht, zumal die Bundesregierung weiterhin ultimativ erklärt, über den britischen EU-Austritt, seine Ausgestaltung und seine Folgen werde erst dann gesprochen, wenn die britische Regierung den Austrittsantrag eingereicht habe. Geschichtsbewussten Briten ist allerdings durchaus bewusst, dass Berlin in beiden Weltkriegen Irland gegen Großbritannien einzuspannen versucht hat.

Deutsche Staatsbürgerschaft für EU-Anhänger

Ergänzend erhöht der SPD-Vorsitzende und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel den Druck und versucht Spaltkeile in die britische Bevölkerung zu treiben. Mit Blick auf die Tatsache, dass unter jungen Briten die Anhänger eines Verbleibs in der EU dominieren, erklärt Gabriel: "Sie wussten besser als die Snobs der britischen Elite, dass es um ihre Zukunft ging".[19] Man dürfe nun "nicht einfach die Zugbrücke hochziehen zu ihnen". Der SPD-Vorsitzende verlangt, jungen Briten, die in Deutschland leben, die deutsche Staatsbürgerschaft zu verleihen, "damit sie EU-Bürger bleiben können". Für das "Angebot der Staatsbürgerschaft" an junge Briten hatte sich bereits zuvor die Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament, Rebecca Harms, ausgesprochen.[20] Der Vorschlag, künftig Bürger westeuropäischer Staaten zu vereinnahmen - lediglich auf der Basis eines politischen Bekenntnisses ("pro-EU") -, ist allerdings neu und in der internationalen Politik bislang beispiellos. Er bestätigt, dass Berlin im Kampf um sein Hegemonialprojekt, die EU, sogar gegenüber verbündeten Staaten kein Tabu mehr kennt.

Nationale Positionen

Berlin beginnt sich aber auch darauf einzustellen, dass die EU erodiert und sich zumindest vorläufig nicht im gewünschten Maß für die deutsche Weltpolitik nutzen lässt. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat im Juni 2016 in einem Namensbeitrag in der US-Zeitschrift "Foreign Affairs" geäußert, die EU stecke "in inneren Auseinandersetzungen" fest und sei "gestrauchelt"; bis sie sich konsolidiert und "die Fähigkeit entwickelt" habe, "eine stärkere Rolle auf Weltebene zu spielen", werde Deutschland "sein Bestes geben, um sich so umfassend wie möglich zu behaupten". Bundeskanzlerin Merkel hat am Dienstag Abend nach dem britischen Votum angekündigt, der deutsche Militäretat müsse sich demjenigen der Vereinigten Staaten annähern. Damit beginnt Berlin seine nationalen Positionen zu stärken.

Anmerkungen:

[1] Grönland, wo es am 23. Februar 1982 eine Volksabstimmung über den Austritt aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gab, ist eine autonomer Teil Dänemarks. Der EG-Austritt wurde am 1. Januar 1985 vollzogen wurde, in erster Linie wegen der Überfischung grönländischer Gewässer durch damals westdeutsche Fangflotten).
[2] Die Umfrage wurde in Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen, Schweden, Spanien und Ungarn durchgeführt.
[3] Half of people in nine European countries believe UK will vote to leave the EU. www.ipsos-mori.com 09.05.2016.
[4] Lisbeth Kirk: More Danes want referendum on EU membership. euobserver.com 08.06.2016.
[5] Die Umfrage wurde in Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, Polen, Schweden, Spanien und Ungarn durchgeführt.
[6] Oliver Kühn: Europäer wünschen keine engere Union. www.faz.net 08.06.2016.
[7] Thomas Kielinger: Beim Brexit dürfte das Parlament das Volk ignorieren. www.welt.de 21.06.2016.
[8] Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel nach dem ersten Tag des Europäischen Rates in Brüssel. 28.06.2016.
[9] Ralf Neukirch: Bundesregierung hofft auf Sinneswandel Großbritanniens. www.spiegel.de 02.07.2016.
[10] Katharin Tai: Gibt es einen Exit vom Brexit? www.zeit.de 30.06.2016.
[11] Jacques Schuster, Daniel Friedrich Sturm: Und zurück bleiben die verwirrten Staaten von Europa. www.welt.de 26.06.2016.
[12] Brexit - Kern: Schottland wäre willkommen. www.tt.com 28.06.2016.
[13] Sigmar Gabriel: Egoismus macht Europa kaputt. www.noz.de 02.07.2016.
[14] Leila Al-Serori: Warum Spanien gegen einen EU-Verbleib Schottlands ist. www.sueddeutsche.de 30.06.2016.
[15] Sebastian Gierke: Darum ist Sturgeons Mission in Brüssel so heikel. www.sueddeutsche.de 29.06.2016.
[16] Kiran Stacey: Can Scotland really stop Britain leaving the EU? www.ft.com 20.07.2016.
[17] S. dazu Jenseits der EU.
[18] Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und dem irischen Ministerpräsidenten Kenny am 12. Juli in Berlin.
[19], [20] Gabriel will doppelte Staatsbürgerschaft für Briten in Deutschland. www.spiegel.de 02.07.2016.


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