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10 Jahre Nein zum EWR



Vor zehn Jahren, am 6. Dezember 1992, fand die unter mehreren Aspekten denkwürdige EWR-Abstimmung statt. Der Vertrag hätte die Demokratie in der Schweiz massiv eingeschränkt und dies für eine reines Marktprojekt. In den meisten wirtschaftspolitischen Fragen hätte die Schweiz ohne Mitbestimmung faktisch EU-Recht übernehmen müssen. Die Schweiz wäre zu einer Art Kolonie der EU geworden. Aber auch die Umwelt hätte gelitten. Das Forum für direkte Demokratie leistete damals einen kleinen Beitrag zu diesem Nein. Angesichts des knappen Ausgangs der Abstimmung war dieser Beitrag aber wesentlich.

Die Redaktion

Vor der EWR-Abstimmung wurden die wildesten Schreckenszenarien für den Fall eines Neins entworfen. Der damalige Bundesrat Pascal Delamuraz sagte für den Fall eines Neins eine Arbeitslosigkeit von 20% in 10 Jahren voraus. Diese Aussage wurde von den Journalisten nicht als populistisch gebrandmarkt. Von den „Linken“ wurde für den Fall der Ablehnung das Bild einer Schweiz als vergrössertes Monaco gepinselt: Fluchtort der Gelder des Casinokapitalismus unter Verlust aller produktiven Wirtschaftssektoren. Die Schweiz wäre ohne EWR gezwungen, die Deregulierung noch weiter zu treiben als das EU-Ausland. Die sozialen Errungenschaften würden massiv unter Druck geraten. Man wäre gezwungen, ohne Mitbestimmung EU-Recht zu übernehmen. Von allen Voraussagen traf keine einzige zu. Die „Linken“ halfen allerdings kräftig mit, dass die Deregulierungsschritte der EU übereifrig nachvollzogen oder sogar in vorauseilendem Gehorsam vorvollzogen wurden (Swisslex). Man setzte sich auch dafür ein, dass das Schweizer Recht wo immer möglich automatisch an das EU-Recht angeglichen wird. Eine interessante Episode: nachdem die Schweiz ein “modernes” Kartellgesetz hatte, das die Sozialdemokratie unter konsumentenschützerischen Gesichtspunkten begrüsste, ging man dann in Freiburg auf die Strasse, um gegen die Schliessung der Bierbrauerei zu protestieren. Dabei war der Schliessungsversuch eine unmittelbare Folge der neuen Kartellgesetzgebung.

Propagandamaschine

Denkwürdig war die EWR-Abstimmung unter anderem wegen der Propaganda-Maschine, welche die Politoberschichten, die Wirtschaft und die Presse in Gang setzten. Dabei wurde versucht, mit Hilfe der Sozialdemokratie die links-demokratische Opposition systematisch in die rechte Ecke abzudrängen. Es war eindrücklich, eine Prapagandaschlacht mitzuerleben und zu erleiden, bei der es den dominanten Schichten wirklich um die Wurst ging. Nach dem Nein herrschte in weiten Kreisen eine Art Weltuntergangsstimmung. Erschreckend war, wie die links-demokratische Opposition unter diesem Druck reagierte. Die meisten hielten nicht Stand und liefen in Scharen ins Pro-Lager über. Dies bedeutete insgesamt ein Waterloo für die links-demokratischen Kräfte in der Schweiz, von dem sich diese nota bene noch nicht erholt haben.

Grünes Trauerspiel

Die Grüne Partei bekämpfte den EWR mit wenigen Ausnahmen nur halbmütig. Deswegen wurde unter anderem das Forum für direkte Demokratie gegründet. Eine Woche nach der Abstimmung - in der bereits beschriebenen Weltuntergangsstimmung - kippten dann auch die Grünen ins Pro-Lager um. Nach gewonnener Abstimmung überliessen sie es dem rechtsbürgerlichen Lager, das politische Kapital aus der EWR-Abstimmung für sich fruchtbar zu machen. Sie krochen reumütig ins Lager der antidemokratischen, neoliberalen Globalisierer.

Ende der Sozialdemokratie

Der EWR markierte ein weitgehendes Ende der Sozialdemokratie als sozialer und demokratischer Partei. Ohne Notwendigkeit hatte sich die Sozialdemokratie schon früh für den EU-Beitritt ausgesprochen. Eine eigentliche Debatte fand dabei nicht statt. Diese wurde dann durch die bald entstehende Anti-Blocher-Dynamik überflüssig. Mit Hilfe der EU-Frage konnte die SPS ihre Wählerbasis „reformieren“. Sie wurde von einer Arbeiter- und Angestelltenpartei zur „Arbeitnehmerpartei“ der mobilen Mittelschichten, mittleren Kader und Staatsangestellten. Entsprechend wurde künftig eine grundsätzlich neoliberale Politik verfolgt – ausser im Falle der Betroffenheit der eigenen Klientel. Darin unterschied sich die sozialdemokratische Politik – abgesehen von ein Paar Themen, die einer genaueren Analyse bedürften – nicht mehr von der Marschrichtung der anderen bürgerlichen Parteien.

Während der Wandel von einer sozialdemokratischen Partei zur neoliberalen Partei faktisch Ende der 80er Jahre erfolgte, setzte er sich ideologisch über mehrere Stufen durch. Zuerst wurde jeweils die Notwendigkeit einer Regulierung auf höherer Ebene bemüht – unter Negierung der faktischen Zustände in der EU, die ja das Deregulierungs-Projekt per excellence darstellte (Binnenmarkt, der mit Hilfe einer Koalition des Sozialdemokraten Jacques Delors (EU-Kommission) mit den EU-Multis durchgedrückt wurde). Für Wähler, die aus direkt-demokratischer Sicht Bedenken äusserten, hielt die SP das Projekt des konstruktiven Referendums bereit. Als es dann weitherum bekannt wurde, dass die EU ein Deregulierungsprojekt war und ist, liess man die Perspektive einer sozialdemokratischen Mehrheit in der EU aufleuchten, welche die Stossrichtung der EU verändern würde. Nachdem diese sozialdemokratische Mehrheit Ende der 90er Jahr erreicht wurde und sie die neoliberale Politik der EU knallhart weiterführte (in diese Zeit fielen etwa die üblen Machenschaften der EU-Kommission für die Durchsetzung des MIA1)), findet man es nicht mehr nötig, den EU-Beitrittskurs irgendwie zu rechtfertigen. Jetzt ist man einfach dafür. Die Demokratiefrage ist für die SP nach der Ablehnung des konstruktiven Referendums vollends aus den Traktanden gefallen. Als einer der wenigen Sozialdemokraten, die sich zum Thema noch inhaltlich äussern, pflegt etwa Peter Bodenmann einen Diskurs, der inhaltlich von dem eines Walter Wittman oder Silvio Borner – neo-liberale Propheten der erste Generation - nicht mehr zu unterscheiden ist. Heute tritt er für den EU-Beitritt ein, um die Deregulierung der Schweiz voranzutreiben – zwecks Wachstumsförderung (Zehn Jahre danach: Die bittere Pille; Weltwoche, 23.Mai 02 (No 21), 70. Jahrgang (S. 15). In diesem Artikel beklagt Peter Bodenmann u.a. auch das Fehlen von wehenden EU-Fahnen an der Expo).

Die heutige Lage zeigt, dass das Nein zum EWR kein Debakel für die Schweiz darstellte. Die obige Darlegung zeigt aber, dass die Entwicklungen anlässlich dieser Abstimmung ein Riesendebakel für die links-demokratischen Kräfte in der Schweiz darstellten. Diese wurden gleichsam weggefegt. Moralisieren hilft hier allerdings wenig. Es ginge darum, die gesellschaftlichen Entwicklungen dahinter zu analysieren. Der EWR war nur der Katalysator, der zu einer schnelleren Anpassung der Politlandschaft an die realen Bedingungen führte. Wir erlebten in den 80er Jahren eine Vermittelständigung der Schweiz. Dies hängt einerseits mit der Stärkung des Dienstleistungssektors zu lasten der anderen Wirtschaftssektoren zusammen. Zudem füllten ausländische Arbeitskräfte „von unten“ her die „nach oben“ aufgerutschten schweizerischen Arbeitskraftbestände auf. Sie hatten aber kein Stimmrecht. Entsprechend war es für die Sozialdemokratie elektoral nicht mehr interessant, für die „unteren“ Schichten zu politisieren. Man musste sich nach neuen Wählersegmenten umsehen.

Nein – totz allem eine gute Sache

Die weitere politische Entwicklung nach dem EWR war nicht erfreulich. Das Nein wurde als politisches Kapital der SVP überlassen. Die SVP konnte damit ihren elektoralen Siegeszug in den 90er Jahren antreten. Dies ist allerdings nicht dem EWR-Nein als solchem zuzuschreiben, sondern der Positionierung der Grünen. Der umweltpolitische Vorsprung der Schweiz konnte nach dem EWR-Nein nicht, wie erhofft, erhalten oder ausgebaut werden. Die entsprechende Elan in der Schweiz war endgültig gebrochen und die Wirtschaft nutzte die Gunst der Stunde, um das schweizerische Niveau möglichst dem EU-Niveau anzugleichen. Trotzdem war das Nein ein gute Sache:

- Das direktdemokratische Experiment Schweiz konnte am Leben erhalten werden. Die Schweiz ist ja leider immer noch der einzige Staat, der auf der höchsten Ebene eine weitgehende direkte Demokratie kennt. Für die direktdemokratischen Kräfte in Europa ist es wichtig, dass es in ihrer Nähe eine realexistierende direkte Demokratie gibt.

- Das Nein verhinderte, dass die Schweiz der EU beitrat oder während Jahrzehnten in quasikolonialen Zuständen leben musste. Damit wurde vermieden, dass die Schweiz das westeuropäische Grossmachtprojekt stärkt. Sie ist mit Norwegen sichtbares Zeichen dafür, dass in Europa ein friedliches Leben ausserhalb der EU möglich ist. Dies ist vor allem im Falle künftiger Krisen der EU wichtig. Gravierende Wirtschaftskrisen sind angesichts der Zwänge der Einheitswährung in Euroland sehr wahrscheinlich.

- Schliesslich kann die Schweiz im Falle eines Widererstarkens des Umweltgedankens oder einer Abschwächung der neoliberalen Dampfwalze ihren Spielraum freier nutzen und sinnvolle Lösungen im ökologischen und sozialen Bereich erproben und vorschlagen – zum Nutzen der EU, Europas und der übrigen Welt.

1) Multinational Investment Agreement, siehe zur Rolle der EU-Kommission, Balanyá, Doherty, Hoedeman, Ma’anit, Wesselius, Konzern Europa: Die unkontrollierte Macht der Unternehmen, Zürich, Rotpunktverlag, 2001

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