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Der russische Angriff auf die Ukraine

Der nicht zu rechtfertigende russische Angriff auf die Ukraine hat nicht nur die verbliebene Opposition in Russland geschwächt und damit eine Wiederbelebung der Demokratie dort aufs erste verunmöglicht, sondern droht auch im restlichen Europa die Demokratie zu schwächen. Nach der massiven Mobilisierung und Militarisierung der ukrainischen Bevölkerung gegen die Besatzer wird der Übergang zur Nachkriegszeit bezüglich Demokratie kein Kinderspiel werden. Die wirtschaftlichen Bedingungen werden katastrophal sein. Ein allfälliger EU-Beitritt wird der konkurrenzschwachen Wirtschaft erheblich schaden. In der EU droht ein weiterer Zentralisierungsschub bezüglich Militarisierung – mit einem entsprechenden Verlust an demokratischer Kontrolle in den Mitgliedstaaten. In der Schweiz gerät die Demokratie unter dem Eindruck der Energieknappheit ebenfalls unter Druck. Die Parlamentarier setzen sich an Stelle der Verfassung und legiferieren ohne Beachtung der Gewaltentrennung und völlig überhastet vor sich hin – zu Lasten der Umwelt und einer sinnvollen Entwicklung der Energieversorgung.

von Paul Ruppen

Rechtes und Linkes Verständnis für den russischen Angriff

Es gibt zur politischen linken und rechten Verständnis für den russischen Angriff auf die Ukraine. Dies ist ziemlich unverständlich, ermöglicht es aber, sich den entsprechenden Argumenten zu stellen. Diesbezüglich sind ein paar Fakten nützlich. Ein Argument, das häufig auftaucht, sind mündliche Versprechen von Vertretern des Westens, die Nato nach dem Zusammenschluss der beiden Deutschland nicht weiter nach Osten auszudehnen. Diesbezüglich ist festzuhalten, dass es sich um mündliche Äusserungen von einzelnen Vertretern handelte und die Sowjetunion damals nicht auf eine entsprechende vertragliche Absicherung bestand. In der «Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation» vom 27. Mai 1997 [1] wurde vielmehr vereinbart:

«Die Mitgliedstaaten der NATO wiederholen, dass sie nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlass haben, nukleare Waffen im Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren, noch die Notwendigkeit sehen, das Nukleardispositiv oder die Nuklearpolitik der NATO in irgendeinem Punkt zu verändern – und dazu auch in Zukunft keinerlei Notwendigkeit sehen. Dies schliesst die Tatsache ein, dass die NATO entschieden hat, sie habe nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlass, nukleare Waffenlager im Hoheitsgebiet dieser Mitgliedstaaten einzurichten, sei es durch den Bau neuer oder die Anpassung bestehender Nuklearlagerstätten.»

Damit anerkennt die Russische Föderation explizit die Möglichkeit der Aufnahme von neuen Staaten in die NATO. Darüber, dass die NATO die Versprechen bezüglich Nuklearwaffen nicht eingehalten hätte, ist nichts bekannt.

Putin selber hatte lange nichts gegen die Aufnahme von mittel- und osteuropäischen Staaten in die NATO. In einem BBC-Interview von 2003 meinte er vier Jahre nach der Aufnahme von Polen, Ungarn und Tschechien in die NATO:

«Wir sind zufrieden damit, wie sich unsere Beziehungen zur NATO entwickeln. Und wir denken, dass dies ein wichtiges Element im System der modernen internationalen Sicherheit ist.»[2]

Auf einer Pressekonferenz am 2. April 2004, drei Tage nach dem Beitritt der Balten, meinte Putin, dass sich die Beziehungen Russlands zur Nato "positiv entwickeln". Und er fuhr fort:

"Hinsichtlich der Nato-Erweiterung haben wir keine Sorgen mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation."

Als der Nato-Generalsekretär wenig später nach Moskau kam, sagte Putin, jedes Land habe "das Recht, seine eigene Form der Sicherheit zu wählen. [3] Es wurden also keineswegs gebrochene Versprechen moniert oder eine Gefährdung Russlands behauptet.

Der Wunsch, der NATO beizutreten ging von den mittel- und osteuropäischen Ländern aus. Russische Militäraktionen – der Erste Tschetschenienkrieg (1994–1996), der Transnistrienkrieg (seit 1990) und der Krieg in Abchasien (1992/1993) – veranlassten die mittel- und osteuropäischen Länder angesichts der eigenen Erfahrungen mit der Sowjetunion auf einen NATO-Beitritt zu drängen, um ihre langfristige Sicherheit zu gewährleisten. Politische Parteien, die eine NATO-Mitgliedschaft ablehnten, wurden abgewählt, z.B. die Bulgarische Sozialistische Partei im Jahr 1996 und die slowakische HZDS im Jahre 1998. In einem Referendum sprachen sich 1997 85,3 % der Ungarn für eine NATO-Mitgliedschaft ihres Landes aus. Besonders die drei baltischen Staaten trieben in der Folge ihre NATO-Ambitionen mit aller Kraft voran. Sie gingen davon aus, dass die historische Gelegenheit für einen Beitritt schnell vorbei sein könnte. Dabei mussten auch auf westlicher Seite etliche Vorbehalte ausgeräumt werden. Auf dem Gipfeltreffen in Prag im November 2002 lud die NATO dann die Länder Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien zu Beitrittsgesprächen ein. Auf dem Istanbuler Gipfel im März 2004 traten diese sieben Länder der NATO bei, Slowenien hatte im Vorjahr ein Referendum über den Beitritt zur NATO abgehalten, bei dem 66 % die Mitgliedschaft befürworteten. Die Osterweiterung der NATO ist also nicht als expansionistisch-imperialistisches Gebaren zu betrachten, sondern eher als eine Schutzreaktion der mittel- und osteuropäischen Länder auf dem Hintergrund vergangener Erfahrungen mit der Sowjetunion und der militärischen Innen- und Aussenpolitik der Russischen Föderation zu betrachten.

In der oben erwähnten 1997-Grundakte garantierte die Russische Föderation die Territoriale Integrität der Staaten. Unterschrieben wurde explizit:

• Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat, seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit in einer Weise, die mit der Charta der Vereinten Nationen oder der in der Schlussakte von Helsinki enthaltenen Erklärung über die Prinzipien, die die Beziehungen der Teilnehmerstaaten leiten, unvereinbar ist;

• Achtung der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit aller Staaten sowie ihres naturgegebenen Rechtes, die Mittel zur Gewährleistung ihrer eigenen Sicherheit sowie der Unverletzlichkeit von Grenzen und des Selbstbestimmungsrechts der Völker, wie es in der Schlussakte von Helsinki und anderen OSZE-Dokumenten verankert ist, selbst zu wählen;

Durch den Angriff auf die Ukraine hat Russland damit also nicht nur gegen die Charta der Vereinten Nationen verstossen[4], sondern auch gegen die Abmachungen der Grundakte – wie weiterer Abkommen wie dem Budapester Memorandum, indem der Ukraine um Gegenzug zur Übergabe der Atomwaffen aus der Sowjetzeit durch die Russische Föderation die territorial Integrität zugestanden wurde, nämlich:

«Die Russische Föderation, das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland und die Vereinigten Staaten von Amerika bekräftigen ihre Verpflichtung gegenüber der Ukraine, in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der KSZE-Schlußakte die Unabhängigkeit und Souveränität sowie die bestehenden Grenzen der Ukraine zu achten. Die Russische Föderation, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland und die Vereinigten Staaten von Amerika bekräftigen ihre Verpflichtung, sich der Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit der Ukraine zu enthalten, und daß keine ihrer Waffen jemals gegen die Ukraine eingesetzt wird, es sei denn zur Selbstverteidigung oder auf andere Weise im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen.»[5]

Als in den Nuller-Jahren die Aufnahme der Ukraine auf der Traktandenliste der NATO stand, wehrte sich Russland gegen eine Aufnahme der Ukraine, da Russland z.B. nicht auf seinen Stützpunkt der Schwarzmeerflotte auf der Krim verzichten wollte. Der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko versuchte im Februar 2005, mit der NATO einen Aktionsplan zu vereinbaren, der zur Mitgliedschaft der Ukraine führen sollte. Der Antrag wurde aber nur von einer Minderheit der Bevölkerung unterstützt, es kam zu Protestdemonstrationen und das Parlament der Ukraine beschloss, dass ein Beitrittsgesuch ein landesweites Referendum voraussetze. Auch Russland reagierte mit Warnungen und Drohungen. Im April 2008 lehnte ein NATO-Gipfel den Antrag der Ukraine auf Mitgliedschaft ab, obwohl die USA ihn unterstützte. Erst nach der völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland im März 2014 beschloss die NATO, ihre Kontakte mit der Ukraine zu intensivieren, die Beziehungen zu Moskau einzufrieren (NATO-Russland-Rat) und geplante gemeinsame Aktionen mit den russischen Streitkräften auszusetzen. Im August 2014 kündigte Regierungschef Arsenij Jazenjuk eine Wiederaufnahme des NATO-Kurses an. Der erneute Kurs der Ukraine auf die NATO erfolgte also nach dem Angriff Russlands auf die Krim und die Ostukraine.

Im März 2018 erkennt die NATO offiziell an, dass die Ukraine eine NATO-Mitgliedschaft anstrebt. Georgien und Bosnien-Herzegowina genießen einen ähnlichen Status.

„Die Tür der NATO steht jedem europäischen Land offen, das in der Lage ist, das Engagement und die Verpflichtungen der Mitgliedschaft zu erfüllen und zur Sicherheit im euro-atlantischen Raum beizutragen“,

sagte die Allianz in einer Erklärung vom 9. März. Am 30. September 2022 reicht die Ukraine dann einen Antrag zur beschleunigten Mitgliedschaft bei der NATO ein.

Von Leuten, die Verständnis für die russische Aggression äussern, wird oft darauf hingewiesen, dass die USA es nicht dulden würden, dass ein US-kritisches Militärbündnis z.B. Mexiko aufnehmen würde. Diese Argumentation setzt voraus, dass die Grossmächte ein Anrecht auf einen Vorhof haben, dessen Länder keine Recht auf Selbstbestimmung haben. Ein solcher Anspruch ist bezüglich aller Grossmächte zu kritisieren, und er ist völkerrechtlich nicht haltbar.

Fehler des Westens

Die obigen Ausführungen sollten nicht suggerieren, dass der Westen keine Fehler macht oder gemacht hat. Im zweite Irakkrieg haben die USA, Grossbritannien und die «Koalition der Willigen» unter der Führung der beiden Natomitglieder vorgeführt, wie man Kriege durch Lügen «rechtfertigt». Sie lieferten dadurch der russischen Regierung die Blaupause für ihr kriegsverbrecherisches Vorgehen: die USA und Großbritannien erhielten kein explizites Mandat vom Sicherheitsrat zum militärischen Angriff und bezüglich der angeblichen Massenvernichtungswaffen des Iraks wurde hemmungslos gelogen. Der zweite Irakkrieg ist daher ein klarer Bruch des Verbots von Angriffskriegen in der UN-Charta und somit als völkerrechtswidrig zu bezeichnen. Die USA und Großbritannien verhinderten mit ihrem Vetorecht, dass der UN-Sicherheitsrat den Irakkrieg verurteilte. Sie zeigten also den Russen, wie es geht …. Der US-Präsident Bush wurde nie wegen Kriegsverbrechen vor ein entsprechendes Tribunal gezogen.

Ein weiteres Beispiel ist der Einsatz der NATO selbst in der Operation Allied, einer militärischen Operation der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, die sie während des Kosovokrieges vom 24. März bis 10. Juni 1999 durchführte. Die im Wesentlichen von den Vereinigten Staaten geführte Militäroperation war der erste Krieg, den die NATO sowohl außerhalb eines Bündnisfalls, dessen Ausrufung bis dahin als Grundlage eines NATO-weiten Vorgehens galt, als auch ohne ausdrückliches UN-Mandat führte. Anlass für den Angriff der NATO war die Nichtunterzeichnung des Vertrags von Rambouillet durch den serbischen Präsidenten Slobodan Milošević. Offizielles Hauptziel der NATO war, die Regierung Slobodan Miloševićs zum Rückzug der Armee aus dem Kosovo zu zwingen und so weitere serbische Menschenrechtsverletzungen, wie das zuvor verübte Massaker von Račak, zukünftig zu verhindern. Offizielles Ziel Jugoslawiens war der Schutz der serbischen Minderheit im Kosovo und die Abwehr der Einmischung in die inneren Angelegenheiten des eigenen, souveränen Staates. Das mehrheitlich von albanisch-sprachiger Bevölkerung bewohnte Gebiet des Kosovo war eine Provinz Serbiens innerhalb der Bundesrepublik Jugoslawien.

Es ist offensichtlich, dass der Angriff der NATO völkerrechtswidrig war. Auch die unbestrittenen Menschenrechtsverletzungen Serbiens im Kosovo ändern an dieser Tatsache nichts, da der Schutz von Minderheiten in eigenständigen Staaten völkerrechtlich nicht als UNO-sanktionierter Kriegsgrund gilt. Auch mit diesem Krieg hat die NATO Russland eine Blaupause geliefert: Russland rechtfertigt ja den Angriffskrieg auf die Ukraine mit angeblichen Menschenrechtsverletzungen gegenüber russischsprachigen Ukrainern. Der NATO-Einsatz zeigte zudem, dass die NATO nicht unbedingt ein reines Selbstverteidigungsbündnis ist, wie das oft behauptet wird. Weder die NATO-Staaten selbst noch die NATO als solche schreckt offenbar nicht vor völkerrechtswidrigen Aktionen zurück. Wenn man dem Westen Heuchelei vorwirft, ist das berechtigt – was aber natürlich in keiner Weise den kriegsverbrecherischen Krieg Russlands gegen die Ukraine rechtfertigt.

Man mag den fehlenden Minderheitenschutz auf Grund des Nicht-Einmischungsprinzips bedauern. Zu lösen ist das Problem nur durch eine völkerrechtliche Regelung von Sezessions- oder Autonomiebestrebungen mit der Formalisierung entsprechender demokratischer und gewaltloser Vorgehensweisen. [6] Dabei wäre eine solche Regelung zentral, um Bürgerkriege und ausländische Interventionen zu vermeiden und damit den Zielen der UNO-Charta, nämlich einer dauerhaften Friedensordnung, näher zu kommen. Bezüglich der Einführung einer solchen Regulierung darf man sich aber wohl keine Illusionen machen. Sie würde auch von manchen NATO-Staaten auf schärfste bekämpft werden (z.B. Spanien). Von der überwältigenden Mehrheit der Staaten ist diesbezüglich auf absehbare Zeit wenig zu erwarten. Damit erweist sich aber der Einsatz der NATO als nicht regelbasiert: man interveniert, wenn es einem passt – was vermutlich der Fall ist, wenn man eigene Interessen durchsetzen will.

Die NATO selber ist allerdings auch keine «Wertegemeinschaft», die sich an Demokratie und Menschenrechten ausrichtete. Die Türkei ist Mitglied der NATO, ist aber von der Art des Regimes her wohl näher bei Putins Russland als bei Demokratien, die diesen Namen verdienen. Die Türkei unternimmt regelmässig völkerrechtswidrige militärische Angriff auf syrisches und irakisches Gebiet, was von der NATO geduldet wird. Der Wunsch Finnlands und Schwedens, Teil der NATO zu werden, ermöglicht es dem menschenrechts- und minderheitsfeindlichen türkischen Regime, diese Staaten in Bezug auf ihr Asylwesen zu erpressen.

Imperialistischer Nationalismus als Kriegsgrund

Die Fehler des Westens liegen also nicht in der NATO-Osterweiterung, sondern wohl eher in den Blaupausen, die er der putinschen Staatsmaschine lieferte. Putin warf später der NATO durchaus die Osterweiterung vor, die er vorher unproblematisch fand. Sein entsprechender Gesinnungswandel kann vermutlich durch zwei Phänomene erklärt werden.

1) die angestrebte Erweiterung der Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG) um die Ukraine. [7] Durch das geplante Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union drohte diese Erweiterung zu scheitern. Nach russischem Druck verzichtete die ukrainische Regierung auf die Unterzeichnung des Abkommens mit der EU, worauf es zu den Maidan-Ereignissen kam[8], die zum Sturz der russlandfreundlichen Regierung führten.

Bezüglich des Abkommens mit der EU gab es in der Ukraine durchaus verschiedene Meinungen. Vor allem in der Ost-Ukraine wurde die Begeisterung für diesen Abkommen nicht mehrheitlich geteilt. Altkanzler Helmut Schmidt bezeichnete in einem Interview im Mai 2014 die Politik der EU als unfähig und größenwahnsinnig. Brüssel hätte die Ukraine vor die „scheinbare Wahl“ gestellt, sich zwischen West und Ost entscheiden zu müssen. EU-Politiker hätten sich als „blind für die innenpolitischen Spannungen zwischen der Ost- und der Westukraine“ erwiesen. Altkanzler Helmut Kohl äußerte am 12. März 2013 gegenüber Bild, die Aufbruchstimmung in der Ukraine sei nicht immer klug begleitet worden. Ebenso habe es an Sensibilität im Umgang mit den russischen Nachbarn gemangelt, insbesondere mit Präsident Putin. Wie bekannt, erfolgt nach dem Sturz der russlandfreundlichen Regierung die russische Invasion in die Krim und in Teile der Ostukraine.

2) Putin und sein Umfeld entwickelten eine zunehmend nationalistisch-imperialistische Ideologie. Aufschlussreich ist diesbezüglich der bekannte Text von Putin, indem er der Ukraine die Eigenstaatlichkeit abspricht. Diese wird als künstliches Gebilde dargestellt, das nur durch die Willkür der Kommunisten entstanden sei. Es wird also eine Art «Heim-ins-Reich»-Ideologie entwickelt. s. Wladimir Putin „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“, Offizielle englische Version: http://en.kremlin.ru/events/president/news/66181, Deutsche Übersetzung in https://grams-it.com/cms/blog/putins-manifest-ueber-die-historische-einheit-von-russen-und-ukrainern, Essay von Wladimir Putin, veröffentlicht am 12. Juli 2021.

Seltsame Reaktionen im «Westen»

Im Westen führte der russische Angriffskrieg teilweise zu seltsamen Blüten. Die EU verbot die russischen Propaganda-Sender. Dies zeigt deutlich, welches Bild der EU-Bürgerinnen und Bürger man in den EU-Gremien pflegt. Die EU-Bevölkerung muss man vor Propaganda schützen, als ob diese nicht mündig genug wären, diese als solche zu durchschauen. Zur selben Zeit ahmt man durch solche Verbote totalitäre Tendenzen in Russland nach. In der Schweiz wurde das Verbot von russischen Sendern durch die Mitte-Bundesrätin Amherd vertreten – in der Tat glänzte die Mitte in letzter Zeit nicht durch demokratische Einstellung – wurde etwa vom Parteipräsident Pfister bezüglich der Weitergabe von Munition schon wieder Notrecht gefordert. Manche Boykotte russischer Kultur waren sichtlich absurd, da sie z.B. Personen und Kulturprojekte betrafen, welche sich vom Angriffskrieg distanziert hatten. Manche EU-Staaten verwehren russischen «Wehr»-flüchtlingen die Einreise, weil diese sich in Russland gegen den Krieg wehren sollten. Gewiss hat eine Bevölkerung eine gewisse Verantwortung für ihre Regierung und deren Handlungen. Diese Verantwortung ist aber in der Gesellschaft sehr ungleich verteilt und die meisten 20-jährige Russen können kaum viel für das Erstarken des Putinismus in Russland. Sie sind eher selbst als Opfer zu betrachten. Es ist verfehlt, von Menschen einen Heroismus verlangen, der sie in russische Gefängnisse führt, einen Heroismus, für den sie sich nur selbst entscheiden können.

In der Schweiz wurde von manchen Vertretern der FdP und der Mitte eine Neuausrichtung der Neutralität gefordert. FdP-Bundesrat Ignatio Cassis schlug das Konzept der «kooperativen Neutralität» vor. Der Namensgebung ist allerdings nicht instruktiv: mit welchen Kräften kooperiert der kooperativ-neutrale Staat? Eine Neutralitätspolitik, die sich mehr am Völkerrecht und an den Menschenrechten orientierte als bisher – und entsprechend weniger an wirtschaftlichen Interessen – wäre wünschenswert. Sie müsste aber konsequent auch bei Völkerrechtsbrüchen des Westens reagieren. Darauf wären die Mitte- und FdP-Vertreter dann wohl weniger scharf. Pressionen, denen die Schweiz wegen des Weitergabe-Verbots von an Deutschland verkaufter Munition ausgesetzt war, liessen sich künftig leicht vermeiden: durch ein allgemeines Waffenausfuhrverbot.

Literatur

Urs Gehriger, Sorry, Roger Köppel, du liegst falsch, Weltwoche 3. 3. 2022, https://weltwoche.ch/story/sorry-roger-du-liegst-falsch/

Jean-Arnaul Dérens, Das biegsame Recht auf Unabhängigkeit: Was der Donbass mit dem Kosovo und Katalonien zu tun hat. Le Monde diplomatique, September 2022, S. 20 https://monde-diplomatique.de/artikel/!5878498

Pierre Rimbert, Kiews falsche Freunde: Einbindung der Ukraine durch das EU-Projekt «Östliche Partnerschaft». Le Monde diplomatique, Oktober 2022, S. 4 https://monde-diplomatique.de/artikel/!5884800

Serge Halimi, Atlantiker, Blockfreie und Antiimperialisten: Die Fraktionen der internationalen Linken und Putins Krieg, Le Monde Diplomatique, November 2022, S. 10

Benjamin Abelow, Wie der Westen den Krieg in die Ukraine brachte: Die Rolle der USA und der NATO im Ukraine-Konflikt, Die Weltwoche (Spezialausgabe, 27.Oktober 2011).

https://www.infosperber.ch Stichwort Ukraine

Für historische Details wurden oft Wikipedia-Artikel verwendet.

Anmerkungen

[1] https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_25468.htm?selectedLocale=de

[2] Übersetzung der englischen Fassung auf der offiziellen Homepage des Kremls: http://en.kremlin.ru/events/president/transcripts/22031.

[3] https://www.zeit.de/2022/09/wladimir-putin-russland-westen-geschichte-fernsehansprache, von der Zeit werden allerdings keine Quellen angegeben

[4] diese legt in Artikel 2 Nr. 4 fest «Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.»

[5] https://treaties.un.org/doc/Publication/UNTS/Volume%203007/Part/volume-3007-I-52241.pdf).

[6] s. Nationalismus, Separatismus und Demokratie, https://europa-magazin.ch/.3bb68cf7/cmd.14/audience.D

[7] 7 Die EAWG ist ein wirtschaftspolitisches Bündnis europäischer und asiatischer Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Die Mitgliedstaaten verpflichteten sich zum Abbau von Handelshemmnissen und Zöllen sowie zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit untereinander. Mit dem Inkrafttreten des Vertrages zur Eurasischen Wirtschaftsunion am 1. Januar 2015 hörte die EAWG auf zu existieren.

[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Euromaidan


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