Übersicht Dossiers Europäische Union EU-Länder Griechenland - Kein Licht am Ende des TunnelsRekord-Arbeitslosigkeit und Massenverarmung überschatten den gestrigen Besuch des griechischen Ministerpräsidenten Antonis Samaras in Berlin. Während Bundeskanzlerin Angela Merkel dem Land bescheinigt, eine positive Entwicklung genommen zu haben, bleibt die soziale Situation dort verheerend. Die maßgeblich von der Bundesregierung oktroyierte Austeritätspolitik hat zu einer Arbeitslosen-Quote von 27,8 Prozent geführt. Zudem gehen die Realeinkommen massiv zurück. In der Folge beschränken sich die Ausgaben der Griechen auf das Lebensnotwendigste. Sogar auf das Heizen verzichten immer mehr Haushalte. Auch haben viele Menschen nach wie vor keinen regulären Zugang zu Gesundheitsleistungen. Überdies hat der Sparkurs die soziale Spaltung in Griechenland massiv verschärft. Auf einem von der Bertelsmann-Stiftung erstellten "Gerechtigkeitsindex" belegt die Nation den 28. und damit letzten Platz unter den EU-Staaten.
www.german-foreign-policy.com
27,8 Prozent Arbeitslosigkeit
"Es ist sehr erfreulich, dass es in Griechenland doch recht positive Signale gibt", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel gestern bei ihrem Treffen mit dem griechischen Ministerpräsidenten Antonis Samaras. "Licht am Ende des Tunnels" wollen inzwischen auch andere wahrgenommen haben, unter anderem die "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP).[1] Vor Ort zeigt sich allerdings ein anderes Bild. Der von der Bundesregierung maßgeblich bestimmte und von der Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF exekutierte Austeritätskurs führt zu immer größeren sozialen Problemen. "Die Arbeitslosigkeit ist zwischen 2010 und 2013 dramatisch gestiegen", muss selbst die bundeseigene Außenwirtschaftsagentur "Germany Trade and Invest" (gtai) konstatieren.[2] Belief sich die Quote 2010 noch auf 12,7 Prozent, so betrug sie 2013 schon 27,5 Prozent, und im ersten Quartal 2014 erhöhte sie sich nochmals auf den Rekordwert von 27,8 Prozent. Allein im Staatssektor fielen der Sparpolitik bisher rund 370.000 Stellen zum Opfer. Sogar der IWF räumt inzwischen ein, eine solche Entwicklung nicht vorhergesehen zu haben.[3]
Massive Lohnsenkungen
Parallel dazu sanken die Durchschnittsentgelte. Seit 2010 mussten die Arbeitnehmer Lohn-Einbußen von fast 19 Prozent hinnehmen. Den höchsten Rückgang gab es 2013 mit einem Minus von 7,4 Prozent. Den Mindestlohn kürzte die griechische Regierung auf Drängen der Troika sogar um 22 Prozent auf nunmehr 586 Euro. Bei den Einschnitten setzte sie sich auch über tarifliche Vereinbarungen wie Regelungen über Zulagen oder Gehaltserhöhungen hinweg. Insgesamt ist auf dem Arbeitsmarkt eine zunehmende Prekarisierung zu beobachten. Die Zahl der Scheinselbstständigen und der Teilzeit-Verträge wächst, zudem blüht die Schattenwirtschaft. Im Mai 2014 umfasste die Schwarzarbeit fast ein Viertel aller Beschäftigungsverhältnisse.
Winter ohne Heizung
Die Einführung eines Solidaritätszuschlags, die Reduzierung der Freibeträge und andere steuerliche Maßnahmen sorgten für eine zusätzliche Verminderung der verfügbaren Einkommen. Nach den Zahlen des griechischen Statistik-Amtes Elstat hatten die Haushalte 2013 fast ein Drittel weniger Geld zur Disposition als 2008.[4] 2012 waren das im Durchschnitt 17.977 Euro. Infolgedessen müssen die Familien sich immer mehr Einschränkungen auferlegen. 2013 gaben sie im Mittel 1.509,39 Euro im Monat aus - 7,8 Prozent weniger als 2012. Ihr Etat reicht oftmals nur für das Notwendigste - Lebensmittel und Aufwendungen für die Gesundheit - und immer öfter nicht einmal dafür. So heizen viele Griechen im Winter nicht mehr: Elstat zufolge ging die Zahl der Zentralheizungsnutzer im Jahr 2013 um 31,3 Prozent zurück.
Krankheiten breiten sich aus
Auch die Gesundheitsversorgung bleibt problematisch. Die von der Troika verlangten Einsparungen auf diesem Sektor haben unter anderem zur Schließung von Kliniken sowie zur Entlassung von Ärzten und Krankenpflegern geführt. Den verbliebenen Hospitälern fehlt es oft an Arzneien. "In einigen Gegenden wird keine Chemo-Therapie mehr durchgeführt, weil die Medikamente entweder nicht vorhanden oder zu teuer sind", berichtet Heinz-Jochen Zenker von "Ärzte der Welt".[5] Den Patienten bürdeten die Regelungen eine höhere Beteiligung an den Arzneimittel-Kosten auf. Von den elf Millionen Menschen in Griechenland stehen drei Millionen nach Angaben von "Ärzte der Welt" infolge ihrer Arbeitslosigkeit ganz ohne Krankenversicherung dar. Sie haben so keinen regulären Zugang zu medizinischen Leistungen mehr und sind auf Hilfsangebote angewiesen. Durch diese Entwicklung haben sich die epidemiologischen Daten in dem Land deutlich verschlechtert. Die Kindersterblichkeit steigt, und Krankheiten wie AIDS, Malaria und Tuberkulose finden eine größere Verbreitung.[6]
Soziale Spaltung nimmt zu
Überdies haben die Maßnahmen die Bevölkerung in unterschiedlicher Weise getroffen. Während der Multi-Milliardär Spiros Latsis seine EFG Eurobank mit Mitteln aus dem Euro-Rettungsschirm sanieren und mit seiner Firma Lamda Immobilien zum Schnäppchenpreis mieten konnte, rutschte ein großer Teil der Griechen in die Armut ab. Die "komplette Zerstörung der Mittelklasse" macht die Zeitung Kathimerini aus.[7] Eine jüngst veröffentlichte Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung über soziale Gerechtigkeit in der EU bestätigt diesen Befund.[8] Der Studie zufolge weist kein europäisches Land eine so gravierende gesellschaftliche Spaltung auf wie Griechenland. Auf dem Gerechtigkeitsindex der Stiftung belegt der Staat deshalb den 28. und letzten Platz. "Die Ergebnisse des Ländervergleichs ... legen die Schlussfolgerung nahe, dass die harte Sparpolitik im Zuge der Krise und die strukturellen Reformen zur wirtschafts- und haushaltspolitischen Stabilisierung negative Auswirkungen auf das jeweilige Maß sozialer Gerechtigkeit in den meisten Staaten hatten. Vor allem in den Krisen-Staaten ist es nicht gelungen, die Einschnitte sozial gerecht zu verteilen", resümieren die Autoren.
Vor dem nächsten Troika-Besuch
Trotz all dieser negativen Auswirkungen des Spardiktats stehen noch einige Punkte des, wie die gtai es formuliert, "finanzwirtschaftlichen Anpassungsprogramms" wie Renten-Kürzungen, eine Veränderung des Streikrechts und die Erleichterung von Entlassungen zur Umsetzung an. Eine Realisierung dieser Vorgaben würde dem derzeitigen Regierungsbündnis jedoch noch mehr Rückhalt nehmen und Neuwahlen im Februar 2015 wahrscheinlicher machen. Der Besuch von Samaras kurz vor dem Eintreffen der Troika in Athen hatte deshalb auch den Zweck, die deutsche Bundeskanzlerin dafür zu gewinnen, mäßigend auf das Gremium einzuwirken, um sein politisches Überleben zu sichern. Ob Berlin bereit ist, für eine loyale Regierung Zugeständnisse zu machen, werden die nächsten Monate zeigen.
Weitere Informationen und Hintergründe zur deutschen Griechenland-Politik gegenüber Athen und anderen deutschen Aktivitäten in Griechenland finden Sie hier: Die Folgen des Spardiktats, Ausgehöhlte Demokratie, Wie im Protektorat, Europa: Am Rande des Abgrunds, aber deutsch (II), Nach dem Modell der Treuhand, Verelendung made in Germany, Das Antlitz der Krise, Vom Stellenwert der Demokratie, Der Berliner Todeswunsch, Nicht mehr lange im selben Club, Nur Missverständnisse, Auspressen und verdrängen, Austerität tötet, Die Strategie der Spannung, Millionen für Milliarden, Deutsche Aktionärsschützer gegen Griechenland, Erbe ohne Zukunft und Todesursache: Euro-Krise.
[1] Licht am Ende des Tunnels. www.swp-berlin.org.
[2] Lohn- und Lohnnebenkosten Griechenland. www.gtai.de.
[3] Licht am Ende des Tunnels. www.swp-berlin.org.
[4] Über 60 Prozent der Haushalte in Griechenland ohne Heizöl. www.griechenland-blog.gr.
[5] Dramatische Situation. www.neues-deutschland.de 06.03.2014.
[6] S. dazu Todesursache: Euro-Krise.
[7] Costas Iordanidis: Slow or Sudden Death. www.ekathimerini.com 15.09.14.
[8] EU-Gerechtigkeitsindex Kernergebnisse und Ableitungen. www.bertelsmann-stiftung.de.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58956[24.9.2014]
24.09.2014
Weitere Texte zum Themenbereich:
|