Übersicht Dossiers Europäische Union Brexit Die Briten stimmten für den Austritt!Eine Mehrheit von 52 Prozent der Briten stimmten für ein Vereinigtes Königreich außerhalb der EU. Das Abstimmungsergebnis sandte Schockwellen quer durch Europa. Es gab wenige Leute, die geglaubt hatten, daß die Briten es wagen würden, dem Establishment zu trotzen, und die politischen „Eliten“ auf beiden Seiten des Kanals waren erschüttert.
Von Helle Hagenau, Beauftragte für internationale Beziehungen der norwegischen Nei til EU-Bewegung
Es gab viele Gründe, wieso Menschen dafür gestimmt hatten, die EU zu verlassen, wobei es schwierig ist, eine genaue Antwort auf das Warum zu geben. Es gibt allerdings einige Forschungsergebnisses und Analysen, die Licht in die Angelegenheit bringen können. Es liegen durchaus Muster vor, und wir werfen in diesem Artikel einen Blick darauf.
Hohe Wahlbeteiligung
33,6 Millionen Menschen gaben beim Referendum vom 23. Juni 2016 ihre Stimme ab. Dies entspricht 72 Prozent der stimmberechtigten Wähler. Damit war die Beteiligung höher als bei den Parlamentswahlen im Jahr 2015, und für britische Standards handelt es sich um eine historisch hohe Wahlbeteiligung. Daß so viele abgestimmt haben, bezeugt, daß die Bürgerinnen und Bürger die Abstimmung als ein Gelegenheit betrachtet haben, die sich pro Generation nur einmal bietet. Die hohe Wahlbeteiligung legitimiert zudem das Ergebnis. Obwohl 52 Prozent eine schwache Mehrheit sein mag, so ist es nichts desto trotz eine klare Mehrheit der britischen Abstimmenden, welche die EU verlassen wollen.
Die Stimmbeteiligung muß auf dem Hintergrund der Tatsache gewürdigt werden, daß Großbritannien ein Land mit Einpersonenwahlkreisen ist, d.h. pro Wahlkreis wird nur eine Person gewählt. Dies hat zur Folge, daß die Stimmbeteiligung üblicherweise recht tief ist. Denn lebt man in einem Wahlkreis, der zum Beispiel durch Labour beherrscht wird, und besteht keine Chance, die Mehrheitsverhältnisse zu ändern, macht es nicht viel Sinn, an der Wahl teilzunehmen. Der Labour-Kandidat wird auf alle Fälle gewinnen und die Stimme des Anhängers einer anderen Partei zählt – im Gegensatz zu Proporzwahlen – nicht.
Am 1. Januar 1973 wurde Großbritannien Mitglied der EG, der späteren Europäischen Union. 1975 gab es ein Referendum über die Fortführung der EG-Mitgliedschaft. Damals ergab sich ein klares Ja, und insgesamt 67 Prozent stimmten für den Verbleib in der EG. Die Abstimmung fand aber vor so vielen Jahren statt, daß sie heute kaum noch Gültigkeit beanspruchen kann: die damals jüngsten, die sich zur EG/EU-Frage äußern zu konnten, sind heute 59 Jahre alt.
Die EU-Frage löste ein beispielsloses Engagement bei den Menschen aus. Menschen, die sich nie politisch beteiligten, nahmen am Abstimmungskampf teil. Einer meiner besten Freunde, nennen wir ihn John, war 1975 nicht alt genug, um abstimmen zu können. Er hatte auf das britische Parlament seit über 20 Jahren keinen Einfluß, da die Konservativen seinen Wahlkreis fest im Griff haben. Seine Stimme macht also seit 20 Jahren keinen Unterschied. Aber jetzt zählte seine Stimme und das in einem Referendum über die Europäische Union, eines der wichtigsten politischen Themen unserer Zeit – gemäß John. Er war auf der Leave-Seite [2] aktiv.
Demokratie war das wichtigste Argument
Es braucht mehr als etwas Engagement, um ein Referendum zu gewinnen. Man muß das Augenmerk auf die wichtigsten Fragen richten, und die Argumentationen müssen stichhaltig sein. Und das war auf der Leave-Seite gegeben. Die zwei großen Organisationen für das Opt-out konzentrierten sich auf die Demokratiefrage. Der eine Slogan war „Wieder die Kontrolle übernehmen“ und der andere war „Wir wollen unser Land (von der EU) zurück“. Das Prinzip, daß Entscheidungen über das Vereinigte Königreich im Vereinigten Königreich getroffen werden, war der Hauptgrund, warum die Menschen Ja zum Austritt gestimmt haben. Fast die Hälfte (49 Prozent) der Wähler gaben dies als Hauptgrund für ihre Ja-Stimme an [3].
Etwa ein Drittel sagte, ihr Hauptgrund für ein Ja zum Austritt sei, daß dieser dem Vereinigten Königreich die Möglichkeit gebe, die Kontrolle über die Grenzen und die Einwanderung von Arbeitskräften zurückzuerlangen. Etwa 13 Prozent glaubten, daß Großbritannien durch die EU-Mitgliedschaft keinen oder wenig Einfluß auf die Entwicklung der EU hat. Nur 6 Prozent gaben als Hauptgrund an, das Vereinigte Königreich würde außerhalb der EU bezüglich Wirtschaft und Handel besser fahren als innerhalb.
Von Thatcher bis Blair
Seit der EG-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs hatten die Konservativen und die Labour-Partei praktisch immer die alleinige Regierungsmacht. Viele werden sich vermutlich an Margaret Thatcher erinnern, die von 1979 bis 1990 Ministerpräsidentin war und an Tony Blair, der 1997 bis 2007 regierte. Unter Thatcher wurden umfangreiche Privatisierungen durchgeführt, der Einfluß der Gewerkschaften begrenzt, Minen geschlossen, und sie versuchte, die unpopuläre Poll Tax, eine Kopfsteuer, einzuführen. Die beiden letzten Maßnahmen führten zu umfangreichen Streiks im gesamten Vereinigten Königreich. Viele Menschen erfuhren die neuen Bedingungen am eigenen Leib, waren arbeitslos und hatten den Eindruck, nicht gehört zu werden. Im Jahr 1997 gewann Labour mit Tony Blair an der Spitze einen Erdrutschsieg bei den nationalen Wahlen. Er baute Labour durch einen Rechtsrutsch um, auch bekannt als New Labour. Seine Entscheidungen bezüglich der britischen Beteiligung an den Kriegen im Irak und in Afghanistan waren in weiten Teilen seiner eigenen Partei unbeliebt. Ebenso unbeliebt war seine intensive Nutzung von Medienberatern und sein Kontrollzwang. Er wollte Reformen der öffentlichen Dienstleistungen, aber das Reformtempo war zu langsam. Der Abstand zwischen Partei-„Elite“ und Parteivolk würde grösser, und die „unten“ folgten der neuen Ausrichtung nicht in gleichen Maße wie die Partei-Eliten. Dies hatte den deutlichen und überzeugenden Sieg von Jeremy Corbyn in den Partei-Präsidenten-Wahl im Jahr 2015 und seine Wiederwahl im Jahr 2016 zur Folge.
Labourwähler gaben den Ausschlag
Bei der Volksabstimmung im Jahr 1975 machte Labour Kampagne für ein Nein, und Labour hat eine lange Tradition als EU-kritische Partei. Dies änderte sich am Ende der 1980 er und 1990 er Jahre. Tony Blair war ein EU-Fan und in seiner Regierungszeit machte das Vereinigte Königreich bei der EU-Sozialcharta und dem Sozialen Dialog mit. Seine Politik war wesentlich EU-freundlicher Politik als die seiner konservativen Vorgänger.
Die britische Gemeinschaft ist eine viel ausgeprägtere Klassengesellschaft als die anderer europäischer Länder. Die Reichen sind reicher und die Armen ärmer, unabhängig von der jeweils regierenden Partei. Obwohl 1997 viele auf Labour und Tony Blair gehofft hatten, gelang es ihm nicht, die Versprechen zu halten - vor allem für die ärmsten Teile der Bevölkerung änderte sich nichts. Es ergaben sich keine wesentlichen Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, und es gab auch keine Verbesserungen unter den darauffolgenden konservativen Regierungen. Die normalen Arbeiter, die (vielleicht) zeitlebens Labour gestimmt haben, haben von der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung nichts abbekommen – unabhängig von der jeweils regierenden Partei. Sie haben auch eine massive Zuwanderung von Arbeitskräften aus anderen EU-Ländern erlebt, was zu niedrigeren Löhnen, Sozialdumping und dem Verlust von Arbeitsplätzen führte – letzteres, weil billigere Arbeitskräfte ihre Jobs übernommen oder weil die Unternehmen Arbeitsplätze in Niedriglohnländern verschoben hatten. Sie fühlten sich an den Rand gedrängt und aus der Gesellschaft ausgestoßen.
Bei der Kampagne im Vorfeld der Volksabstimmung 2016 waren sowohl die konservative Regierung, fast alle Labour-Abgeordnete, die meisten Verbände, große Teile der Gewerkschaftsbewegung, die Wirtschafts-„Elite“ und prominente Ökonomen auf der Remain-Seite, d.h. sie wollten in der EU verbleiben. Eine kleine Gruppe von Labour-Abgeordneten wichen von der offiziellen Linie ab. Auf der einen Seite standen also die politischen „Eliten“ und der Rest des Establishments, während auf der anderen Seite die Aktivisten, die Graswurzelbewegungen, die verärgerten Labourwähler und nicht zuletzt deren Engagement stand.
Wenn weder konservative Regierungen noch Labour dazu beitragen können, der gewöhnlichen Arbeiterschaft, Männern und Frauen, bessere Bedingungen zu verschaffen, weil sie den EU-Regelungen unterliegen, dann ist es nicht verwunderlich, daß die Mehrheit sich am 23. Juni 16 für den EU-Austritt entschied.
Fischer stimmten für Leave
Eine Berufsgruppe, die die Folgen der EU-Mitgliedschaft in weit höherem Maße als andere Gruppen gespürt hatten, waren die Fischer. Entlang der Nordostküste Englands, im Südwesten Englands und in großen Teile Schottlands gibt es fast nichts außer Fischerei. Wegen der EU-Mitgliedschaft sind 80 Prozent der britischen See EU-Meer. Es versteht sich von selbst, daß eine Fischart nach der anderen an den Rand der Ausrottung geriet. Wo einst lebendige und blühende Städte entlang der Küste lagen, breitet sich Leere aus. Für die Fischer war der einzige Ausweg aus der Krise das Leave.
Es gab zeitweise keinen besonders guter Zusammenhalt in der Branche, da manche glaubten, sie könnten mittels der EU eine Fischereigroßmacht werden. Die EU-Volksabstimmung hat dies aber geändert. Die Fischer organisierten sich von Aberdeen im Norden bis nach Plymouth im Süden. Sie organisierten sich in „Fishing for Leave“. Die Kampagne startete im Verbindung mit einer wichtigen Fischerei-Messe in Aberdeen Ende Mai, zu der unter anderem das Fischerei-Ministerium einlud. Eine Woche vor der Abstimmung liefen etwa 50 Angelboote/Fischerboote von der Ostküste Englands in die Mündung der Themse nach London ein. Es war ein unvergeßliches Erlebnis. Es war wie in Norwegen im Jahr 1994.
Frauen und Demographie
In der Volksabstimmung in Norwegen im Jahr 1994 gab es weit mehr Frauen als Männer, die gegen den Beitritt Norwegens zur Europäischen Union stimmten. Dies war im Vereinigten Königreich nicht der Fall. Sowohl 52 Prozent der Frauen als auch 52 Prozent der Männer stimmten für Leave.
Im Gegenzug gab es eine deutliche Tendenz bezüglich Alter. Je ältere, desto wahrscheinlicher war ein Leave-Votum. Die 50-50%-Grenze lag bei 44/45 Jahren. Die jüngsten, die 1975 abstimmen durften, waren 2016 mindestens 59 Jahre alt. Es gab also etliche, die in ihrem ganzen Leben in der EU waren und die Leave gewählt haben. Es wurde argumentiert, daß Menschen, die für Leave waren, zurück zu den "alten Tagen" wollten. Das stimmt also höchstens teilweise.
[1] Übersetzung von „Britene stemte for brexit!“ aus: Morten Harper (red.) „BETYDNINGEN AV BREXIT: Storbritannias vei ut av EU og den nye situasjonen for europeisk samarbeid“, Nei til EUs årbok 2017, Nei til EU, Schweigaards gate 34 B, NO-0191 Oslo.
[2] „Leave“ für „Austritt aus der EU“, „Remain“ für „in der EU bleiben“.
[3] http://lordashcroftpolls.com/2016/06/how-the-united-kingdom-votedand-why/
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