Bei einer vernünftigen Kritik an der EU-Integration steht nicht die Notwendigkeit der internationalen Zusammenarbeit zur Diskussion, sondern deren Form. Dies versuchen EU-Befürworter zu vertuschen, da die Form der internationalen Zusammenarbeit, die sie vertreten, den Menschen in Europa nicht leicht schmackhaft zu machen ist. Entsprechend müssen den verschiedenen "Europäern" Isolations- und Kriegsängste eingeredet werden, um eine echte Diskussion über Formen der Zusammenarbeit zu vermeiden. Es gilt deshalb die falsche Alternative "EU versus Isolation/Krieg" aufzubrechen, um eine wirkliche Diskussion der anstehenden Probleme im Spannungsfeld von Demokratie, sozialem Ausgleich, Umwelt und Globalisierung zu führen.
von Paul Ruppen
Zusammenarbeit und Handlungsspielraum
Internationale Beziehungen werden immer wichtiger. Dies ist unter friedenspolitischen Aspekten betrachtet eine
positive Entwicklung. Bei dieser im Allgemeinen positiven Einschätzung internationaler Beziehungen ist aber zu
beachten, dass nicht jede Form von Zusammenarbeit von sich aus friedensfördernd ist. Eine zu enge
Zusammenarbeit auf Gebieten, die man besser selber regelt, kann zu verminderter Problemlösungsfähigkeit
führen. Dies kann das Konfliktpotential zwischen den Staaten vergrössern (siehe EU-Gerangel um die
Währungsunion!). Entsprechend ist jene internationale Zusammenarbeit als friedensfördernd einzustufen, die
die Problemlösungsfähigkeit und Autonomie der einzelnen Staaten nicht unnötig einschränkt, sondern diese
sogar fördert. Ohne Zusammenarbeit lässt der Kampf um Standortvorteile etwa jegliche Lust auf Vorreiterrollen
im Sozial- und Umweltbereich absterben. Das Beispiel zeigt, dass internationale Zusammenarbeit unabdingbar
ist, um die Handlungsfähigkeit und damit die demokratische Problemlösungsfähigkeit der einzelnen Staaten zu
erhöhen.
Internationale Zusammenarbeit erhöht die Problemlösungsfähigkeit der einzelnen Staaten aber nicht per se.
GATT und EU sind Beispiele für Zusammenarbeit, die durch die Verschärfung des Standortwettbewerbs
Sozial- und Umweltdumping fördern: Im Kampf um die Ansiedlung von Betrieben werden Umwelt- und
Sozialstandards gesenkt. Steuerlasten werden von den mobilen (Kapital) zu den immobilen (Arbeit) Faktoren
verschoben. Lohn - und Rationalisierungsdruck verschärfen die Arbeitslosigkeit und damit den Kampf um
Standortvorteile. Der Lohn- und Rationalisierungsdruck wirkt sich schliesslich in einer globalen Schwächung
der Nachfrage aus. Die dadurch entstehende depressive Spirale ist dabei nicht als Naturgeschehen zu betrachten.
Sie wurde vielmehr bewusst durch Verträge wie GATT/WTO und EU in Gang gesetzt.
Von EU-Befürwortern wird oft behauptet, es gebe keine Alternativen zur EU-Integration. Diese Behauptung
wird entkräftet, indem eine solche Alternative skizziert wird. Dabei ist nach einer Alternativen zu suchen, welche
die Vorteile internationaler Zusammenarbeit ohne die Nachteile der EU-Integration anbietet. Im folgenden wird
eine mögliche Alternative skizziert:
Demokratisierung und Dezentralisierung der bestehenden Staaten
Die bestehenden Territorialstaaten müssen dezentralisiert und demokratisiert werden. Dezentralisierung erfolgt,
indem Entscheidungskompetenzen in jedem Staat möglichst tief angesiedelt werden (Gemeinde, Bezirk, Kreis,
Kanton, Departement, Region, Land). Probleme sind nur dann auf höherer Ebene zu regeln, wenn sie auf der
tieferen Ebene nicht gelöst werden können. Demokratisierung ist durch die Einführung der direkten Demokratie
auf allen Ebenen (Gemeinde, Bezirk, Kreis, Land, Kanton, Region, usw.) zu verwirklichen.
Demokratisierung und Dezentralisierung der internationalen Beziehungen
Die internationalen Beziehungen müssen dezentralisiert und demokratisiert werden. Dezentralisierung soll
erstens durch die Verlagerung von Problemlösung auf möglichst tiefe Ebene erfolgen. Nur Probleme, deren
Lösung internationaler Zusammenarbeit bedarf, sollen auf internationaler Ebene angegangen werden.
Problemlösung hat zweitens in den Gruppen von Staaten zu erfolgen, die durch ein Problem betroffen sind:
Verkehrsprobleme der Alpen müssen vor allem durch die Alpenstaaten angegangen werden, wobei die legitimen
Interessen Italiens etwa zu berücksichtigen sind. Probleme der Nordseefischerei sind vorrangig durch die
Anrainerstaaten der Nordsee zu behandeln. Dadurch ergibt sich ein weltübergreifendes dichtes Netz von
Zusammenarbeit - ohne Blockbildung. Zudem soll jede Gebietskörperschaft das Recht haben, in ihrem
Kompetenzbereich mit jeder beliebigen anderen Gebietskörperschaft auch über die Grenzen hinweg Verträge
abzuschliessen. Dadurch entsteht ein dichtes Netz von Zusammenarbeit über die Grenzen der einzelnen Staaten
hinaus.
Demokratisierung der internationalen Beziehungen hat über den verstärkten, institutionalisierten Einbezug der
Bevölkerung in internationalen Verhandlungen zu erfolgen1): Dazu sind folgende Reformen nötig: Prinzip der
Öffentlichkeit und des Rechtes auf Information statt bisheriger Geheimhaltungspflicht der Verwaltung. Pflicht
der Behörden zu frühzeitiger umfassender Information; Zugänglichkeit aller offiziellen Papiere wie
Verhandlungsmandate und Mitberichte; breite Vernehmlassungsverfahren mit Berichterstattung und Transparenz
über den Einbezug der Vernehmlassungsantworten; Einsetzung von Diskussionsforen, in denen die
verschiedenen gesellschaftlichen Interessen artikuliert werden können (z.B. ausserparlamentarische
Kommissionen, in denen die betroffenen und interessierten Kreise (wie NGOs) angemessen vertreten sind);
Initiativrecht der Stimmberechtigten der verschiedenen Staaten für das Einbringen von Vorschlägen und
Anträgen auf internationaler Ebene (OSZE, UNO, EU, WEU, NATO, Umweltkonferenzen, usw.);
Verpflichtung der Exekutive, sich auf internationaler Ebene für Partizipationsrechte der Bevölkerung
einzusetzen.
Internationale Minimalstandards
Durch internationale Verträge werden weltweit Minimalstandards im Sozial- und Umweltbereich eingeführt, um
Sozial- und Öko-Dumping zu vermeiden (Mindestnormen bezüglich Arbeitszeit, Sozialausgaben,
Umweltsteuern usw.). Die Minimalstandards können von den einzelnen Staaten im Alleingang oder in
Zusammenarbeit mit Gruppen von Staaten verschärft werden, wobei solche Verschärfungen nicht zu Lasten
armer Länder oder zu Lasten Armer in diesen Ländern gehen dürfen. Die Mindeststandards können in der
geschichtlichen Entwicklung angehoben werden. Durch dieses Modell werden Vorreiterrollen nicht
unterbunden. Die verschiedenen Länder können im Rahmen der Mindestnormen mit Problemlösungen
experimentieren, wovon schliesslich alle profitieren können.
NGOs wie Gewerkschaften, Friedensbewegung, Frauenbewegung, Umweltbewegung,
Konsumentinnen-Bewegung, usw. spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle: Sie bilden ein
Gegengewicht zu den Wirtschaftslobbies - NGOs einer spezifischen Art. Reger Informationsaustausch und
Information der Bevölkerung verhindern, dass die Bevölkerungen gegeneinander ausgespielt werden. Damit die
NGOs ihre Aufgabe wahrnehmen können, ist ihnen Zugang zu internationalen Konferenzen und ein
Vertretungsrecht in den Länderdelegationen zu gewähren.
Reform des Währungssystems
Es ist nach einer Organisation des internationalen Währungssystems zu suchen, das sowohl die Wechselkurse
stabilisiert, indem diese an die effektiven Preise geknüpft werden, als auch der Wirtschaftspolitik der einzelnen
Staaten Freiraum verschafft. Zudem müssen langfristig die Zahlungs- und Handelsbilanzen aller Staaten
ausgeglichen sein. Vorschläge für eine derartige Reorganisation des Währungssystems wurden von
Nationalökonomen ausgearbeitet2). Sie stellen realistische Perspektiven dar, um den einzelnen Staaten eine
flexible, ihrer Wirtschaftssituation und ihren (Arbeits-) Kulturen angepasste Vollbeschäftigungspolitik zu
erlauben.
Den Massnahmen zur Vermeidung von Öko- und Soziodumping wie zur Reorganisation des
Weltwährungssystems ist gemeinsam, dass sie internationale Zusammenarbeit erfordern, um den
Handlungsspielraum der einzelnen Staaten zu erhöhen. Bestimmte Formen von Zusammenarbeit bedeuten somit
nicht Verlust an Handlungsspielraum, sondern Gewinn an Bewegungsfreiheit.
Vorteile der Alternative
Die vorgeschlagene Alternative verschiebt erstens keine Grenzen. Die Änderung oder Aufhebung von Grenzen -
sei's durch die Schaffung eines europäische Bundesstaates oder durch ein "Europa der Regionen" - könnte
ungemütliche emotionale Reaktionen der Bevölkerungen hervorrufen. Solche Emotionen sind zu gefährlich als
dass sie unnötigerweise geweckt werden sollten.
Zweitens stärkt die vorgestellte Alternative die untergeordneten Gebietskörperschaften, ohne dass diese zu
Kleinstaaten würden. Die "Kompetenzkompetenz" (= Recht, Entscheidungskompetenzen verschiedenen
Gebietskörperschaften zuzuordnen) bleibt bei den Staaten - bei deren direktdemokratischen Organisation also bei
der stimmberechtigten Gesamtbevölkerung. Dadurch wird die Gefahr von "mittelalterlichen" Zuständen
vermieden: Kleinstaaten könnten sich nämlich gegenseitig bedrohen und jeweils unterschiedliche Allianzen
bilden, um sich Vorteile zu verschaffen. Jedes "Europa der Regionen", das den Regionen wirkliche
Kompetenzen verschafft, droht in ein solches Szenarium abzugleiten.
Während im vorgeschlagenen Modell somit die Staaten die "Regionen" einbinden, binden handkehrum die
verschiedenen untergeordneten Gebietskörperschaften die Staaten ihrerseits ein, da sie kraft ihre Kompetenzen
auch ein Gegengewicht zu ihren Staaten darstellen. Weil die Staaten sowie die anderen Gebietskörperschaften in
ihren Kompetenzgebieten mit beliebigen anderen Gebietskörperschaften Verträge abschliessen können, binden
sie sich gegenseitig international in einem dichten Netzwerk von Beziehungen ein, das auch internationale
Organisationen umfasst. Blockbildung unterbleibt. Dieses gegenseitige Einbinden von Gebietskörperschaften
bietet die bestmögliche Gewähr für den Frieden.
Drittens knüpft die hier vorgeschlagene Struktur an bestehendes an und kann aus diesem heraus schrittweise
entwickelt werden. Jeder einzelne Schritt stellt bezüglich des Zieles einen Fortschritt dar, der selbst dann
erstrebenswert bleibt, wenn man auf halbem Weg stecken bliebe. Utopien, die auf dem Wege ihrer
Verwirklichung demokratische Rückschritte beinhalten, sind abzulehnen, da bei ihrem Scheitern nur ein Verlust
an Demokratie übrig bleibt.
Viertens stellt das vorgeschlagene Modell ein dynamisches Modell dar, das trotzdem klare
Entscheidungsfindungsverfahren aufweist. Nicht nur die Problemlösungsebenen, sondern auch die
Entscheidungskompetenzen können im Rahmen klarer Entscheidfindungsverfahren immer wieder an die
wechselnden Umstände angepasst werden.
Das wirtschaftliche Leben von komplexen Gesellschaften mit Millionen von Individuen kann kaum ohne Markt
organisiert werden. Dies rechtfertigt allerdings kein blindes Vertrauen in die Kraft des Marktes, alle Probleme zu
lösen. So führt der Markt normalerweise nicht zu einem sozialen Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt. Der
"freie" Markt führt durch den ständigen Spardruck auf Löhne und Lieferanten zu einer allgemeinen
Nachfrageschwäche. Der Staat und die Gewerkschaften bilden entscheidende Faktoren, um hier korrigierend
einzugreifen. Eine nachfrageorientierte Politik (angemessene Löhne für Arbeitnehmer, staatliche Nachfrage,
usw.) ist unumgänglich, um Vollbeschäftigung zu sozial akzeptablen Löhnen zu erreichen. Zudem kann nur
durch angemessene Löhne erreicht werden, dass das, was produziert auch konsumiert wird. Politische
Einflussnahmen zur Wirtschaftssteuerung weisen andrerseits aber gewisse Nachteile auf: bezüglich der
staatlichen Einflussnahme besteht die Gefahr von Missbrauch und Ineffizienz. Diese Gefahr kann nur durch eine
möglichst demokratische Politik in Schach gehalten werden. Entsprechend wichtig ist es, die
Entscheidungszentren in Reichweite der Bevölkerung anzusiedeln. Nur so ist eine relativ effiziente Kontrolle der
staatlichen Einflussnahme auf die Wirtschaft möglich. Die vorgeschlagene Alternative ermöglicht somit fünftens
auch in Zukunft eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik, die den jeweiligen "regionalen" Gegebenheiten
angemessen ist.3) Ein Eurokeynesianismus wäre diesbezüglich zweifach ineffizient: er kann sich zu wenig den
"regionalen" Situationen anpassen und er kann kaum demokratisch kontrolliert werden. Die vorgeschlagene
Alternative strebt somit politische Strukturen an, die das früher oder später unabwendbare Ende des
Neoliberalismus auffangen könnten.
1) siehe Theresa Herzog, EUROPA-MAGAZIN, 4/1995, Demokratie und internationale Beziehungen (siehe
http://www.crossnet.ch/europa-magazin/ unter "Dossier Demokratie". .
2) siehe Beat Achermann, EUROPA-MAGAZIN 2/96, Ansätze für beschäftigungsfreundliche
Währungssysteme, oder Paul Davidson, 1992: International Money and the Real World, London, McMillan
(siehe http://www.crossnet.ch/europa-magazin/ unter "Dossiert Wirtschaft".
3) Diese neo-keynesianische Politik müsste ökologisch ausgestaltet werden.
|