Übersicht Dossiers Europäische Union EU-Verfassung Die Rolle der Subsidiarität im EU-VerfassungsvertragAuf der Suche nach Wegen für eine Demokratisierung der Europäischen Union und zur Überwindung ihres eklatanten Akzeptanzproblems wird von Kritikern des Integrationsprozesses immer wieder die Stärkung der nationalen und regionalen Politikebenen gefordert. Die Stichworte sind: Schaffung eines verbindlichen Kompetenzkatalogs zur Abgrenzung der Unionsaufgaben von denen, die nationalen und regionalen Parlamenten vorbehalten sind, strikte Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und Streichung der Flexibilitätsklausel, die ein Tätigwerden der Union auch außerhalb ihrer eigentlichen Zuständigkeit zulässt. Der Konvent, der mit der Ausarbeitung des EU-Verfassungsentwurfs beauftragt war, lehnte einen verbindlichen Kompetenzkatalog ab.
von Andreas Wehr, Mitarbeiter der "Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke" des EU-Parlamentes.
Die Ablehnung eines verbindlichen Kompetenzkatalogs durch den Konvent wurde damit begründet, dass man stattdessen die Rolle der nationalen Parlamente bei der Subsidiaritätskontrolle stärken wollte. Die Arbeitsgruppe I "Subsidiarität" des Konvents wurde sich deshalb schnell darüber einig, "dass die politische ex-ante-Überwachung des Subsidiaritätsprinzips in erster Linie unter Einschaltung der einzelstaatlichen Parlamente erfolgen sollte." Die Arbeitsgruppe IV "Rolle der einzelstaatlichen Parlamente" nahm diesen Gedanken auf: "Die Gruppe war sich darin einig, dass die Gewährleistung der Einhaltung des Subsidiaritäts- und des Verhältnismäßigkeitsprinzips eine gemeinsame Aufgabe ist und dass die Kommission, das Europäische Parlament, der Rat und die einzelstaatlichen Parlamente alle dafür Sorge tragen müssen, dass bei der Vorlage und der Prüfung der Entwürfe von Rechtsakten das Subsidiaritätsprinzip gewahrt wird. Sie war sich außerdem darüber einig, dass den einzelstaatlichen Parlamenten eine wesentliche Rolle zukommen muss, indem sie zur Arbeit der EU-Gesetzgeber bei der praktischen Anwendung des Subsidiaritätsprinzips beitragen." Damit war auch für das Plenum des Konvents die Richtung vorgegeben. Die Kontrolle der Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit soll in Zukunft den nationalen Parlamenten zukommen. Und sie soll ex-ante, d.h. vor Erlass des Rechtsakts erfolgen.
Das Subsidiaritätsprotokoll
Über das Verfahren, wie die nationalen und regionalen Parlamente die Kontrolle der Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit in der Praxis ausüben sollen, darüber gibt in Ausführung von Artikel I- 11 Abs. 3 das neu gefasste Protokoll über die "Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit" Auskunft. Danach übermittelt die Kommission alle ihre Vorschläge für einen Gesetzgebungsakt gleichzeitig den nationalen Parlamenten und dem Unionsgesetzgeber. Die entscheidende Neuerung ist in Punkt fünf des Protokolls enthalten. Danach kann "jedes nationale Parlament eines Mitgliedstaats oder jede Kammer eines nationalen Parlaments binnen sechs Wochen nach dem Zeitpunkt der Übermittlung eines Gesetzgebungsvorschlags der Kommission in einer begründeten Stellungnahme (...) darlegen, weshalb der Vorschlag seines bzw. ihres Erachtens nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist". Die sich für die Kommission daraus ergebende Konsequenz ist in Punkt sechs beschrieben: "Die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten mit einem Einkammersystem haben zwei Stimmen, während jede der beiden Kammern in einem Zweikammersystem eine Stimme hat. Wird von nationalen Parlamenten und Kammern nationaler Parlamente, die mindestens ein Drittel der Gesamtzahl der Stimmen repräsentieren, eine begründete Stellungnahme dahin gehend abgegeben, dass ein Kommissionsvorschlag nicht mit dem Subsidiaritätsvorschlag in Übereinstimmung steht, so überprüft sie ihren Vorschlag. (...) Nach Abschluss der Prüfung kann die Kommission beschließen, an ihrem Vorschlag festzuhalten, ihn zu ändern oder ihn zurückzuziehen. Die Kommission begründet ihren Beschluss."
Geht man einmal davon aus, dass Staaten mit einem Zweikammersystem wie etwa Deutschland ihre beiden Stimmen gleichgerichtet abgeben, so müssten demnach bei einer künftigen Union der 25 nicht weniger als neun nationale Parlamente zugleich Einspruch einlegen. Sie müssten dies zudem in der extrem knappen Frist von sechs Wochen tun. Dürfte dies schon einem Einkammersystem schwer fallen, so ist es etwa für den deutschen Bundesrat kaum noch zu schaffen, denn dies würde bedeuten, dass sich innerhalb der sechs Wochen auch noch die Bundesländer zu dem Vorschlag der Kommission begründet positionieren müssten. Da es sich um ein Einspruchsrecht der Parlamente handelt, müssten sogar die Landesparlamente zuvor Stellung beziehen. Es ist schwer vorstellbar, wie dies allein technisch realisiert sein soll, zumal in der Praxis etwa wöchentlich Vorschläge der Kommission eingehen werden, wobei jeder mit einem eigenen Ablauftermin für die Einspruchsfrist versehen wäre. Ganz auf der Strecke bliebe die Beteiligung der Öffentlichkeit der Mitgliedstaaten an diesen Entscheidungen. Begründete Stellungnahmen und Einsprüche der so genannten Zivilgesellschaft, die für die Meinungsbildung der politischen Parteien wichtig sind, könnten in diesen wenigen Wochen nicht formuliert werden. Es klingt daher wie ein Hohn, wenn das Protokoll über die "Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit" mit dem Satz beginnt: "In dem Wunsch sicherzustellen, dass Entscheidungen in der Union so bürgernah wie möglich getroffen werden,..."
Da die Kommission nach Abschluss ihrer Prüfung beschließen kann, "an ihrem Vorschlag festzuhalten, ihn zu ändern oder ihn zurückzuziehen", wird den Parlamenten zudem nur ein stumpfes Mittel in die Hand gegeben. Denn sollten tatsächlich einmal mindestens neun Parlamente fristgemäß Einspruch eingelegt haben und hielte die Kommission dennoch unverändert an ihrem Vorschlag fest, so bliebe den Parlamenten nur der Weg der Klage. An ihrem einmal vorgelegten Vorschlag könnte die Kommission um so leichter festhalten, wenn sich die Einspruchsbegründungen der Parlamente nicht decken oder gar widersprechen. Und dies dürfte nicht selten der Fall sein, beraten doch die nationalen bzw. regionalen Parlamente räumlich, aber auch kulturell und sprachlich vollkommen getrennt voneinander. So werden möglicherweise im litauischen Parlament völlig andere Gründe für einen Einspruch geltend gemacht als etwa im portugiesischen Parlament. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Parlamente in ihren Beratungen von den Beweggründen der anderen etwas erfahren, dürfte gering sein.
Bleibt der Einspruch eines Parlaments erfolglos, so kann es zumindest Klage vor dem Europäischen Gerichtshof einlegen. "Der Gerichtshof ist für Klagen wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsaktes gegen das Subsidiaritätsprinzip zuständig, die (...) von einem Mitgliedstaat erhoben oder gemäß der jeweiligen innerstaatlichen Rechtsordnung von einem Mitgliedstaat im Namen seines nationalen Parlaments oder einer Kammer dieses Parlaments übermittelt werden."
Diese Klagemöglichkeit soll auch dem Ausschuss der Regionen (AdR) zustehen. Damit wird einer seit langem vom AdR selbst, aber auch vehement von den deutschen Bundesländern vorgebrachten Forderung nach einem Klagerecht dieses Gremiums wenigstens zum Teil entsprochen. Ihm soll in Zukunft wohl nicht das generelle Klagerecht zustehen, aber eines bei den Gesetzgebungsakten, "für deren Annahme die Anhörung des AdR nach der Verfassung vorgeschrieben ist".
Der Ausschuss der Regionen ist, neben dem Wirtschafts- und Sozialausschuss, ein so genanntes „Nebenorgan“ im Institutionengefüge der Union und beteiligt sich als beratendes Gremium an der Beschlussfassung der Gemeinschaft. Er verfügt über einen eigenen institutionellen Unterbau. Dem Ausschuss gehören 189 Vertreter regionaler und lokaler Gebietskörperschaften an, die vom Rat auf Vorschlag der Mitgliedstaaten durch einstimmigen Beschluss auf vier Jahre ernannt werden. Auf die Bundesrepublik Deutschland und die anderen großen Mitgliedstaaten Frankreich, Großbritannien, Frankreich und Italien entfallen jeweils 24 Mitglieder. Etabliert wurde der AdR mit dem Maastrichter Vertrag zu Beginn der neunziger Jahre. Mit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 sind seine Rechte geringfügig erweitert worden. Der AdR kann sich seitdem auch zu Fragen äußern, in denen er es für zweckmäßig erachtet, insbesondere wenn es um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit geht. Auch ist er vom Europäischen Parlament anzuhören wenn spezifische regionale Interessen berührt sind. Nach dem EGV kann er Stellungnahmen in folgenden Bereichen abgeben: Zur gemeinsamen Verkehrspolitik, zur Beschäftigungs- und Sozialpolitik, zur allgemeinen und beruflichen Bildung, zum öffentlichen Gesundheitswesen, zu den transeuropäische Netzen, zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt sowie zur Umwelt. Dabei handelt es sich um Bereiche, in denen die EU unterstützende bzw. koordinierende Aufgaben wahrnimmt.
Die Bedeutung des AdR wurde von Beginn an durch den Umstand beschränkt, dass nur wenige Mitgliedsländer über eine mit der Bundesrepublik Deutschland vergleichbare föderale Struktur verfügen. Lediglich in Österreich, Belgien, Spanien und mit Einschränkungen seit kurzem auch in Großbritannien verfügen Regionen über nennenswerte eigene legislative Befugnisse. Die meisten anderen Mitgliedsländer sind daher am Ausschuss der Regionen nur wenig interessiert.
Das in Zukunft den Mitgliedstaaten und in eingeschränkter Weise auch dem AdR zustehende Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof wirft die Frage auf, ob der Europäische Gerichtshof überhaupt befugt sein soll, über Verletzungen der Rechte von Mitgliedstaaten bzw. von Regionen zu entscheiden. Dies wird mit durchaus guten Gründen in Zweifel gezogen. "Die Frage (der Verletzung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit -A.W.) kann der Europäische Gerichtshof in Luxemburg nahe liegend nicht beantworten. Er ist Gemeinschaftsorgan und hat die Verträge autonom aus sich heraus und auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene zu betrachten. Ob die Subsidiaritätsklausel des Art. 5 Abs. 2 EGV hingegen greift, setzt eine Betrachtung der Gegebenheiten in den einzelnen Mitgliedstaaten voraus. Das gerade ist aber dem Europäischen Gerichtshof verwehrt. Eine überzeugende Lösung ist bei Beibehaltung des Art. 5 Abs. 2 EGV allein und ausschließlich die Errichtung des Kompetenzkonfliktgerichts auf Gemeinschaftsebene." Die Forderung nach einem solchen Kompetenzkonfliktgericht hatte auch das Europäische Parlament im Lamassoure-Bericht angeregt. Darin wurde vorgeschlagen, "beim Gerichtshof eine Kammer für Verfassungs- und Grundrechtsfragen einzurichten." Der Konvent hat diesen Vorschlag in seinen Beratungen aber nicht weiter verfolgt.
Angesichts des vom Konvent unterbreiteten Vorschlags muss bezweifelt werden, ob er der ihm gestellten Aufgabe, wie eine "genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten hergestellt und danach aufrechterhalten werden kann", gerecht geworden ist. Das vorgeschlagene Verfahren zur Kontrolle der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit durch die nationalen Parlamente führt nicht nur zu unüberwindbaren praktischen Schwierigkeiten, es wirft auch die Frage auf, ob in einer aus 25 Staaten bestehenden Union die nationalen bzw. regionalen Parlamente jeweils für sich allein überhaupt noch eine wirksame Kontrolle zur Wahrung ihrer Rechte ausüben können. Es spricht viel dafür, dass dies bei einer so großen Zahl von Mitgliedstaaten wirksam nur noch an einem gemeinsamen Ort, im gegenseitigen Austausch der Argumente möglich ist. Der am Beginn der Konventsarbeit ins Gespräch gebrachte "Kongress der Völker Europas" hätte hier Ansatzpunkte zur weiteren Diskussion geboten. Diese Gedanken ernsthaft weiter zu verfolgen, dazu konnte sich der Konvent aber nicht durchringen.
Anmerkungen:
1) Vgl. Schlussfolgerungen der Gruppe I "Subsidiaritätsprinzip" vom 23.09.02, CONV 286/02, S.3
2) Vgl. Schlussfolgerungen der Gruppe IV "Rolle der einzelstaatlichen Parlamente" vom 22.10.02, CONV 353/02, S.10
3) Mit der Organisation COSAC (Abkürzung von "Conférence des organes spécialisés dans les affaires communautaires") existiert zwar seit 1989 die "Konferenz der Europaausschüsse der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten der EU und des EP". Diese Organisation ist aber personell wie materiell ausgesprochen schwach ausgestattet und dient allein dem Informationsaustausch zwischen den einzelstaatlichen Parlamenten über Methoden und Erfahrungen der jeweiligen europapolitischen Arbeit. Eine Koordination der nationalen Parlamente mit dem Ziel einer gemeinsamen Positionsfindung soll nach dem Willen des Konvents auch in Zukunft nicht zu den Aufgaben von COSAC gehören.
4) Vgl. Punkt 7 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.
5) Die spanischen Vertreter im Konvent unternahmen allerdings aus innenpolitischen Gründen alles, um den Regionen im zukünftigen Verfassungsvertrag keine zusätzlichen Rechte zukommen zu lassen.
6) Einige dieser Regionen haben als „konstitutionelle Regionen“ einen Zusammenschluss gebildet.. Ihm gehören Bayern, Katalonien, Nordrhein-Westfalen, das Bundesland Salzburg, Schottland, Wallonien und Flandern an.
7) Siegfried Broß, Überlegungen zum gegenwärtigen Stand des Europäischen Einigungsprozesses, in: Europäische Grundrechtezeitschrift 2002, S. 574 ff. (577)
Lamassoure-Bericht des EP vom 16.5.2002, Dok. PE 318.651.
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