Übersicht Dossiers Schweiz Bilaterale II - Schengen Verdeckte Überwachung grenzenlosEin Aufsatz von Thomas Mathiesen1) im Sammelband „The Blackwell Companion to Criminology“ herausgegeben von Colin Summner stellt in sehr konzentrierter Form erschreckende Fakten zur grenzenlosen „verdeckten Überwachung“ im Schengener Informationssystem SIS und den mit dem SIS vernetzten Informationssystemen zusammen.2)
von Luzius Theiler, Bern
Die im SIS gesammelten Daten betreffen zu 90% nicht strafrechtlich relevante Tatbestände, sondern Angaben über „unerwünschte Ausländer“. Schengen wird deshalb oft als Instrument zur Verteidigung der „Festung Europa“ bezeichnet.
Ausgehend vom Schengen-Durchführungs-Übereinkom-men (nachfolgend Abkommen genannt) von 1990, das mit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 in die EU integriert wurde, zeigt Mathiesen die Konsequenzen der diffusen General-klauseln in diesem Vertragswerk auf. Gemäss Art. 99 werden Daten „nach Massgabe des nationalen Rechts“ „zur ver-deckten Registrierung“ aufgenommen. Eine Ausschreibung dieser Art ist zulässig zur Strafverfolgung und zur „Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit“. Die Bedingun-gen, unter denen Personen verdeckt registriert werden können, sind, so Mathiesen, „teilweise wenig präzis, das heisst teilweise äusserst vage und ermöglichen eine diskrete Überwachung breiter Teile der Bevölkerung“. Dies insbesondere gemäss Art. 99 Ziff. 2 des Abkommens, welcher verdeckte Überwachungen u.a. zulässt, wenn die Gesamtbeurteilung des Betroffenen, insbesondere aufgrund bisher von ihm begangenen Straftaten, erwarten lässt, dass er auch künftig aussergewöhnlich schwere Straftaten begehen wird“. Dies seien vage, unbestimmte Formu-lierungen, schreibt Mathiesen zu Recht, die ausserdem auf rein hypothetische zukünftige Tatbestände ausgerichtet sind.
Überdies erlaubt die folgende Ziff. 3 von Art. 99, die verdeckte Überwachung politischer Tätigkeiten „auf Veranlassung der für die Sicherheit des Staates zuständigen Stellen“, also der Polizei und der Geheimdienste, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die gesammelten Informationen zur Abwehr „einer erheblichen Gefährdung oder anderer erheblicher Gefahren für die innere oder äussere Sicherheit des Staates“ notwendig sind. Hier in diesem Art. 99 Ziff. 3 steht kein Wort von strafrechtlichen Vergehen oder kriminellen Akten, hält der Autor fest, vielmehr werden politische Proteste verschiedenster Art erfasst. Das im Grundsatz verankerte Recht auf Einsicht in die über die eigene Person gespeicherten Daten wird stark eingeschränkt: Gemäss Art. 109 Ziff. 2 des Abkommens unterbleibt die Auskunft-erteilung immer während der Ausschreibung zur verdeckten Registrierung und „wenn dies zur Durchführung einer rechtmässigen Aufgabe ….unerlässlich ist“. „Kurz gefasst“, so die Quintessenz von Mathiesen, „ein Überwachungs-system, das der Polizei freie Hand gibt, breitet sich gegenwärtig in Europa aus“.
Mit dem SIS vernetzt (das nächstens zum SIS II perfek-tioniert werden soll) sind die folgenden drei Datenbanken:
 „Sirene“ (Abkürzung für Supplément d’Information Requis a l’Entrée Nationale), sammelt nicht-standardisierte, „unpräzise“ sog. „weiche Daten“, also Zusatzinformationen, die nicht im SIS erfasst sind zum Austausch unter den nationalen Polizeien. Zu den übermittelten Informationen gehören laut Artikel 46 des Schengen-Abkommens alle Informationen „von Interesse, um künftige Verbrechen zu verhindern und Straftaten gegen oder Bedrohungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu verhindern“. Soweit es Sirene betrifft, gibt es keine allgemein gültigen Daten-schutzregelungen, da Sirene nicht im Schengen-Abkommen erwähnt wird.
 Eurodac, sammelt die Fingerabdrücke von abgewiesenen AsylbewerberInnen und soll so Zweitasylgesuche verun-möglichen (Durchsetzung des Vertrages von Dublin).
 Europol, wurde ursprünglich als zentrales Computersystem zur Erfassung des organisierten Verbrechens gegründet, weitet seine Tätigkeitsgebiete aber immer mehr aus und sammelt auch Daten aus dem persönlichen Bereich wie rassische Herkunft, politische Anschauung, religiöse Überzeugung, Gesundheit und Sexleben. Punkto Aktivi-täten und Datenschutz ist Europol praktisch unkontrollier-bar.
Sehr informativ ist der im Aufsatz von Mathiesen wieder-gegebene Überblick über die in 12 Kategorien mit insgesamt 68 Typen von persönlichen Daten, die im Europol-Zentralcomputer registriert werden:
 Einzelheiten zur Person
 Aussehen
 Identifikations-Merkmale (so DNS-Analysen-Resultate und Fingerabdrücke)
 Beruf und Fähigkeiten
 Wirtschaftliche und finanzielle Situation
 Verhaltensmerkmale (u.a. Lebensstil, Drogengebrauch, Gefahrenbewertung)
 Kontakte und Verbindungen
 Benützte Kommunikationsmittel
 Benützte Transportmittel
 Informationen über kriminelle Aktivitäten
 Verweise auf andere Datensammlungen, wo der Betroffene verzeichnet ist (unterteilt in staatliche und private Samm-lungen)
 Informationen über unbescholtene Personen, die in Verbindung mit der in der Datei verzeichneten Person stehen
An Hand von verschiedenen Fallbeispielen über verweigerte Einreisen in Schengen-Länder beschreibt Mathiesen die konkreten Auswirkungen der grassierenden Gesinnungs-schnüffelei in Europa. Eine Greenpeace-Aktivistin z. B., die 1995 gegen das französische Nuklear-Programm protestiert hatte, wurde von Frankreich als „unerwünscht“ erklärt und am Amsterdamer Flughafen an der Betretung des „Schengener-Raumes“ gehindert.
Zum Schluss gibt Mathiesen einen Überblick über geplante Ausweitungen des europäischen Polizei- und Überwachungs-staates nach dem 11. September 2001. So gibt es Pläne, mit dem SIS „potentiell gefährliche Personen zu erfassen“ und diese an der Anreise zu „sportlichen, kulturellen, politischen oder sozialen Veranstaltungen“ zu hindern. Zudem sollen die SIS-Daten weiteren öffentlichen aber auch privaten Institutionen zugänglich gemacht werden. Im Aufbau begriffen sind „Enfopol“ und „Echelon“ als Teil des „EU-FBI-Komplexes“ zur Überwachung und Zensurierung des elektronischen Verkehrs. Anmerkung: Die von der Swisscom an das US-Kommunikationsunternehmen Verestar verkaufte Satelliten-bodenstation in Leuk (Wallis) dient nach verschiedensten Berichten als Abhöranlage im Rahmen des Echelon-Pro-gramms.
Mathiesen mahnt zum Schluss seines Aufsatzes: „Wir sehen die Umrisse einer neuen Mc Carthy-Ära in globaler Dimension. Diese Massnahmen treffen das Herz unserer demokratischen Rechte und unserer Bürgerrechte“.
Bleibt anzumerken, dass sich Mathiesen „nur“ auf offiziell oder über parlamentarische Wege oder durch NGO’s, haupt-sächlich Statewatch, publizierte Tatbestände stützt. www.statewatch.org/ ist eine Fundgrube für Informationen über Missachtungen von Grundrechten in der EU.
Zahlreiche Beschlüsse im Rahmen des „Schengen-Besitzstandes“ sind jedoch gar nicht veröffentlicht, wie ein Sprecher des bundesratsamtlichen Integrationsbüros nach mehrmaligem Nachfragen meinerseits vor der Versammlung der schweizerischen Grünen einräumen musste. So ist der „Schengen-Besitzstand“ in Buchform und im Internet zusammengefasst nur bis zum 1. Mai 1999 publiziert und dies mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass „Beschlüsse ohne Rechtsgrundlage“ (!) und vertrauliche Dokumente nicht in die vorliegende Veröffentlichung aufgenommen wurden.
Anmerkungen:
1) Thomas Mathiesen, geboren 1933, ist seit 1972 Professor für Rechtssoziologie und lehrt an der Universität von Oslo, Norwegen. Er hat über 25 Bücher über Rechtssoziologie, Kriminologie, Mediensoziologie und politische Soziologie geschrieben, von denen auch einige ins Deutsche übersetzt wurden
2) Zum gleichen Thema siehe „Schengen: Abwehr gegen aussen, Polizeistaat gegen innen“ in Europamagazin 2/2003
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