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Schengen

Anfang 2001 überraschte der Bundesrat die Öffentlichkeit mit der Ankündi-gung einer zweiten Runde bilateraler Verhandlungen mit der Europäischen Union. Nachdem die erste Serie von bilateralen Abkommen von den Stimmbe-rechtigten abgesegnet worden war, sollten nun in weiteren Verhandlungen ne-ben diversen anderen Überbleibseln im schweizerischen Wunschkatalog auch die Einbindung der Schweiz in die Verträge von Schengen („zum Abbau der Personenkontrollen an den gemeinsamen Grenzen“ der EU-Staaten) und von Dublin („über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft gestellten Asylantra-ges“) zur Debatte stehen. Wie die Titel der Vertragswerke zeigen, stehen sie eigentlich nur EU-Staaten zum Beitritt offen. Als Nicht-EU-Staat war die Schweiz bisher ausgeschlossen. Nichtsdestoweniger haben sich der Bundes-rat und insbesondere das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) seit Anfang der 90er Jahre die Integration in diese EU-Zusammenarbeit auf die Fahnen geschrieben. Ohne die Einbindung in diese polizeiliche und asyl- bzw. ausländerpolitische Kooperation drohe die Schweiz zur „Insel der Unsicherheit“ und zum „Restasylland für in der EU abgelehnte Asylbewerber“ zu werden, hatte bereits 1993 die vom EJPD eingesetzte „Expertenkommission Grenzpolizeiliche Personenkontrolle“ argumentiert.

Von Heiner Busch,

Norwegen und Island sind bisher die beiden einzigen Nicht-EU-Staaten, die eine Schengen-Assoziation erreicht haben. Während Norwegen und Island aber als Mitglieder der Nordischen Passunion seit langem die Grenzkontrollen zu ihren skan-dinavischen EU-Nachbarn aufgehoben und damit die formalen Voraussetzungen für eine Schengen-Integration erfüllt haben, hat die Schweiz in den 90er Jahren alles daran gesetzt, vor allem die Grenze zum südlichen EU-Nachbarn Italien abzudichten - gegen Flüchtlinge und „illegale Einwanderer“. Sie befand sich damit zwar ideolo-gisch in Einklang mit der Schengen-Gruppe, verbaute sich aber gleichzeitig die Mög-lichkeiten eines Beitritts. Angesichts der gefestigten Politik der Abschottung wirkte die bundesrätliche Ankündigung, dass man für einen Schengen-Beitritt bereit sei, den gesamten „Schengen-Acquis“ einschliesslich der Aufhebung der Grenzkontrollen zu akzeptieren, - gelinde gesagt - erstaunlich.

Nicht umsonst kommt die Kritik an diesem Beitrittswillen nicht nur von den lin-ken und bürgerrechtlichen Schengen-KritikerInnen, sondern auch von bürgerlicher Seite. Vor allem die SVP wittert eine weitere Annäherung an die EU. Der Ständerat - vollständig in bürgerlicher Hand - kritisierte konsequenterweise den Abbau der Grenzkontrollen. Die Konferenz der Kantonsregierungen missbilligte die Fortsetzung des bilateralen Weges, der die Kompetenz für Verhandlungen ausschliesslich dem Bundesrat in die Hand legt. Aller Einwendungen zum Trotz führt der Bundesrat seit Mitte letzten Jahres sondierende Vorgespräche mit der EU.

Was ist „Schengen“?

Seit dem Amsterdamer Vertrag, der am 1. Mai 1999 in Kraft getreten ist, ist die Schengen-Kooperation Teil der EU-Strukturen. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie zwar eng mit der EU verbunden, aber eigentlich nichts anderes als eine multilaterale Zu-sammenarbeit diverser EU-Staaten ausserhalb der offiziellen Strukturen der Europä-ischen Union bzw. der Europäischen Gemeinschaften.

Personenkontrollen wurden lange im wesentlichen als Frage der Inneren Si-cherheit verstanden. Asyl- und Einwanderungspolitik, Strafrecht und Strafverfolgung, Drogen- und Terrorismusbekämpfung etc. fielen bis zum Maastrichter Vertrag aus-schliesslich in die Kompetenz der Mitgliedstaaten. Zwar existierte in diesem Bereich seit den 70er Jahren eine informelle Kooperation der EG-Regierungen, die ab Mitte der 80er Jahre massiv ausgebaut wurde, aber trotzdem jenseits der EG-Strukturen blieb. Erst mit dem Maastrichter Vertrag, der 1993 in Kraft trat, wurde diese Koopera-tion formalisiert, blieb aber weiterhin eine Kooperation von souveränen Regierungen.

Ein Abbau von Grenzen war im Bereich der Personenkontrollen also nur über den Weg von Staatsverträgen möglich. Hinzu kam, dass insbesondere Grossbritan-nien (und deshalb auch die Republik Irland) sich einem Abbau der Grenzkontrollen massiv widersetz(t)en. Ergebnis dessen war das bekannte Phänomen des Europas der zwei Geschwindigkeiten: Zunächst fünf Staaten - Deutschland, Frankreich und die drei Benelux-Staaten - preschten vor und schlossen 1985 ein erstes Abkommen „zum schrittweisen Abbau der Personenkontrollen an den gemeinsamen Grenzen“. Benannt wurde es nach dem Ort der Unterzeichnung - dem an der Grenze zu Deutschland und Frankreich gelegenen luxemburgischen Dörfchen Schengen.

Als kurzfristige Massnahme wurde darin ein Kontrollverfahren ohne Wartezei-ten vereinbart. Langfristig sollten Verhandlungen zu einem Staatsvertrag führen, der einerseits die vollständige Aufhebung der Kontrollen an den Binnengrenzen, ande-rerseits Ausgleichsmassnahmen für den dadurch angeblich entstehenden Sicher-heitsverlust festlegen sollte. Dieser „Deal“ - Grenzabbau gegen Ausgleichsmass-nahmen - bestimmt bis heute die Politik der EU-Staaten im Bereich der Justiz- und Polizeipolitik.

Verankert wurde er im sog. Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) von 1990. Dieses sieht in Art. 2 tatsächlich vor, dass die Binnengrenzen an allen Stellen und zu jeder Zeit überschritten werden dürfen. In Absatz 2 desselben Artikels ist aber eine Ausnahme enthalten, nach der die Mitgliedstaaten bei besonde-ren Bedrohungen für die Nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung Grenz-kontrollen temporär wieder einführen dürfen.

Der Rest der 140 Artikel des Vertrages bezieht sich auf Ausgleichsmassnah-men: · Verlagerung der Grenzkontrollen an die Aussengrenzen und gleichzeitige Ver-schärfung dieser Kontrollen,

· gemeinsame Visumspolitik,

· eine Erstasylregelung, nach der im Schengenraum nur ein Asylverfahren pro Per-son durchgeführt werden soll und zwar durch den dafür zuständigen Staat. Zu-ständig ist derjenige Staat, für den ein Asylsuchender entweder ein Visum hat, wo unmittelbare Verwandte leben oder - falls das nicht zutrifft - den der Asylsuchende als ersten betreten hat. Letzteres ist der Normalfall. Alle unzuständigen Staaten werden ermächtigt, den oder die jeweilige Asylsuchende in den zuständigen Staat zurückzuschaffen - sofern sie nicht doch aus humanitären Gründen auf sein Asyl-gesuch eingehen. Dieselbe Regelung wurde zusätzlich im Dubliner Abkommen 1990 zwischen allen EG-Staaten festgelegt.

· polizeiliche Kooperation, insbes. Nacheile und Observation

· den Aufbau eines gemeinsamen Fahndungssystems, des sog. Schengener Infor-mationssystems SIS.

Mit dem Vertrag wurden nicht nur die Grundlagen für die Aufhebung der Per-sonenkontrollen gelegt, sondern in erster Linie die Basis für die polizeiliche Koopera-tion in der EU. 1995 wurde das Abkommen zwischen den ersten sieben Staaten in Kraft gesetzt - neben den fünf ursprünglichen Schengen-Mitgliedern waren Portugal und Spanien dabei. 1997 wurde dieser Club um Österreich, Italien und Griechenland erweitert. Im Jahr 2000 kamen die nordischen Staaten, incl. der Nicht-EU-Staaten Island und Norwegen, hinzu.



Die Kooperation blieb nicht auf das Abkommen beschränkt. Vielmehr ent-wicklete sich Schengen zu einem Laboratorium der Polizeikooperation. Die ursprüng-lichen Verhandlungsgruppen wurden quasi automatisch in den sog. Schengener Exekutivausschuss umgewandelt. Der „Vorteil“ dieses Ausschusses und seiner vie-len Untergruppen bestand darin, dass es sich um eine rein zwischenstaatliche Ko-operation handelte, in der ausschliesslich die Exekutiven und die Polizeibehörden das Sagen hatten. Die nationalen Parlamente wurden allenfalls nachträglich über Beschlüsse des Exekutivausschusses informiert, das Europäische Parlament hatte ohnehin keinen Einfluss. Die Schengen-Staaten dominierten selbstverständlich auch die formelle Regierungszusammenarbeit in Sachen Inneres und Justiz, die mit dem Maastrichter Vertrag in der sog. Dritten Säule der EU institutionalisiert worden war.

Bis Mai 1999 hatte der Exekutivausschuss rund 200 Beschlüsse gefasst. Ge-meinsam mit den Abkommen von 1995 und 1990 bilden sie den sogenannten Schengen-Acquis, den Schengener „Besitzstand“, der nach dem Schengen-Protokoll des Amsterdamer Vertrages volllständig in den EU-Rahmen überführt wurde.

Mit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages und des Schengen-Protokolls wurde die eigenständige Schengen-Gruppe formell aufgelöst und gleich-zeitig die innen- und justizpolitische Kooperation der EU neu aufgeteilt. Asyl- und Einwanderungspolitik sowie Fragen der Binnen- und der Aussengrenzen wurden neu der sog. Ersten Säule der EU, der eigentlichen Europäischen Gemeinschaft, zuge-schlagen. Hier werden also mittlerweile Richtlinien und Verordnungen von der Kom-mission entworfen. Bis 2004 entscheidet der Rat - also die Innen- und Justizminister der EU-Staaten - allerdings alleine, wie er mit diesen Vorschlägen umgehen will. Während im grössten Teil der restlichen Ersten Säule das Mitentscheidungsverfah-ren gilt, wird das Europäische Parlament hier nur „konsultiert“. D.h. die Vorschläge werden ihm vorgelegt, es kann sich dazu äussern. Wenn seine Position vom Rat, d.h. von den Exekutiven der Mitgliedstaaten nicht geteilt wird, dann wandert sie ein-fach in den Müll. Bis 2004 sollen alle wesentlichen noch offenen Fragen in Sachen Asyl, Einwanderung und Grenzen entschieden sein - ohne parlamentarische Kontrol-le. Danach entscheidet der Rat, ob er zum Mitentscheidungsverfahren übergehen will, d.h. ob er dem Parlament eine grössere Rolle zugesteht.

In der Dritten Säule verbleiben die eigentlich polizeilichen und strafrechtlichen Angelegenheiten. D.h. hier wird das Europäische Parlament nur informiert. Die Ent-scheidungen liegen weiterhin ausschliesslich beim Rat. Sofern nicht ein Staatsver-trag erforderlich ist, setzt der Rat Recht durch Beschlüsse, Massnahmen und „Rah-menbeschlüsse“, wobei letztere von den nationalen Parlamenten ins nationale Recht überführt werden müssen.

Der Schengen-Acquis wurde unter den beiden Bereichen aufgeteilt. Jeder einzelne Beschluss, jeder einzelne Artikel aus den Abkommen ging entweder zur Ersten oder zur Dritten Säule. Das Schengener Informationssystems (SIS) wurde vollständig der Dritten Säule zugeschlagen. Aus den Beschlüssen des Exekutivaus-schusses wurde damit automatisch EU-Recht.

Auch wenn die Schengen-Gruppe formal nicht mehr existiert, hat sie doch in einer ganzen Reihe zentraler Fragen überlebt:

· rechtlich im Schengen-Acquis, auf den der Rat nun mit seinen Beschlüssen auf-baut,

· informationell im SIS,

· ganz praktisch in diversen Arbeitsgruppen des Rates, konkreter der Dritten Säule: Dazu zählen nicht nur die technischen Arbeitsgruppen rund um das SIS, sondern auch eine Arbeitsgruppe Evaluation, die der Schengener Exekutivausschuss noch kurz vor seinem Ableben einberufen hatte. Die Arbeitsgruppe ist hervorgegangen aus den diversen „Besuchsteams“, die der Exekutivausschuss 1994 und 1997 auf die Reise geschickt hat. Sie sollten überprüfen, ob die Staaten, die an einem Bei-tritt zum Abkommen interessiert waren, die notwendigen Voraussetzungen erfüll-ten. Dazu gehörte insbesondere die Einführung strikter Kontrollen an den Aus-sengrenzen. Die Besuchsteams wurden 1997 dann auch beauftragt, die Vertrags-staaten selbst zu überprüfen. Mit der Arbeitsgruppe Evaluation ist damit eine Or-ganisation, eine exekutive Instanz, ins Leben gerufen, die darüber wacht, dass sowohl die nationalen Exekutiven, als auch die Parlamente alles mögliche tun, um die von einem exekutiven Gremium beschlossenen Massnahmen umzusetzen - antidemokratischer kann es kaum gehen.

Ebenfalls im Rahmen der Dritten Säule angesiedelt ist der „gemischte Aus-schuss“ (Comix). In diesem Ausschuss sind neben den EU-Regierungen die Vertre-ter Norwegens und Islands beteiligt, also jener beiden Nicht-EU-Staaten, die an der Schengen-Kooperation mitmachen. Sie erhalten hier die Gelegenheit, mit ihren exe-kutiven Brüdern und Schwestern aus der EU zusammenzuarbeiten, d.h. die Vertreter der Regierungen und Polizeien dieser beiden Staaten beraten mit. Sie erzielen in der Regel wundersame Einigkeit mit ihren EU-Kollegen und gehen dann mit diesen Be-schlüssen nach Hause, um ihren Parlamenten zu sagen: Ihr habt das zu überneh-men. Norwegen und Island müssen den vollständigen Schengen-Acquis umsetzen, samt der Beschlüsse des Rates, die ihn aufdatieren und erweitern. Dies hätte auch die Schweiz zu tun, wenn sie eine Schengen-Assoziation erreicht. Logischerweise dient diese Art der Assoziation ausschliesslich den Polizeien und Polizeiministerien, im schweizerischen Fall dem EJPD. Das Parlament wird kalt gestellt.



An diesem Punkt ist zunächst festzuhalten: Die Schengen-Kooperation ist von ihrem Ursprung her eine rein exekutive Angelegenheit gewesen. Im Exekutivaus-schuss hatten ausschliesslich Ministerialbeamte und Polizeivertreter das Sagen. Dies hat sich nach der Integration Schengens in die EU nicht wesentlich geändert. Die Schengen-Assoziation der Schweiz bedeutet einen Freibrief für die Polizei und das EJPD, die gemeinsam mit ihren Partnern in der EU ihre Planungen vorbereiten, ohne dass sonst jemand Einfluss darauf hätte.





Das Schengener Grenzregime - eine Maschine zur Produktion von Sans-papiers

Binnengrenzen auf - Aussengrenzen dicht. Dies ist auf den ersten Blick das Schen-gener Motto. Tatsächlich ist die erste Seite dieses Prinzips nicht wirklich umgesetzt worden und die zweite Seite nicht umsetzbar. Was die Binnengrenzen betrifft, so haben die Schengener Vertragsstaaten weidlich von der Ausnahmemöglichkeit des Art. 2 Abs. 2 des Abkommens Gebrauch gemacht. Frankreich tat dies 1995 just zu dem Zeitpunkt, als das Abkommen in Kraft trat. Begründet wurde die Aufrechterhal-tung der Grenzkontrollen mit der Serie von Anschlägen in diesem Jahre. Aber auch nach deren Ende wurden die Kontrollen an den Grenzen zu Belgien und Luxemburg weitergeführt. Diese seien die Einfallstore für den Drogenschmuggel aus den dro-genpolitisch liberalen Niederlanden. Während Grenzkontrollen an den französischen Grenzen zu den EU-Nachbarn weiterhin zum Normalfall gehören, haben die anderen Vertragsstaaten die Kontrollen jeweils zu bestimmten Ereignissen - Fussballspielen, aber auch Grossdemonstrationen - wieder eingeführt.



Darüber hinaus ersetzten sie die Kontrollen an der Grenzlinie durch Kontrollen im Inland. Diese Praxis kann sich zwar nicht auf das Abkommen selbst stützen. Sie bildet aber eine politische Folgerung im Inland, die in Deutschland - im Bundes-grenzschutzgesetz sowie in den Polizeigesetzen der Bundesländer - formal festge-schrieben wurde. In zusätzlichen bilateralen Verträgen haben die Schengen-Staaten darüber hinaus eine allgemeine polizeiliche und grenzpolizeiliche Kooperation im Hinterland der Binnengrenzen vereinbart, die u.a. die Errichtung gemeinsamer Kommissariate und die Koordination von Grenzstreifen und verdachtsunabhängigen Kontrollen beinhaltet.



Obwohl das Ziel, die Grenzkontrollen an den Binnengrenzen abzuschaffen, bei Lichte betrachtet, dazu hätte führen müssen, dass ein grosser Teil der Grenzpo-lizisten ihre Arbeit verliert, haben die Grenzpolizeien in den 90er Jahren einen mas-siven Ausbau erlebt. So ist der deutsche Bundesgrezschutz (BGS) auch heute noch an den angeblich nicht mehr kontrollierten Westgrenzen stark präsent. Seine In-landskontrollen im Hinterland sind schwerpunktmässig gegen AusländerInnen oder ausländisch aussehende Personen gerichtet.



Ähnliches gilt für die Grenzpolizeien anderer EU-Staaten, die Police de l’air et des frontières in Frankreich, die heute zu einer „Direccion du contrôle de l’immigration et de la lutte contre l’empoi des clandestins“ geworden ist, zu einer „Di-rektion der Einwanderungskontrolle und der Bekämpfung der Anstellung von Illega-len“. Auch die niederländische Marechaussee, die nach Schengen eigentlich nur noch die Häfen und Flughäfen zu kontrollieren hätte, ist mittlerweile auf der Suche nach Illegalen im Innern.





Für die Kontrolle und Überwachung der Aussengrenzen legte das Schengener Abkommen gemeinsame Standards fest. Das Ziel, die Aussengrenzen wasserdicht abzuschotten, kann zwar nicht erreicht werden, trotzdem wird fleissig daran gearbei-tet. Die Folge davon war ein massiver Ausbau der Grenzpolizeien. Der deutsche BGS war bis 1990 nur in geringem Umfang eine wirkliche Grenzpolizei. Seine Funk-tion bestand zum grössten Teil in der politischen Erziehung mit Tränengas und Knüppel, die er den verschiedensten sozialen Bewegungen seit den 70er Jahren angedeihen liess. Rein zahlenmässig war der damalige Grenzschutzeinzeldienst, der noch früher Passkontrolldienst hiess, eine zu vernachlässigende Grösse. Die Kontrolle der deutschen Westgrenzen spielte eine untergeordnete Rolle, die Ostgrenze der alten BRD zu den feindlichen Brüdern und Schwestern in der DDR wurde zum Teil erheblich genauer kontrolliert. Sie war der Freibrief, um die Personen auf dem Transitwege zwischen Westberlin und dem Bundesgebiet zu checken, quasi eine Inlandskontrolle. Mit der Wiedervereinigung erhielt der BGS nicht nur eine neue Grenze, sondern gleichzeitig eine, die er nach dem Aussengrenzenstandard des Schengener Abkommens und des entsprechenden Schengener Handbuchs zu überwachen hatte.



In Art. 6 des Schengener Durchführungsübereinkommens wird der Kontroll-standard vorgegeben. Unterteilt wird dabei zwischen der Kontrolle am Grenzüber-gang und der Überwachung der grünen und blauen Grenze. Am Grenzübergang gilt:

· für alle Personen: mindestens eine Abfrage im Schengener Informationssystem und im nationalen Fahndungssystem,

· für Nicht-EU-BürgerInnen: zusätzlich eine „eingehende Kontrolle“ auch der mitge-führten Sachen,

· in Stosszeiten: Vorrang der Kontrolle des Einreise- vor dem Ausreiseverkehr.

· An der grünen und blauen Grenze soll eine konsequente Überwachung erfolgen.

In Art. 6 Abs. 4 des Schengener Abkommen heisst es: „Die Vertragsparteien ver-pflichten sich, geeignete Kräfte in ausreichender Zahl für die Durchführung der Kon-trollen und die Überwachung der Aussengrenzen zur Verfügung zu stellen.“



1994 und 1997 entsandte der Schengener Exekutivausschuss Besuchsteams an die Aussengrenzen, die überprüfen sollten, ob der in einem dicken Handbuch spezifizierte Standard tatsächlich eingehalten würde. Die Besuchsteams von 1997 kamen zu einem bemerkenswerten Urteil. Sie stellten fest: „Trotz aller Anstrengun-gen“ werde es nicht gelingen, „die absolute Undurchdringlichkeit der Aussengrenzen zu gewährleisten“. Die Konsequenz daraus lautete nicht: wir müssen unsere Politik anders orientieren. Nein: „Die Anstrengungen, die sowohl auf eine höhere Kontroll-ebene als auch auf Verbesserungen im Bereich des Materialaufwandes, der Techni-ken und des Personalaufgebots zielen, müssen fortgesetzt werden.“



Ein besonderes Lob für ihre Anstrengungen erhielten damals Deutschland und der seinerzeitige Schengen-Neuling Österreich. Deutschland könne an seinen Ostgrenzen „ein umfangsreiches Entwicklungsprojekt“ vorweisen. Im Juni 1996 wa-ren dort über 4’500 BGS-Beamte eingesetzt, die im Rahmen der BGS-Neuorganisation um weitere 1.500 aufgestockt werden sollten. Hinzu kamen rund 1.000 grenzpolizeilche Unterstützungskräfte und weitere etwa 1.500 Beamte des Zollgrenzdienstes.



Alle Grenzübergänge hatten einen Zugang zum SIS und/oder zum nationalen Fahndungssystem INPOL. Hinzu kamen weitere informationstechnische Anlagen. In einigen EU-Ländern waren bereits zu dieser Zeit Datenbanken im Einsatz, die einen Überblick über echte und gefälschte amtliche Dokumente vermitteln. Daneben sind weitere Gerätschaften an den Grenzübergängen und zur Kontrolle der grünen Gren-ze im Einsatz, die die alte Grenze zwischen den beiden Deutschlands - jedenfalls was die Technik angeht - alt aussehen lassen. Hier eine Liste: · Wärmebildgeräte,

· Infrarot- und Nachtsichtgeräte

· CO2-Sonden, mit denen Atemluft in geschlossenen Containern nachgewiesen werden kann,

· Wandschichtdickenmessgeräte,

· Leucht- und Steroelupen,

· UV-Lampen,

· sonstige Detektionsgeräte für gefälschte Papiere,

· Helikopter,

· Schnellboote, etc.

Festzuhalten ist, dass sich trotzdem keine dichte Grenze erreichen lässt. Die Folge davon ist aber, dass diejenigen, die es trotzdem schaffen, den Wall zu über-winden, sich im Innern der Burg als Paria, als Freiwild nicht nur für polizeiliche Aktio-nen, sondern auch für die ökonomische Überausbeutung finden. Das Schengener Grenzregime ist damit nichts anderes als eine Maschine zur Produktion von Sans-papiers.

Bisher wurden diese Aufgaben sozusagen im europäischen Auftrag von den nationalen Grenzpolizeien erfüllt. Nun gibt es plötzlich Forderungen nach einer ge-meinsamen EU-Grenzpolizei. Die Gründe dafür dürften u.a. darin zu suchen sein, dass man den EU-Beitrittskandidaten im Osten nicht zutraut, die dereinst neuen Aussengrenzen der Union so zu sichern, wie es dieser Standard vorschreibt.

Das Schengener Informationssystem - technisches Instrument der Ausgrenzung

Als das SIS Ende der 80er Jahre geplant wurde, versuchten die beteiligten Polizeien der Vertragsstaaten dieses System als das Instrument zur Bekämpfung der organi-sierten und schweren Kriminalität zu verkaufen. Ohne diesen Fahndungsverbund - so hiess es - würde Europa zum Frass der kriminellen Raben. Ab 1995 wurde das System in Betrieb genommen. Heute sind fünfzehn Staaten daran beteiligt: dreizehn EU-Staaten - d.h. alle ausser Grossbritannien und Irland - und zwei Nicht-EU-Staaten - Norwegen und Island.

Das SIS besteht aus einer zentralen Komponente mit Sitz in Strasbourg (C.SIS) und jeweils nationalen Komponenten (N.SIS) in den Mitgliedstaaten. Das C.SIS sorgt in erster Linie dafür, dass sämtliche Daten in den nationalen Systemen parallel gespeichert werden. Die Eingabe erfolgt von zentralen Stützpunkten in den beteiligten Staaten, den sog. SIRENE-Büros, die im allgemeinen bei den polizeili-chen Zentralstellen angesiedelt sind. Diese Stellen werden auch benachrichtigt, wenn in einem der anderen Vertragsstaaten ein „Fahndungstreffer“ erzielt wurde. Sie sollen dann jeweils innerhalb kürzester Frist mitteilen, was zu tun ist und zusätzliche Informationen liefern - daher auch der Name: SIRENE steht für Supplementary In-formation Requests at the National Entry. An die nationalen Komponenten des SIS sind jeweils die Behörden des betreffenden Staates angeschlossen: die Grenzpoli-zeien und Zollbehörden, die für Kontrollen im Inland zuständigen Polizeistellen sowie die Ausländerbehörden und konsularischen Stellen, die für die Vergabe von Visa zuständig sind.

Gefahndet wird nach Personen und Sachen. Die SIS-Arbeitsgruppe des Ra-tes schätzte im März 2001, dass zum Jahreswechsel insgesamt 14 Mio. Datensätze im SIS enthalten sein würden. Die weitaus überwiegende Zahl würde sich - wie bis-her - auf Sachen beziehen. Die Sachfahndung umfasst derzeit Banknoten, Perso-naldokumente (inkl. Blankodokumente), Schusswaffen und Fahrzeuge. Die hohe Zahl der ausgeschriebenen Sachen verdankt sich vor allem der Tatsache, dass bei Banknoten (z.B. Lösegeld) die Nummer jedes einzelnen Geldscheines, dass jeder verloren gemeldete Pass oder Personalausweis etc. gespeichert wird.

Die Zahl der personenbezogenen Datensätze sollte sich Ende 2001 auf rund 1,9 Mio. belaufen. Betrachtet man sich die Kategorien dieser Personendaten genau-er, so wird klar, dass das anfängliche Verkaufsargument - das SIS als Waffe gegen die organisierte Kriminalität - erstunken und erlogen war. Da der Rat seit der Integra-tion Schengens in die EU-Strukturen keine Tätigskeitsberichte mehr herausgibt, müssen wir uns hier auf Informationen aus zurückligenden Jahren beziehen. Dabei wird folgendes deutlich:

Nur etwa 1 Prozent der gesamten Personen-Ausschreibungen bezieht sich jeweils auf Personen, die aufgrund eines Haftbefehls zur Festnahme und Ausliefe-rung in den ausschreibenden Staat gesucht werden. Eine solche Ausschreibung ist möglich, wenn der oder die Betroffene wegen einer auslieferungsfähigen Straftat gesucht wird, d.h. wegen eines Delikts, auf das mindestens ein Jahr Haft als Strafe steht. Nur von diesem einen Prozent der Personendaten kann behauptet werden, dass es sich auf ansatzweise schwere Kriminalität bezieht.

Dagegen entfielen im Laufe der Jahre ständig zwischen 80 und 90 Prozent der Personendaten auf Menschen, die definitiv nicht wegen einer Straftat gesucht wurden. Nach Art. 96 des Schengener Abkommens können Nicht-EU-Staatsangehörige zur Ausschaffung oder zur Zurückweisung an den Grenzen im SIS ausgeschrieben werden.

Die restlichen Daten entfallen auf Ausschreibungen zur Aufenthaltsermittlung (von vermissten oder verwirrten Personen sowie von Zeugen und Beschuldigten kleinerer Straftaten) und zur polizeilichen Beobachtung: Im letzteren Falle sollen die Ausgeschriebenen nicht festgenommen, sondern vielmehr überwacht werden. Ort und Umstände der Kontrolle sowie begleitende Personen sollen an die ausschrei-bende Stelle gemeldet werden. Ausgeschrieben werden nicht Verdächtige, sondern Personen, von denen die Polizei annimmt, dass sie vielleicht irgendwann Straftaten begehen könnten (entspricht dem Ü-Vermerk im schweizerischen Fahndungssystem RIPOL). Insgesamt hat also das SIS nur wenig mit Strafverfolgung, aber um so mehr mit der Durchsetzung einer restriktiven Ausländerpolitik zu tun.

Neugestaltung - das SIS der zweiten Generation

Das bestehende SIS war Ende der 80er Jahre geplant worden, zu einem Zeitpunkt, da die Schengen-Gruppe gerade fünf Mitgliedstaaten hatte. Da man bereits zu die-sem Zeitpunkt davon ausging, dass sich weitere EU-Staaten an dem System beteili-gen würden, wurde es auf den Anschluss von acht Staaten ausgelegt. Diese Grenze ist längst überschritten. Schon beim Anschluss Österreichs, Griechenlands und Ita-liens wurden technische Schwierigkeiten offenbar. Im Dezember 1996 beschloss der Schengener Exekutivausschuss daher auf längere Sicht ein „SIS der zweiten Gene-ration“ aufbauen zu wollen. Für die inzwischen vollzogene Beteiligung der nordi-schen Staaten wurde das System kurzfristig zum „SIS 1 plus“ verstärkt.

Im vergangenen Jahr sind die Diskussionen über die Ausgestaltung des neu-en SIS 2 in eine entscheidende Phase getreten. Bereits im Frühjahr befürworteten die SIS-Arbeitsgruppe des Rates sowie der gemischte Ausschuss nicht nur eine technische Vergrösserung, sondern eine Reihe von inhaltlichen Erweiterungen. Da-bei ging es u.a. um eine längere Laufzeit für Daten nach Art. 96 (Ausschaffung und Zurückweisung) und Art. 99 (polizeiliche Beobachtung). Diese betragen bisher drei bzw. ein Jahr und sollten nach Ansicht der Ratsarbeitsgruppen auf fünf bzw. drei Jahre heraufgeschraubt werden. Eine solche Verlängerung der Laufzeit hätte auto-matisch auch eine Steigerung der Zahl der gespeicherten Personen zur Folge.

Auch die Datensätze selbst sollen erweitert werden. Bisher umfassten Perso-nendaten nur die Personalien, den Grund der Ausschreibung, die ausschreibende Stelle sowie allenfalls die Personenbezogenen Hinweise „bewaffnet“ oder „gewalttä-tig“. Das neue SIS soll den Vorstellungen der Arbeitsgruppe gemäss auch Finge-rabdrücke, Fotos oder gar DNA-Profile enthalten.

Seit den Anschlägen in den USA sind die Ausbauvorstellungen erneut erwei-tert worden. Begründet wird das ganze mit der Terrorismusbekämpfung. Die belgi-sche Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2001 hat u.a. vorgeschlagen, das SIS zu einem Visumskontrollsystem auszubauen. Nicht-EU-BürgerInnen würden mit der Visumsvergabe gleichzeitig im SIS registriert. Der Datensatz würde solange „blind“ bleiben, d.h. er könnte bei einer Abfrage nicht eingesehen werden, solange das Vi-sum gültig ist. Mit seinem Ablauf würde die Ausschreibung automatisch aktiviert, es sei denn, das Visum sei verlängert worden oder die Person sei fristgerecht ausge-reist. Dieser Vorschlag hat unweigerlich eine massive Steigerung der Zahl der ge-speicherten Daten zur Konsequenz. Er setzt BürgerInnen aus Nicht-EU-Staaten un-ter einen Generalverdacht und programmiert polizeiliche Willkür vor: Wenn eine Vi-sumsverlängerung nicht mitgeteilt wird, laufen Personen mit legalem Aufenthaltssta-tus Gefahr, in Ausschaffungshaft zu landen. Wird eine fristgerechte Ausreise nicht registriert, so kann die betroffene Person damit rechnen, dass ein neuerlicher Vi-sumsantrag abgelehnt wird. Der Rat konstruiert damit ein bürokratisches Monstrum.

Der zweite Teil des belgischen Vorschlags zielt darauf ab, „potenziell gefährli-che Personen von der Teilnahme an bestimmten Ereignissen“ abzuhalten. Um dies zu erreichen sollen „violent troublemakers“ zur polizeilichen Beobachtung nach Art. 99 ausgeschrieben werden. „So könnte ein gewalttätiger Fussballfan ... daran gehin-dert werden, ein Fussballspiel zu besuchen. Die Massnahme könnte auch auf ge-waltbereite DemonstrantInnen ausgedehnt werden.“ Schon nach den Protesten ge-gen den EU-Gipfel in Göteborg und den G8-Gipfel in Genua gab es Hinweise darauf, dass das SIS zur Durchsetzung von Einreise- und Ausreiseverboten genutzt worden war. Jetzt soll diese Praxis im Schengener Abkommen ausdrücklich festgeschreiben werden. Kein Wunder, dass die SIS-Arbeitsgruppe des Rates nun auch einen kon-kreten Vorschlag für den Zugang von Geheimdiensten zum SIS erarbeiten will.


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