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Mythenproduktion im Dienste des Demokratieabbaus

Zum 1. August – das Datum ist für den Stil des Manifestes bezeichnend – veröffentlichte eine Gruppe von Schweizer Politkern, Professoren und Publizisten1), der sich „Club Helvétique“ nennt, eine Manifest, das den EU-Beitritt fordert. Das Manifest ist wenig argumentativ. Statt dessen versucht man, Mythen zu produzieren. Eine offen neoliberale Politik wird als „Rücksichtnahme auf Schwächer“ verkauft, substantielle Demokratieverluste im Falle eines EU-Beitritts gar als „Belebung der direkten Demokratie“.

Von Paul Ruppen

Zum Einstieg wird ein helvetisches Paradox diagnostiziert: „Je enger die Beziehungen zur EU, desto grösser die innere Distanz vieler Schweizerinnen und Schweizer.“ Es wird nicht erläutert, inwiefern hier ein Paradox vorliegt. Es ist keineswegs paradox, bei einer enger werdenden Beziehung die innere Distanz zu erhöhen, vor allem wenn man bei der Wahl der Partner keine Wahl hat. Es ist zudem eine bekannte Tatsache, dass die EU-Skepsis mit dem Wissen über die EU wächst – ausser bei jenen „Eliten“, die von der EU-Integration und dem entsprechenden Demokratie-Abbau profitieren und die deshalb immun gegenüber EU-Skepsis sind. Je näher eine Beziehung, desto grösser im Allgemeinen das Wissen über den Partner. Entsprechend ist die grössere innere Distanz keineswegs paradox, sondern eine verständliche Folge der Nähe. Die Autoren fahren fort: „Die Feindschaft zu einem Freund verspannt immer mehr unser Land.“ Innere Distanz wird plötzlich zur „Feindschaft“. Von einer Feindschaft der Schweizer Bevölkerung der EU gegenüber zu sprechen, ist offensichtlich eine Übertreibung. Ein Mangel an Begeisterung, die gegenüber Staaten oder staatsähnlichen Gebilden nie am Platz ist, kann schwerlich zu einer Feindschaft hochstilisiert werden. Zudem ist auch nicht klar, inwiefern „unser Land“ verspannt ist – wegen der „Feindschaft“ zur EU. Projizieren die EU-Beitrittsbefürworter eigene Verspannungen, die der ziemlich irrationalen Sehnsucht nach einem EU-Beitritt entspringen, in „unser Land“?

„Unser Bundesstaat ist für die Lösung vieler kleiner Probleme zu gross: Deshalb haben wir den Föderalismus. Unser Bundesstaat ist für die Lösung vieler grosser Probleme zu klein: Deshalb brauchen wir die europäische Einigung.“ Solche Behauptungen kommen ohne Beleg aus. Ein konkretes Beispiel dafür, was ein zu grosses Problem ist und inwiefern die EU für die Lösung des Problems besser geeignet ist als z.B. eine lockere Kooperation von Staaten oder die eigenständige Lösung des Problems in den verschiedenen Staaten, wäre angebracht. Ein konkretes Beispiel hätte allerdings für die Verfasser des Manifestes den Nachteil, dass es kritisierbar wäre. In die Niederungen konkreter Argumentation lässt man sich nicht hinab.

Für den Versuch, Mythen zu produzieren, ist der im Manifest immer wiederkehrende Vergleich der Schweiz mit der EU-Intergration typisch: „Wie die 26 Kantone suchen die 27 EU-Mitglieder den Ausgleich der Interessen: Die EU ist auf dem langen Weg zu einer „europäischen Eidgenossenschaft“, in der Vielfalt der Kulturen herrscht.“ „Unsere Willensnation gehört in die europäische Willensunion.“ Es handelt sich dabei um ein Mythenproduktionsmuster, das in vielen Ländern vor EU-Beitrittsabstimmungen von den EU-Befürworten gepflegt wurde: didaktisch nimmt man sich des eher dumpfen Volkes an, appelliert an seinen Stolz, an das was es kennt, und konstruiert Kontinuitäten: das „Eigene“ (z.B. Föderalismus, Demokratie, Sozialstaat, etc.) wird gemäss EU-Beitrittsbefürworten zum allgemeinen Vorbild, beeinflusst „Europa“ und entfaltet erst so seine echte und wahre Grösse – worauf das dumpfe Volk dann so richtig stolz sein darf. In Tat und Wahrheit werden die jeweiligen „nationalen“ Errungenschaften durch die EU-Integration gründlich entsorgt.

Bezeichnender weise fahren die Manifestanten fort: „Soziale Marktwirtschaft bedeutet Rücksicht auf Schwächere. Europäische Einigung bedeutet Rücksicht auf EU-Partner: Beides zeugt vom Sinn für Gleichgewichte, einem Grundwert der Eidgenossenschaft.“ Was ist an der „sozialen Marktwirtschaft“ sozial? Die Theorie der sozialen Marktwirtschaft ist eine Version des Neoliberalismus, der sich in den 1930er und 1940er Jahren in unterschiedlicher Ausprägung entwickelte, wobei der Ordoliberalismus der Freiburger Schule bei der Entwicklung der Konzepte der „sozialen Marktwirtschaft“ eine besondere Rolle spielte. Die „soziale Marktwirtschaft“ steht für eine Wettbewerbsordnung ein, die Effizienz und Freiheit durch das ungehinderte Wirken des Wettbewerbsprozesses garantieren will. Die konstituierenden Prinzipien der Wettbewerbsordnung sind ein funktionsfähiges Preissystem, Primat der Währungspolitik, freier Zugang zu den Märkten, Privateigentum an Produktionsmitteln, Vertragsfreiheit, Haftungsprinzip und Konstanz der Wirtschaftspolitik. Die wichtigste wirtschaftspolitische Aufgabe des Staats ist es, wirtschaftliche Machtkonzentrationen durch Monopole, Kartelle und andere Formen der Marktbeherrschung zu verhindern, ebenso problematisch gemäss „sozialer Marktwirtschaft“ sind staatliche Monopole. Auch auf den Arbeitsmärkten sollten weder Anbieter noch Nachfrager über monopolistische Machtpositionen verfügen. Um Ausbeutung zu verhindern, müsse der „Vermachtung“ auf den Arbeitsmärkten durch monopolartige Organisationen entgegengewirkt werden, vor allem durch die Gewerkschaften. Für „soziale Marktwirtschaftler“ ist richtig verstandene Sozialpolitik eine Ordnungspolitik, die den Markt belebt und dadurch den Individuen Hilfe zur Selbsthilfe ermöglicht. Den Mitte der 60er Jahre einsetzenden Ausbau des Sozialstaats kritisierten Müller-Armack und andere namhafte Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft als „sozialpolitische Überfrachtung“. Soweit zur „Rücksicht auf die Schwächeren“ in der „sozialen Marktwirtschaft“. Wenigstens weiss man nun, für welche Politik die Sozialdemokraten und Grünen unter den Verfassern des Manifestes eintreten.

Die Passage verschleiert zudem die faktische Vormacht der grossen Staaten in der EU. Dies drückt sich einerseits in den Stimmrechten aus: die grossen Staaten haben nicht nur mehr Stimmen als die kleinen, sondern sogar überproportional viel Stimmrecht, wie im letzten EM gezeigt wurde. In den faktischen Entscheidungsprozessen schalten Frankreich und Deutschland die Mitbestimmung der anderen Staaten oft dadurch aus, dass sie sich vorher absprechen und ihre Entscheidungen dann durchdrücken. Das Verfahren im Rahmen des „Konvents über die Zukunft Europas“, der den EU-Verfassungsvertrag erarbeitete, war diesbezüglich aufschlussreich. Um faktische Entscheidungsprozesse kümmern sich die Verfasser des Manifestes jedoch nicht: es genügt ihnen, sich in ihren eigenen Vorstellungen von „Europa“ zu bewegen.

Die Verfasser des Manifestes fahren fort: „Der europäische Binnenmarkt ist ein gewaltiger Vorteil für unsere Wirtschaft: Er trägt zum Schweizer Wohlstand bei.“ Diesbezüglich ist zu sagen, dass die Vorteile des EU-Freihandels im Allgemeinen überschätzt werden und empirisch nicht nachgewiesen werden können. Der Effekt der Bilateralen Verträge auf das Wachstum der Schweizer Wirtschaft wird auf etwa 0.5% geschätzt, über mehrere Jahre verteilt. Da von einem „gewaltigen Vorteil“ zu sprechen, ist offensichtlich eine Übertreibung. Was durch EU-Freihandel vor allem wächst, ist der Warenverkehr, der freilich auch einen Beitrag zum Bruttosozialprodukt liefert. Wie sinnvoll entsprechendes Wachstum ist, ist allerdings fragwürdig.

„Nach der Krise werden grosse Staaten und Staatengruppen die Globalisierung steuern: Nur als Mitglied der EU-Staatengruppe kann die Schweiz ihre Interessen wirksam vertreten. Die EU ist eine Rechtsgemeinschaft, die unter ihren 27 Mitgliedern das in der Weltpolitik übliche Recht des Stärkeren einschränkt: Ein Kleinstaat ist besonders darauf angewiesen.“ Die Verfasser kommen mit dieser Passage endlich auf ihren Punkt: sie möchten beim EU-Grossmachtprojekt mitmachen, damit die offiziellen Vertreter der Schweiz gewisse Interessen in der Schweiz – als „die Interessen der Schweiz“ cachiert – besser und vor allem ohne demokratische Kontrolle effizienter durchsetzen können. Die EU schränkt dabei natürlich nicht das Recht des Stärkeren ein, wie es euphemistisch heisst, sondern möchte selber aktiv das Recht des Stärken spielen lassen, wie sich durch unzählige Verlautbarungen von EU-Politikern nachweisen lässt (siehe z.B. auf unserer Home-Page unter „Aufschlussreiche Zitate“).

Die Autoren beklagen in der Folge den „demütigenden ‚autonomen Nachvollzug’ von EU-Beschlüssen“. Dabei wird unterlassen zu erwähnen, dass dieser autonome Nachvollzug vor allem im Bestreben der Schweizer Politiker besteht, sich möglichst schnell der EU-Gesetzgebung in möglichst vielen Bereichen anzupassen. Entsprechende Beschlüsse, die Gesetze anzupassen, ausser im Falle klarer Vorteile abweichender Gesetzgebung, wurden in den 90er Jahren gefällt. Viel vom „autonomen Nachvollzug“ ist nicht durch irgendwelche (wirtschaftliche) Notwendigkeiten gegeben, sondern durch den politischen Anpassungswillen der Politiker in der Schweiz. Unter anderem sollen so mögliche „Beitrittshürden“ abgeschafft werden. Zudem ergibt sich dadurch die Möglichkeit über den „unwürdigen autonomen Nachvollzug“ zu jammern. In der von Orwell treffend beschriebenen Art (Farm der Tiere) versteigen sich die Autoren dann zur Aussage: „Als EU-Mitglied wird die Schweiz freier als im Alleingang.“ Aufgabe von Souveränität, Grundlage demokratischer Entscheidungen, wird als Freiheit deklariert.

„Die Mächtigen auf den Weltmärkten schaffen – an Volk und Parlament vorbei – vollendete Tatsachen. Dabei erodieren nationale Demokratien.“ Damit wird in der Tat ein reales Problem angesprochen. Allerdings versucht man eine Verschärfung des Problems als dessen Lösung zu verkaufen. Durch die „transnationale“ Politik wird die Entdemokratisierung nämlich vorangetrieben. Wieso man diese ungeeignete „Medizin“ für ein echtes Problem wählt, wird in der folgenden Passage klar: „Die Schweiz muss sich in den Auf- und Ausbau der europäischen Demokratie einbringen: Nur eine transnationale Politik kann der transnationalen Wirtschaft den notwendigen Rahmen setzen.“ Nach den Ausführungen zur „sozialen Marktwirtschaft“ wird klar, was hier angepeilt wird. Die neoliberale Deregulierung, „soziale Marktwirtschaft“ genannt, wäre in der Tat ohne „transnationale“ Politik nicht möglich. Der dafür notwendige Rahmen wäre in von den Bevölkerungen kontrollierten Demokratien kaum durchsetzbar.

Mit Erstaunen liest man in der Folge, dass die direkte Demokratie durch den EU-Beitritt eine „Belebung“ erhalten würde. „Neue Instrumente wie das Konstruktive Referendum, die Gesetzesinitiative, Euromotionen, Abstimmungen über die Art der Umsetzung allgemein gehaltener EU-Richtlinien, Abstimmungen vor grundlegenden Stellungnahmen der Schweiz, aber auch weitere Demokratisierungen wie die Transparenz der Finanzierung von Parteien und Kampagnen können einzelne Abstriche mehr als wettmachen.“ Das konstruktive Referendum, die Gesetzesinitiative sowie die Transparenz der Finanzierung von Parteien und Kampagnen werden durch den EU-Beitritt nicht erzwungen und können auch ohne EU-Beitritt selber eingeführt werden, wenn der entsprechende Wille besteht. Die Euromotion ist kein wirksames Instrument, solange den Regierungen nicht verbindliche Aufträge für Verhandlungen in den Ministerräten auferlegt werden können und die entsprechenden Verhandlungen geheim verlaufen. Abstimmungen über die „Art der Umsetzung allgemein gehaltener EU-Richtlinien“ sind nicht besonders sinnvoll, da die EU-Richtlinien im Allgemeinen sehr konkret sind und bei der Umsetzung nicht viel Spielraum verbleibt, wie Spezialisten des EU-Rechtes immer wieder nachweisen. Der EU-Beitritt führt also keineswegs zu einer „Belebung“ der direkten Demokratie: weiche, unverbindliche Instrumente würden vielmehr verbindliche Rechte ersetzen. Die massive Einschränkung der Reichweite der direkten Demokratie bei einem Beitritt – beschönigend „einzelne Abstriche“ genannt“ – wird durch diese „neuen Instrumente“ keineswegs wettgemacht.

„Der Bilateralismus ist bald am Ende: Die Schweiz wird zum EU-Mitglied ohne Stimmrecht. Nur als EU-Mitglied kann die Schweiz mitreden, mitentscheiden, mitgestalten. Wir können nicht hinnehmen,
• dass die Schweiz mitten in Europa am Rande bleibt;
• dass sie sich auf dem eigenen Kontinent ausgrenzt;
• dass sie an der europäischen Debatte nicht teilhat;
• dass sie sich selbst benachteiligt, statt ihre Interessen gleichberechtigt wahrzunehmen.

Einer Debatte über den EU-Beitritt auszuweichen, sie zu tabuisieren, widerspricht dem Geist der Aufklärung und des erkenntnisorientierten Dialogs. Es erschwert die Meinungsbildung im Volk und schränkt die Handlungsoptionen der Schweiz ein.

Die Verweigerung gegenüber der Europafrage schwächt unsere Demokratie, unser Land und unsere Identität. Wir wollen sowohl unsere Interessen als auch Verantwortung wahrnehmen. Wir Schweizerinnen und Schweizer, Europäerinnen und Europäer wollen unseren Beitrag zum Aufbau der Europäischen Union leisten. Unsere Willensnation gehört in die europäische Willensunion.“

Ziemlich viel Pathos, um eine neoliberale, antidemokratische Politik zu verfolgen! Leider ist der „Geist der Aufklärung“ nicht so stark, dass er gegen seine Anrufung zwecks Mythenproduktion wirksam wird.

1) Der „Club Helvétique“ führt folgende Personen als Mitglieder auf: Cécile Bühlmann, Josef Estermann, Hildegard Fässler, Andi Gross, Barbara Haering, Ueli Heiniger, Martin Heller, Irene Herrmann, Kurt Imhof, Georg Kreis, Joëlle Kuntz, Dick Marty, Aram Mattioli, Jörg Paul Müller, Giusep Nay, Regina Ogorek, Gilles Petitpierre, Jacques Picard, Chasper Pult, Martin Schaffner, Walter Schmid, Hansjörg Siegenthaler, Hans Stöckli, Urs W. Studer, Roger de Weck, Myrtha Welti. Das Manifest findet man unter http://www.clubhelvetique.ch/


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