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Nachlese zum gescheiterten Rahmenabkommen

Der Machtpoker der EU hat vorläufig Schiffbruch erlitten.

Das völlig ungleichgewichtige Rahmenabkommen Schweiz-EU ist gescheitert. Dies, obwohl der Bundesrat der EU schon viel zu weit entgegengekommen ist: mit der Einwilligung zur Ausweitung der Guillotine-Klausel und der Anerkennung des demokratisch unkontrollierten EU-Gerichtshofes als letzter Instanz bei Auslegungsdifferenzen bezüglich des automatisch zu übernehmenden EU-Rechts. Die EU wollte – stur auf ihren Machtvorteil setzend – ihren Standpunkt durchsetzen und ist damit, jedenfalls vorerst gescheitert. Eventuell wird sie ihre Politik der Nadelstiche fortsetzen, wodurch sie allerdings nur beweist, dass sie nicht ein Projekt europäischer Zusammenarbeit ist.

Nachdem sich die Diskussionen ums Rahmenabkommen über Jahre hinweg hingezogen hatten und man kaum mehr den Überblick bezüglich der Aufs und Abs wahren konnte, kam die Angelegenheit zu einem Ende. Als der Vertragsentwurf nach einiger Geheimniskrämerei und zuerst nur auf Französisch vorlag – offenbar war man sich des Sprengstoffs der Vorlage bewusst – konnte man diesen genauer studieren und man musste sich die Augen reiben. Was da stand, war eine besonders krasse Form eines vertraglich vereinbarten Ungleichgewichts (für eine detaillierte Analyse s. https://www.europa-magazin.ch/europamagazin/Aktuell/Dossiers-Schweiz/16/cmd.14/audience.D, oder in der Papierversion EM 2/2019, S. 17) . Entsprechend zögerlich verhielt sich der Bundesrat, zog nach öffentlicher Kritik am Entwurf des Abkommens nachträglich rote Linien und verlangte Präzisierungen.

Widerstand ergab sich bezüglich verschiedener Punkte:

• Lohnschutz (Widerstand von den Gewerkschaften),

• Unionsbürgerrichtlinie (Widerstand aus bürgerlichen Kreisen),

• staatliche Beihilfen (Widerstand von den Kantonen),

• automatische Rechtsübernahme in den Bereichen der Verträge,

• Ausweitung der Guillotine-Klausel,

• «Erneuerung» des Freihandelsabkommens von 1972 und Unterstellung des Abkommens unter die Guillotine-Klausel und schliesslich

• die Anerkennung des EU-Gerichtshofes – jenes politischen Gerichtes der Gegenseite, das für seine eigenmächtigen Erweiterungen des EU-Rechtes besonders zu Lasten von Arbeitnehmern bekannt ist – als letzter Instanz bei Auslegungsdifferenzen.

Der Bundesrat pickte sich aus diesen Punkten die ersten drei heraus, wohl weil hier klar definierter Widerstand von Kräften kam, die das Rahmenabkommen in der Volksabstimmung mit grosser Wahrscheinlichkeit hätte scheitern lassen. Hier wollte er Nachbesserungen. Die übrigen Punkte betreffen souveränitätspolitische Aspekte, welche dem Tagesgeschäft verpflichtete politische Kräfte weniger interessierten. Man war entsprechend bereit, ein gutes Stück Souveränität, Voraussetzung der Demokratie, leichtfertig zu opfern. Da die EU auf stur stellte, ist das Abkommen schliesslich am 26. Mai 2021 offiziell gescheitert, wobei sich das Hinsiechen vor dem endgültigen Tod noch über Monate hinzog. Da muss hinter den Kulissen viel «gegangen» sein.

Letztes Aufbäumen der Rechtsliberalen

Als das Scheitern greifbar wurde, rührten sich die Rechtsliberalen (Rechtsliberal definiert als «Befürwortung von mehr deregulierter Wirtschaft – z.B. Abbau von Lohnschutz – und weniger Demokratie». Diese Definition schliesst nicht aus, dass Rechtsliberale im Übrigen gesellschaftspolitisch «aufgeschlossen» sind) aller Parteien und stellten sich nochmals auf die Hinterbeine. In schneller werdendem Rhythmus versuchten sie – wohlwollend von den staatlich subventionierten Medien unterstützt – das Unvermeidbare noch in letzter Minute abzuwenden.

Ende Februar 2021 meldete sich eine 60-köpfige Gruppe mit dem Namen Progresuisse zu Worte: die beiden Alt-CVP-Bundesräte Doris Leuthard und Joseph Deiss, die Rektoren der Universitäten Bern, Zürich und St. Gallen, der CEO der schweizerisch-amerikanischen Handelskammer Martin Naville, der Ex-Economiesuisse-Präsident Heinz Karrer, die Europa-Rechtlerin Christa Tobler, die nimmermüden EU-phoriker Eric Nussbaumer (SP-Nationalrat), Elisabeth Schneider-Schneiter (CVP-Nationalrätin) und Doris Fiala (FdP-Nationalrätin) sowie die Präsidenten der beiden Aussenpolitischen Kommissionen, Tiana Angelina Moser (GLP-Nationalrätin) und Damian Müller (FDP-Ständerat). Ebenfalls dabei: der Ex-FDP-Präsident Philipp Müller, der seine Partei in seiner Amtszeit dazu brachte, ein «Ja aus Vernunft» zum Rahmenvertrag zu beschliessen, sowie Walter B. Kielholz, Präsident der Swiss Re, und der Privatbankier Yves Mirabaud. Die Zusammensetzung spricht Bände. Gemäss Homepage ist «progresuisse» eine Bewegung, die den «konstruktiven Kräften, die für stabile und dauerhafte Beziehungen zur EU stehen, eine Stimme geben will». «progresuisse» will eine substanzielle und konstruktive Debatte über die Tragweite des Rahmenabkommens und die Zukunft der europäischen Partnerschaft anregen. Wer sollte da etwas dagegen haben? (https://progresuisse.ch/de/, eingesehen am 13. 6. 2021).

Der erwähnte Kielholz flippte in der «Samstagsrundschau» von SRF vom 3. 4. 2021 (https://www.srf.ch/news/wirtschaft/swiss-re-praesident-walter-kielholz-9-11-praegte-ihn-staerker-als-die-finanzkrise) dann allerdings völlig aus. Angesichts des Eifers, mit dem das Abkommen schlechtgeredet werde, diagnostizierte der Wirtschaftskapitän bei den Gegnern des vorliegenden Rahmenabkommens «Wahnvorstellungen», «krankhafte Fieberschübe», «Opportunismus» und plädierte für eine Versachlichung der Diskussion – nach seinen Ausfälligkeiten weiss man, was er darunter versteht.

Am 9. April meldet sich CVP-Altbundesrat Koller in den CH-Media-Zeitungen zu Wort und warnt davor, den Vertrag vorschnell und «nur aufgrund von ideologischen Schlagworten ohne eingehende Sachdiskussion» abzulehnen. Auch hier wird eine Sachdiskussion gefordert, indem man den anderen die Verwendung ideologischer Schlagworte vorwirft. Wenn man aber z.B. die in der Schweiz geltenden Regelungen zum Lohnschutz kennt und diese mit den entsprechenden Textstellen im Rahmenabkommen vergleicht, braucht es nicht viel Ideologie, um zu verstehen, dass es beim Rahmenabkommen u.a. eindeutig um die Verschlechterung des Lohnschutzes in der Schweiz geht. Dabei ist die oft erwähnte 8-Tageregel und deren geforderte Verkürzung auf 4 Tage nicht einmal das Hauptproblem. Die EU wollte, dass Kautionen nur von Firmen verlangt werden dürfen, die in der Vergangenheit schon einmal gegen die Regeln verstossen hatten. Zur Überprüfung von Scheinselbstständigkeit hätte die Schweiz erst im Nachhinein Kontrollen vornehmen und das Vorlegen von Dokumenten verlangen dürfen.

Am 19. April meldeten sich die Spitzen der Industrie- und Handelskammern von 25 Kantonen in einem Brief an den Bundesrat zu Worte. Sie warnten vor einem Scheitern des Rahmenabkommens, da dies «schwerwiegende Nachteile» für die Wirtschaft mit sich bringe. Wie die Industrie- und Handelskammern auf «schwerwiegende Nachteile» kommen, ist nicht ersichtlich. Bisher vorliegende Studien beziffern jedenfalls die Wachstumsgewinne der Bilateralen Verträge auf ungefähr 0.5 % pro Jahr – wobei diese Studien immer von empirisch kaum überprüfbaren Voraussetzungen ausgehen und eher spekulativ als wirklich wissenschaftlich sind. Aber sie sind sicher seriöser als aus der Luft gegriffene «schwerwiegende Nachteile» eines eventuellen und langsamen Auslaufens der Wirkungen mancher der bilateralen Teilverträge.

Am 28. April 2021 wandten sich 30 Sozialdemokraten in einem Brief an die SP-Parteileitung und die Fraktion und forderten eine «offenere europapolitische Diskussion». Darunter sind neben alt Bundesrat Moritz Leuenberger auch vier amtierende Regierungsratsmitglieder wie Beat Jans (BS) und Jacqueline Fehr (ZH), drei Stadtpräsidenten und zahlreiche ehemalige Regierungsrats- und Nationalratsmitglieder sowie pensionierte Topleute aus der Bundesverwaltung, Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss, die frühere Waadtländer Ständerätin Yvette Jaggi, der Basler Regierungspräsident Beat Jans, Ex-SBB Chef Benedikt Weibel oder der Zürcher Alt-Regierungsrat Markus Notter. https://sp-ps-section.eu/wp-content/uploads/2021/05/2021.04.28-Aufruf_SP_def-28-4-2021.pdf. Während der Brief vor allem eine offene Diskussion wünscht, wogegen vermutlich wenige etwas einzuwenden haben, wird z. B. Markus Notter deutlicher: Er spricht von einer «Wahrnehmungsstörung» bei seiner Partei und bei der offiziellen Schweiz, weil diese nicht zur Kenntnis nehmen wollten, dass der Vertragsentwurf für die Schweiz viele Vorteile bringe.

Am 9. Mai wurden die Ergebnisse einer Umfrage publiziert, die angeblich eine breite Unterstützung der Schweizer Bevölkerung für das vorliegende Rahmenabkommen nachwies. Von den befragten Stimmberechtigten würden zum Umfragedatum 64 Prozent in einer Abstimmung Ja oder «eher Ja» zum vorliegenden Rahmenabkommen sagen, heisst es in einer Mitteilung des Verbands Interpharma, die die Umfrage in Auftrag gegeben hatte. Die Frage lautete: «Eines dieser aktuell diskutierten Abkommen ist das sogenannte institutionelle Abkommen Schweiz-EU. Dieses Abkommen soll die 5 heute existierenden Marktzugangsabkommen und alle zukünftigen Verträge zwischen der Schweiz und der EU unter ein neues vertragliches Dach stellen. Damit könnten die bestehenden Verträge effizienter und schneller an neue Gegebenheiten angepasst und neue Teilverträge einfacher ausgehandelt werden. Das Abkommen ist in der Schweiz umstritten. Würde ein solches institutionelle Abkommen Schweiz-EU zur Abstimmung kommen, wären Sie dann bestimmt dafür, eher dafür, eher dagegen oder bestimmt dagegen?» So wie die Frage gestellt ist, kommt selbstverständlich eine Mehrheit heraus. Wer ist schon gegen Effizienz und Schnelligkeit bei Vertrags-Anpassungen sowie Erleichterungen beim Abschliessen neuer Verträge? 15. Mai wurde per Indiskretion aus dem Bundesrat der «Amherd-Plan» publik. Bundesrätin Viola Amherd soll im Bundesrat vorgeschlagen haben, bei der Unionsbürgerrichtlinie teilweise nachzugeben. Im Gegenzug müsste die EU der Schweiz eine Art Schutzklausel im Bereich der Richtlinie zugestehen. Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrates stützte diesen Plan und forderte den Bundesrat auf, bei der Unionsbürgerrichtlinie nach einem Kompromiss zu suchen. Auch die SP hatte schon vorgeschlagen, bei der Unionsbürgerrichtlinie nachzugeben, um den Lohnschutz zu retten. Ein entsprechender Kompromiss hätte allerdings die demokratiepolitischen Probleme nicht gelöst und die völlig unakzeptable Ausweitung der Guillotine-Klausel wäre akzeptiert worden.

Am 18. Mai 2021 berichtete die Presse von einer Allianz von EUphilen, die – eventuell durch die oben erwähnten Umfrageergebnissen gedopt – den Vertrag notfalls mithilfe des Stimmvolks retten wollten – und sie hatten dafür bereits einen fixfertigen Entwurf für einen Initiativtext in der Tasche. Erarbeitet wurde dieser von den Rechtsprofessoren Andreas Kley und Roger Zäch; involviert waren auch Thomas Cottier, emeritierter Professor für europäisches Wirtschaftsrecht, und der ehemalige Aargauer Ständerat und Alt-Bundesrichter Thomas Pfisterer (FDP). Betitelt ist der Entwurf, als «eidgenössische Volksinitiative für eine sofortige Ratifikation des institutionellen Abkommens der Schweiz mit der EU». Konkret wird darin gefordert, dass das Rahmenabkommen innert eines Monats nach Annahme der Initiative durch den Bundesrat ratifiziert wird – «allenfalls mit ausgehandelten Verbesserungen», wie es im Initiativtext heisst. Anschliessend ginge das Abkommen zur Genehmigung ans Parlament; hinterher wäre je nachdem immer noch ein Referendum möglich. Die Initiative sieht ausserdem vor, dass die «Beteiligung der Schweiz am Binnenmarkt» als Grundsatz in der Verfassung verankert wird. Es ist klar, dass das Vorgehen völlig unrealistisch ist und nur einen Zweck verfolgte: man wollte nochmals Unterstützung für das Rahmenabkommen signalisieren.

Am 20. Mai 2021 wurde durch Indiskretion aus der Bundesverwaltung von einem Geheimpapier berichtet, das vor «gravierenden Folgen für Schweiz» warnte. Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats (APK-N) hatte sich darüber beschwert, dass ihr dieses Papier vorenthalten wird. Journalisten gelangten in den Besitz des Papieres, behielten es aber für sich, wohl um vehementer vor den «gravierenden Folgen» warnen zu können. Das Papier soll gemäss Journalisten nämlich zum Schluss kommen, dass ein Scheitern des Rahmenabkommens bei den 24 untersuchten Politikfeldern in ungefähr 10 Fällen schwerwiegende Folgen hätte. Nun, die Ausführungen eines Geheimpapier kann man nicht diskutieren. Problematisch ist das entsprechende Leck in der Verwaltung, die Produktion offenbar äusserst einseitiger Papiere durch die Verwaltung und die Schaumschlägerei der Journalisten im Gefolge der Indiskretion – Kampagnen-Journalismus eben. Der Bundesrat wäre gut beraten gewesen, das Papier sofort zu publizieren.

Nach dem Abbruch

Nach dem Abbruch der Verhandlung durch den Bundesrat erfolgte das übliche Zeter und Mordio – im Vergleich zur Endzeitstimmung, die nach dem EWR-Nein verbreitet wurde, handelte es sich allerdings nur um einen müden Abklatsch. Im Schnellzugstempo wurde von Medtech-Firmen berichtet, die Problem beim Export in die EU haben. Man liess sich ausgiebig über die Möglichkeit des Endes der Teilnahme an den EU-Forschungsprogrammen aus. Die Strombranche nutzte die Gelegenheit, um ihre Anliegen zu deponieren und vom Ende der Versorgungssicherheit zu warnen. Es ist zu vermuten, dass die EU unbedingt beweisen will, dass sie nicht für Zusammenarbeit in Europa steht und versuchen wird, die Schweiz zu piesacken. Immerhin reagierte sie mit solchen Massnahmen auf das Abstimmungsergebnis der «Masseneinwanderungsinitiative», obwohl diese noch nicht umgesetzt war. Sanktionen ergreift die EU auch präventiv – wenigstens gegen kleine Länder!

Der Bundesrat will als Zeichen des guten Willens möglichst schnell die Kohäsionsmilliarde freigeben, wobei das Vorhaben durchaus vor Hürden steht. Die Eidgenössischen Räte beschlossen damals, dass die Schweiz die Zahlungen nur freigibt, wenn die EU sie nicht mit Strafmassnahmen wie bei der Börse diskriminiert. Der Parlamentsentscheid müsste also von den Räten rückgängig gemacht werden, obwohl die EU die Börsenäquivalenz immer noch nicht anerkennt. Das Parlament soll in der Herbstsession entscheiden. Kritiker sind gegen eine bedingungslose Auszahlung. Bei einem weiteren Hindernis geht es um eine Sprachregelung. Für die zweite Kohäsionsmilliarde braucht es eine Absichtserklärung (MOU) mit der EU, die die allgemeinen Modalitäten sowie den Verteilschlüssel für die Empfängerstaaten regelt. Die EU-Kommission beharrte bis anhin explizit darauf, dass beide Seiten festhalten, dass die Kohäsionsmilliarde der Eintrittspreis für den partiellen Schweizer Zugang zum Binnenmarkt ist. Die Schweiz ist zwar bereit, Projekte in strukturschwächeren EU-Ländern zu subventionieren, nicht aber einen Eintrittspreis für den Zugang zu einem Markt zu zahlen.

Zufrieden zeigten sich die Gewerkschaften, die gegenüber dem Druck des rechts-liberalen Flügels der SP erstaunliche Festigkeit und Ruhe zeigten: Der SGB «begrüsst den Entscheid des Bundesrates zum Rahmenabkommen, der den eigenständigen Lohnschutz gewährleistet. Der SGB steht für gute und geregelte Beziehungen mit der EU. Doch der Preis eines Verhandlungsabschlusses über dieses Rahmenabkommen wäre für die Arbeitnehmenden in der Schweiz zu hoch gewesen. Der Verhandlungsverlauf hat gezeigt, dass der Lohnschutz durch das Abkommen substanziell geschwächt und der Service public gefährdet würde. Das wäre für die Gewerkschaften nicht akzeptabel gewesen.» (SGB News-Letter vom 2. Mai 2021)

In der Sozialdemokratischen Partei ging es vorerst etwas turbulent zu. Nach mehreren Tagen Zeitungslektüre wusste man nicht mehr so recht, ob die SP nun den EWR- , den EU-Betritt oder einfach nur mehr Bilaterale Verträge wollte. Die beiden ersten Optionen würden den bisherigen Lohnschutz jedenfalls schleifen. «Zwar präferiert die SP wegen des vollen Mitspracherechts den EU-Beitritt, aber da dies innenpolitisch schwierig werden könnte, darf man den EWR als Zwischenlösung nicht ausschliessen», sagt SP-Fraktionspräsident Roger Nordmann (NZZ am Sonntag, 30. Mai). Gemäss NZZ am Sonntag wollte er am 1. Juni ein Postulat einreichen, in dem er den Bundesrat unter anderem auffordert, Vorteile und Nachteile des EWR-Beitritts darzulegen. Ein Blick auf die die entsprechende Seite des Nationalrates zeigt aber, dass er dies bleiben liess (https://www.parlament.ch/de/biografie/roger-nordmann/1279). Am 6. Juni 2021 hiess es dann in der Sonntagszeitung, die SP wolle den Bundesrat zu Beitrittsverhandlungen zwingen. Zur Stärkung von Demokratie und Souveränität sei «die volle Mitwirkung in der EU für unser Land der beste Weg, nach dem Scheitern des Rahmenvertrages. Nur wenn wir beitreten, können wir über die Regeln, die wir so oder so übernehmen müssen, auch mitbestimmen», begründet SP-Nationalrat Molina seinen Vorstoss. Die Begründung sagt für Kenner der EU-Institutionen viel über das Demokratieverständnis von Molina aus: Demokratie besteht für Molina offenbar darin, dass vor allem die Exekutive und die Bundesverwaltung in Brüssel mitreden kann – mit einem Stimmengewicht von ca. 3% – zu Lasten von Parlament und stimmberechtigter Bevölkerung. Pierre-Yves Maillard, SP-Nationalrat und Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes wollte sich bezeichnender Weise zum Vorhaben nicht äussern. Am 12. Juni 2021 tönte es vom SP-Co-Präsidenten Cédric Wermuth dann so: «Jetzt müssen alle Optionen auf den Tisch, ohne Tabus. Klar ist für mich: Auch ein EU-Beitritt muss das Leben der Menschen verbessern und den Schutz der Löhne und der direkten Demokratie gewährleisten» (12. Mai 2021, Der Bund, S. 11). Meint er das ernst, wär’s dann mit dem EU-Beitritt auf absehbare Zeit gewesen.



Der EU-Botschafter Petros Mavromichalis verlangte Ende März 2021 eine Volksabstimmung zum Rahmenvertrag: «Die EU erwartet deshalb vom Bundesrat, dass er das gemeinsam ausgehandelte Abkommen unterstützt und dem Parlament und Volk zur Ratifizierung unterbreitet. Dies würde verschiedene Dossiers deblockieren.» Wer die Haltung der EU zu Volksabstimmungen kennt (s. Europamagazin s. «Der Kampf der EU gegen nicht-genehme demokratische Ergebnisse», www. German-Foreign-policy, auch unter https://www.europa-magazin.ch/europamagazin/Aktuell/Dossiers-Themenfokus/Demokratie/69/cmd.14/audience.D, Papierversion: EM, 1/2020, S. 19), ist vielleicht erstaunt über diese Forderung. Nun, Brüssel kennt wenig Prinzipien, wenn’s um die Durchsetzung der eigenen Interessen geht und Brüssel – wohl auf Grund der Meinungsumfragen – hofft, in einer Volksabstimmung mehr Erfolg zu haben als im Bundesrat.
«Best-Case-Szenario»

Der Italiener Luca Visentini ist Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes, dem 89 nationale Organisationen angehören, und hat sich in den vergangenen Jahren wiederholt für dessen Schweizer Mitglieder ins Zeug gelegt. Brief um Brief schrieb er an von der Leyen, versuchte die verschiedenen AkteurInnen an einen Tisch zu bringen und warb um Verständnis für den Wunsch, den Lohnschutz nicht zu schwächen. Vergeblich.

Natürlich sollte man sich nie über einen Verhandlungsabbruch freuen, sagt Visentini, doch angesichts der Schwierigkeiten erachtet er das Ende des Rahmenvertrags als «Best-Case-Szenario». Gar kein Abkommen sei schliesslich immer noch besser als ein schlechtes. «Für die Schweizer Gewerkschaften ist das ein wichtiger Schritt im Bemühen um einen besseren Schutz für die Arbeiter.» Und das nütze auch den EuropäerInnen: Seien diese nämlich bei ihrer Arbeit in der Schweiz nicht durch flankierende Massnahmen geschützt, drohe Lohndumping – und damit die Ausbeutung von EU-BürgerInnen. Der 52-Jährige beklagt den fehlenden Einsatz der Kommission für tragfähige Lösungen und kritisiert ihren Druck auf die Schweiz. «Die Entsenderichtlinie besagt, dass für gleiche Arbeit am gleichen Ort gleicher Lohn gilt. Bei der Umsetzung der Regeln in den Mitgliedsländern darf sich die EU nicht einmischen, also sollte sie dies auch nicht bei einem Drittland wie der Schweiz tun», findet Visentini. WoZ, 3. Juni 2021.


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