Übersicht Dossiers Themenfokus Landwirtschaft Freies Saatgut auf der AnklagebankAm 12. Juli 2012 urteilte der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), dass der Verkehr mit bäuerlich-traditionellem Saatgut eingeschränkt werden darf.
Von Michael Burkard, Dr. iur., Fürsprecher, LL.M., betreibt in Bern die Advokatur Burkard und publiziert zum Lebensmittel- und Agrarrecht.
Grundrecht auf freies Saatgut?
Kokopelli ist ein bäuerliches Netzwerk in Frankreich, das Saatgut alter Gemüse- und Blumensorten kultiviert und weiterverbreitet. 2005 wurde Kokopelli von einem industriellen Saatgutanbieter, der Firma Graines Baumax, verklagt. Baumax warf Kokopelli vor, Saatgut zu verkaufen, das nicht im offiziellen Saatgutkatalog registriert ist und dadurch auf unlautere Weise einen Wettbewerbsvorteil zu erzielen. In erster Instanz wurde Kokopelli 2008 wegen unlauteren Wettbewerbs zu einer Schadenersatzzahlung von 10‘000 € an Baumax verurteilt. Dagegen legte Kokopelli Berufung ein. In der zweiten Runde, vor dem Cour d’Appel de Nancy, berief sich Kokopelli zu seiner Verteidigung auf fundamentale, im EU-Recht verbriefte Grundfreiheiten. Kokopelli machte geltend, dass das Recht auf freie wirtschaftliche Betätigung sowie andere Grundrechte und Rechtsprinzipien vom europäischen Saatgutverkehrsrecht in unverhältnismässiger Weise eingeschränkt würden.
Fehlende DUS-Kriterien
Kokopelli und andere im europäischen Netzwerk Saatgutkampagne (vgl. Kasten) zusammengeschlossene Organisationen kämpfen seit Jahren gegen das Saatgutverkehrsrecht der EU, weil es den freien Verkehr mit nichtstandardisiertem Saatgut und damit die Biodiversität unverhältnismässig einschränke. Im Prozess machte Kokopelli namentlich geltend, traditionell-bäuerliches Saatgut unterscheide sich gerade dadurch von standardisiertem Hochleistungssaatgut, dass es nicht über die für eine amtliche Zulassung erforderlichen Merkmale der Unterscheidbarkeit, der Homogenität und der Beständigkeit verfüge – wegen der üblichen englischen Bezeichnungen Distinctness, Uniformity und Stability spricht man auch von den DUS-Kriterien. Weil nichtstandardisiertes Saatgut und mithin die Biodiversität sich gerade durch fehlende DUS-Kriterien auszeichneten, sei es Kokopelli und anderen Erhaltungsinitiativen gar nicht möglich, die Anforderungen des EU-Saatgutverkehrsrechts zu erfüllen und ihre Produkte in den amtlichen Katalogen registrieren zu lassen. Zwar sehe das EU-Saatgutverkehrsrecht Ausnahmen von den strengen Zulassungsvorschriften vor, doch seien diese derart restriktiv formuliert, dass eine wirtschaftliche Nutzung von nichtstandardisiertem Saatgut praktisch verunmöglicht werde.
Produktivistisches Paradigma
Um die Tragweite des EU-Rechts in diesem Streit abzuklären, legte der Cour d’Appel die von Kokopelli aufgeworfenen Grundsatzfragen dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg zum Vorabentscheid vor. Das Gutachten der Rechtsexpertin des EuGH vom 19. Januar 2012 liess Kokopelli hoffen. Denn die zuständige Generalanwältin Juliane Kokott erblickte im restriktiven EU-Saatgutverkehrsrecht tatsächlich einen unverhältnismässigen Eingriff namentlich in das Recht auf freie wirtschaftliche Betätigung. Mit dem Urteil des EuGH vom 12. Juli 2012 (C-59/11) folgte jedoch die Ernüchterung. Das Gericht verwarf nämlich die Rechtsauffassung der Generalanwältin – ein eher ungewöhnlicher Vorgang – und ebenso sämtliche Argumente von Kokopelli. Anders als Kokopelli und die Generalanwältin machte der EuGH nicht die Grundrechte, sondern das Ziel des EU-Saatgutverkehrsrechts zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Nach Lesart des EuGH zielt das EU-Saatgutverkehrsrecht darauf ab, die Produktivität der EU-Landwirtschaft im Allgemeinen und des Gemüseanbaus in der EU im Besonderen zu steigern. Um dieses Ziel zu erreichen, sei die Anwendung restriktiver Kriterien und Verfahren, wie eben die DUS-Kriterien und amtliche Sortenkataloge, gerechtfertigt. Mithin sah der EuGH keinen Grund, um das restriktive EU-Saatgutverkehrsrecht für ungültig zu erklären.
In einer Pressemitteilung vom 13. Juli 2012 warf Kokopelli dem EuGH vor, die Biodiversität auf dem Altar der Produktivität geopfert zu haben und damit einmal mehr das produktivistische Paradigma der EU-Agrarpolitik zu verabsolutieren.
Gegen Parallelmarkt
Im Streit um den freien Verkehr mit altem und nichtstandardisiertem Saatgut stand Kokopelli nicht nur der Firma Graines Baumax gegenüber. Gegen Kokopelli traten vor dem EuGH so mächtige Akteure wie die französische und die spanische Regierung sowie die Kommission und der Rat der Europäischen Union auf. Es waren denn auch letztere Stimmen, welche den Streit auf den Punkt brachten: Es gehe, schrieben die EU-Organe, nicht um eine Liberalisierung des Marktes für traditionell bäuerliches und nichtstandardisiertes Saatgut. Vielmehr sei die EU bestrebt, „die Bildung eines Parallelmarkts für dieses Saatgut zu verhindern, der den Binnenmarkt für Saatgut für Gemüsesorten zu behindern drohte“ (EuGH-Urteil, Ziff. 65). Mit anderen Worten soll verhindert werden, dass nichtstandardisiertes Saatgut vermehrt auf dem kommerziellen Saatgutmarkt erscheint und dort Hochleistungssorten konkurrenziert.
Zukunftsmarkt Urban Farming
Bereits die Generalanwältin Kokott hat darauf hingewiesen, dass eine wirtschaftliche Nutzung nichtstandardisierter Sorten deren Erhaltung „deutlich robuster“ absichert und praktisch zu grösserer biologischer Vielfalt im Anbau führt. Eine Erhaltung von nichtstandardisiertem Saatgut durch dessen Nutzung ist deshalb besonders wichtig, weil dadurch die biologische Vielfalt erhöht und damit die Risiken aufgrund von Klimaveränderungen vermindert werden können. Die Notwendigkeit, bäuerlich-traditionelles Saatgut wieder vermehrt wirtschaftlich zu nutzen, trifft zurzeit auf den Trend des sog. urban farming. Es scheint daher kein Zufall, dass der EuGH notierte, Kokopelli wende sich mit ihren Erzeugnissen an dieselbe Kundschaft von Hobbygärtnern wie die Firma Baumax und dass die beiden ungleichen Streitparteien demzufolge in Wettbewerb zueinander stehen. Im Fall Kokopelli ging es also nicht nur darum, einen Konkurrenten mithilfe der Justiz aus dem Weg zu schaffen. Vielmehr soll verhindert werden, dass der Trend zum urban farming einen wachsenden und letztlich unkontrollierbaren Parallelmarkt für bäuerlich-traditionelles Saatgut entstehen lässt.
Europäische Saatgutkampagne
Für die Freiheit des Saatguts wird auch auf politischer Ebene gekämpft. In Europa haben verschiedene Organisationen 2009 eine Saatgutkampagne gestartet. In der Schweiz hat die Kooperative Longo maï unter dem Motto „Zukunft säen – Vielfalt ernten“ 30‘000 Unterschriften gesammelt und als Petition am 15. April 2011 an Parlament und Bundesrat übergeben. Parallel dazu fanden am 17. und 18. April 2011 in Brüssel zwei Aktionstage statt. Dort wurden den EU-Institutionen 58‘000 Unterschriften übergeben. www.saatgutkampagne.org
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