Alle 30 Sekunden dröhnt ein Lastzug über den wichtigsten Alpenpaß. Die Anwohner leiden unter dem Lärm und dem Gift der Autobahn. Eine Nachtmaut brachte Linderung, doch die will die EU-Kommission jetzt kippen.
von Marcel Keiffenheim
Auch früher, als Dora Mutz noch im Paradies lebte, konnte sie manchmal vor Lärm nicht schlafen. "Dies
alles", sagt die Bäuerin und weist mit ausholender Geste weit über ihren gepflegten Garten hinaus ins
Südtiroler Etschtal, "dies alles war einmal so schön wie der Garten Eden." Dann zielt ihr Finger auf einen
Punkt im staubigen Gelände. "Dort gab es einen kleinen See, in dem Frösche lebten. Die machten nachts
einen Krawall, daß man kein Auge zubekam." Aber am Tag konnte Dora Mutz an den Tümpeln fischen oder
in der Etsch baden, die in geruhsamen, erlengesäumten Mäandern das Tal durchmaß. "Das war freilich",
schränkt sie ein, "als ich noch jung war."
Jetzt ist Dora Mutz 84 Jahre alt, der See, die Bäume und die Frösche sind ebenso verschwunden wie die
sanften Kurven des Flusses, der längst in begradigtem Bett gen Süden stürzt. Dafür ist die Autobahn ins Tal
gekommen, und mit ihr 16 Millionen Fahrzeuge jährlich - 50.000 pro Tag, 1900 je Stunde, 31 die Minute.
Jede zweite Sekunde - doppelt so oft, wie ein Mensch atmet - rauscht es an Dora Mutz' Haus vorbei, das
direkt an der Autobahn steht, aber 30 Jahre ältere Rechte auf diesen Standort hat. Es zischt, wenn ein Pkw
vorbeifährt, brummt bei einem Motorrad und dröhnt bei jedem Laster, daß die Wände wackeln. Das ist alle
30 Sekunden der Fall, über eine Million Lkw benutzten 1995 die Route über den Brenner. Der Lärm im
Garten von Dora Mutz ist so infernalisch, daß sie über die Erinnerung an störendes Froschgequake selber
lachen muß. "Ich denke mir oft, die Erde müßte einen Purzelbaum schlagen, und die Autobahn und die
ganzen Autos würden einfach herunterfallen."
Doch das Transportgewerbe wird am Brennerpaß nicht abstürzen, darauf paßt die Europäische Union schon
auf. Schließlich gilt die Route quer durch die österreichischen und italienischen Teile Tirols als wichtigste
Verbindung zwischen Nord- und Südeuropa, als Nabelschnur der Wirtschaft auf dem Kontinent. Allein von
1994 bis 1995 hat der Verkehr auf der Brennerstrecke um 20 Prozent zugenommen. Den Preis für dieses
Wachstum zahlen die Natur und die Menschen vor Ort. Das Gebirge hält Lärm und Auspuffabgase in den
Tälern fest; die Belastung wird dadurch noch stärker konzentriert als im Flachland.
Dora Mutz merkt das an ihren Apfelbäumen. Ihre Plantage reicht bis in den Straßengraben. "Wenn wir die
Äpfel ernten, sind sie schwarz vom Ruß", sagt die Bäuerin. Gerne würde sie noch den Bau einer
Lärmschutzwand erleben. Dafür hat sie vor 15 Jahren begonnen, Unterschriften zu sammeln und Anträge
einzureichen. Inzwischen sei eine positive Grundsatzentscheidung getroffen, teilte die Autobahngesellschaft
der 84jährigen mit. Aber bis alle erforderlichen Genehmigungen für den Bau eingeholt seien, würden noch
etwa sieben Jahre ins Land gehen. Für die Zwischenzeit hat sie sich eine Bretterwand vor ihrem
Schlafzimmerfenster errichten lassen. "Und wenn es mir gar zu arg wird, stopfe ich mir Wachspfropfen ins
Ohr."
Ihre Nachbarin Emma Dibiasi, 73, nimmt Tropfen fürs Einschlafen und Tropfen gegen Kopfweh. "Aber es
nützt nichts. Das Gesumse hier oben", sie tippt an ihre Stirn, "will nicht mehr weggehen." Auch ihr Arzt
sehe keine Chance auf Besserung: "Meine gute Frau", habe er ihr gesagt, "wie soll ich Ihnen helfen - da, wo
Sie wohnen?"
Vier Meter hinterm Haus führt die Autobahn direkt durch den ehemaligen Garten. Der zweistöckige Bau
stemmt sich trutzig in den anbrandenden Lärm wie ein Riff an einer sturmumtosten Meeresküste. Von außen
hat es den Anschein, als ob ein Trauerfall zu beklagen wäre. Die doppelten Fenster sind stets geschlossen,
die Läden fest verrammelt. "Sonst ist es nicht zum Aushalten", sagt Emma Dibiasi und läßt zur
Demonstration einmal kurz Licht und Lärm herein.
Der Sohn hat den lauten Dämmerzustand des Hauses nicht ausgehalten. Zum Essen kommt er noch jeden
Tag von der nahen Arbeitsstelle vorbei, doch zum Schlafen hat er ein Zimmer fernab bezogen. Und auch
Emma Dibiasi und ihr Mann weichen, wann immer es geht, zu Verwandten aus, die in der Ruhe leben. Als
Gastgeschenk bringt sie dann gerne die Früchte mit, die auf einem schmalen Grünstreifen zwischen Haus
und Autobahn reifen: Zwetschgen, Pfirsiche, Kirschen, Salat. Ein ungutes Gefühl hat sie schon, wenn sie
die Produkte ihres Gartens anbietet, räumt Emma Dibiasi ein. Aber dann sagt sie sich, daß der liebe Gott und
die Südtiroler Sonne das Obst bestimmt nicht so prächtig heranreifen ließen, wenn es schädlich wäre, davon
zu essen.
Maria Hilber aus dem österreichischen Steinach wollte das genauer wissen. Sie ließ vor einigen Jahren
Früchte aus eigenem Anbau von der Tiroler Landwirtschaftskammer untersuchen. Das Ergebnis kann die
64jährige heute noch aus dem Kopf zitieren: "Ein Genuß von Gemüse oder Obst aus dem Garten Hilber",
urteilten die amtlichen Prüfer, "ist nicht zu empfehlen." Aber so recht will ohnehin nichts gedeihen rings um
Maria Hilbers Haus. "Ich wohne jetzt 28 Jahre hier", sagt sie, "und die Bäume in meinem Garten sind immer
noch niedrig wie Sträucher."
Das liegt an der Lage. Die sechsspurige Straße verläuft nur 2,80 Meter neben dem Grundstück, aber 50
Meter darüber. Die Hilbers leben buchstäblich im Schatten der Autobahn, die hier über die Gschnitztalbrücke
hinauf zum Brennerpaß führt. "Morgens haben wir etwa eine halbe Stunde Sonne, danach verschwindet sie
bis etwa elf Uhr hinter der Brücke." Deshalb blühen bei Maria Hilber die Kirschen vier Wochen später als in
der Nachbarschaft. Wenn im Winter die Autobahn gestreut wird, tropft salziges Schmelzwasser von der
Brücke in den Garten und aufs Haus. Die Brühe - in die sich auch Ruß, Schmutz und Schwermetalle
mischen - tötet das Grün, sie hat die Holzfenster zerfressen, die Betonterrasse aufgeweicht, das
Plastikschwimmbad undicht werden und die Fenster erblinden lassen. Und das, obwohl Maria Hilber
"ständig Fenster putzt". Anders als im italienischen Südtirol finden sich die Anwohner auf der
österreichischen Brennerseite nicht still mit ihrem lauten Schicksal ab. Maria Hilber wehrt sich mit der
Bürgerinitiative "Transitforum" gegen die Verkehrsbelastung. Auch die Bürgermeister der Gemeinden im Tal
machen Druck auf die Regierung in Wien und setzen sich schon mal mit ihren Wählern zur Blockade auf die
Autobahn.
Nach vielen Enttäuschungen erreichte die Tiroler Protestbewegung einen kleinen Erfolg. Seit Februar dieses
Jahres müssen Laster für die 33 Kilometer lange Strecke tagsüber 160 und nachts 328 Mark Maut bezahlen.
"Seit die Nachtmaut gilt, wird es abends richtig leise auf der Autobahn", sagt Maria Hilber. Viele Spediteure
scheuen die doppelte Gebühr. Doch die Nachtruhe ist kurz; ab fünf Uhr früh gilt wieder die normale Maut.
Dann starten alle auf einmal und brummen in dichter Kolonne zum Brenner hoch. "Unseren rollenden
Wecker", nennt das Maria Hilber scherzhaft.
Den will die Europäische Kommission schnellstmöglich wieder durch das gleichmäßige Dröhnen rund um
die Uhr ersetzen. Obwohl die Nachtmaut der Bevölkerung in der hochbelasteten Alpenregion zumindest
etwas Erleichterung verschaffte, drängt Brüssel auf deren Aufhebung. Tritt die Wiener Regierung im
Sommer nicht freiwillig den Rückzug an, wird der Brüsseler Verkehrskommissar Neil Kinnock Österreich
vor dem Europäischen Gerichtshof verklagen. Dazu sei er durch die EU-Verträge verpflichtet, behauptet der
Kommissar.
Von den Argumenten des "Transitforums" zeigt man sich im fernen Brüssel unbeeindruckt: Daß der
grenzüberschreitende Autoverkehr allein auf der Strecke Kufstein-Brenner täglich 50 Tonnen Stickoxide,
Kohlenmonoxid, Ruß und andere Schadstoffe ausstößt, daß die Schutzwälder an den Berghängen neben der
Autobahn durch die Abgase besonders geschädigt werden, und daß verheerende Lawinen drohen, wenn die
Bäume absterben, das weiß man mittlerweile auch im Büro Kinnock. Trotzdem droht die Komission weiter
mit der Klage.
Auf soviel Unverstand reagieren die Tiroler nur noch mit bitterem Spott: "Ohne Lärm kann ich sowieso nicht
mehr schlafen", sagt die 64jährige Maria Gummerer, die im Dörfchen Pfons, gegenüber von Steinach am
Osthang des Wipptales, wohnt. "Hören Sie mal genau hin", fordert die Bäuerin den Besucher auf. Obwohl
die Autobahn fünf Kilometer Luftlinie entfernt ist, dröhnt vor allem das Brummen der am Berg
herunterschaltenden Lkw herauf. Das ganze Tal hallt wie ein Paukenkessel, wobei es hier oben sogar noch
lauter ist als an der Talsohle. "Die Vögel", sagt Maria Gummerer schließlich, "man hört das Gezwitscher der
Vögel nicht mehr."
Andere liebgewordene Klänge vernimmt die Bäuerin selbst dann kaum noch, wenn - etwa bei einem
Verkehrsstau - der Straßenlärm ausnahmsweise abklingt. Das Summen ihrer Bienen beispielsweise ist selten
geworden. In Maria Gummerers zehn Stöcken haben nur noch zwei Völker überlebt, was sie auf die
Umweltzerstörung durch die Autobahn zurückführt. Auch das muntere Muhen eines Kälbchens fehlte ihr
lange. Fünf Kühe hat sie weggeben müssen, weil die Tiere einfach nicht trächtig werden wollten.
"Manchmal setze ich mich auf die Bank vor meinem Haus und könnte nur noch jammern", sagt die Bäuerin.
"Aber wenn ich ganz traurig bin, denke ich an andere Menschen, denen es noch viel schlechter geht." Und
außerdem, fügt Maria Gummerer hinzu, "darf man über dem ganzen Ärger nicht das da vergessen!" Ihr Blick
richtet sich auf das Bergpanorama jenseits des verkehrsgeplagten Tales, aus dem die verschneiten Gipfel des
Blaser und der "Königin" Serles hervorstechen. "Trotz allem ist Tirol doch immer noch wunderschön",
erklärt die Bäuerin. "Und ohne den Verkehr wär's sogar das Paradies."
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