Der freie Personenverkehr ist Flaggschiff und Mythos der EU-Befüworter zugleich. Angesprochen werden die Träume vieler Junger, die Grenzen der kleinen Schweiz zu sprengen und sich in der weiten Welt niederzulassen, wie auch die Komplexe der Mallorca-Touristen, für die es ein Problem bedeutet, am Flugplatz in der "Zweitklasskolonne" vor dem Schalter der "übrigen Länder" anstehen zu müssen. Von nahem betrachtet verliert das Freizügigkeitsabkommen seinen Glanz. Dennoch wäre eine Zustimmung möglich, wenn die EU-Freizügigkeit nicht mit einer zusätzlichen Abschottung gegenüber Personen von ausserhalb der EU verbunden würde.
Von Luzius Theiler
Erstaunliche Konzessionen nach rechts
Beim Durchlesen des Gesetzesentwurfes und der bundesrätlichen Erläuterungen fällt zuerst einmal auf, wie viele Konzessionen die Schweiz aushandeln konnte, von denen man beim Verkehrsabkommen nur träumen kann: In Anbetracht der "innenpolitisch sensiblen Angelegenheit"(so die Botschaft) sieht das Abkommen "einen schrittweisen, nicht automatischen Übergang zum freien Personenverkehr" vor. Der freie Personenverkehr wird erst nach Ablauf einer Übergangsfrist, d.h. erstmals nach 5 Jahren , definitiv aber erst nach 12 Jahren, eingeführt. Vorher gilt:
· Für die ersten fünf Jahre nach Inkrafttreten des Vertrages kann die Schweiz an der Kontingentierung festhalten. Erst im sechsten Jahr erfolgt "quasi auf Probe" die Einführung des freien Personenverkehrs.
· Im Rahmen einer besonderen Schutzklausel (sog. Ventilklausel) kann die Schweiz aber auch nach dem fünften Jahr wieder Kontingente einführen, wenn die Einwanderung das Mittel der letzten drei Jahre um mehr als 10% überschreitet. In diesem Fall kann die Schweiz einseitig die Einwanderung während der zwei folgenden Jahre auf das Mittel der letzten drei Jahre plus 5% beschränken (man stelle sich eine solche Regelung bei den Lastwagen vor !). Sogar nach der "definitiven Einführung der Freizügigkeit" nach 12 Jahren kann diese Schutzklausel noch angerufen werden.
· Das Abkommen ist schliesslich vorläufig auf sieben Jahre befristet. Die endgültige Ratifizierung soll dannzumal durch einen referendumspflichtgen Bundesbeschluss erfolgen. Eine solche Regelung wäre beim Verkehrsabkommen nach den ersten praktischen Erfahrungen mit der Entwicklung des Strassentransitverkehrs viel sinnvoller. Aber da rächt es sich eben bitter, dass Grüne und Umweltverbände viel zu lange den Eindruck erweckten, von ihrer Seite sei ohnehin kein Referendum zu erwarten und damit logischerweise im Departement Leuenberger und bei den EU-Unterhändlern als Nonvaleurs galten, während Blocher seinen Druck ständig aufrechtererhielt. Sollte sich in sieben Jahren das Ungenügen des Verkehrsabkommens, z.B. in Form einer Lastwagenflut, erweisen, bliebe als Ausweg zum Ausstieg aus den bilateralen Verträgen nur ein Referendum gegen die Verlängerung des Freizügigkeitsabkommens. Eine politisch sehr unerfreuliche Perspektive.
Zusätzliche Diskriminierung von Einwanderern aus Nicht-EU-Ländern
Offensichtlich besteht im Bundeshaus ein stillschweigender Konsens, der Rechten die Zustimmung zum Freizügigkeitsabkommen mit einer zusätzlichen Abschottung gegenüber Einwanderern von ausserhalb der EU abzukaufen. Dazu soll der Übergang vom Drei- zum Zweikreisemodell dienen. Unter befremdlich geringem Echo (das Forum für Direkte Demokratie protestierte mit einer Resolution an seiner letzten Hauptversammlung) erliess der Bundesrat auf den 1. November 1998 die revidierte Verordnung zur Beschränkung der Zahl der Ausländer. Dort ist in Art. 8 klar festgehalten, dass im Zeichen des Übergangs vom Dreikreise- zum Zweikreisemodell künftig eine Arbeitsbewilligung oder eine Aufenthaltsbewilligung für eine Lehre grundsätzlich nur noch an Gesuchsteller aus der EU erteilt werden könne. Ausnahmen sind nur für sogenannte "hochqualifizierte Personen" möglich. Der freie Personenverkehr mit der EU soll damit mit einer Diskriminierung von Arbeitssuchenden aus nicht-EU-Ländern erkauft werden. Diese kommen oft aus kriegsgeschädigten Gebieten und sind auf eine Existenzmöglichkeit in der Schweiz besonders angewiesen.
Freizügigkeit gilt nicht für alle
Dass die Freizügikeit des Wohnortes und des Arbeitsplatzes nur für Personen mit Schweizerpass bzw. mit EU-Pass gilt, ist schon beinahe selbstverständlich, sind doch auch innerhalb der EU Angehörige von Drittstaaten, auch wenn sie seit langem in einem EU-Land ihren Wohnsitz haben, von der Freizügigkeit ausgeschlossen.
Ebenfalls gilt die Personenfreizügigkeit nicht für Arbeitslose. Der sog. "Leistungsexport von Leistungen der Arbeitslosenversicherung" bei der Beschäftigungssuche in einem anderen Vertragsstaat ist nur während dreier Monate und dies nur zwischen zwei Stellen im eigenen Land möglich. Wer in der Schweiz mangels Berufsaussichten im EU-Raum sein Glück versuchen will, steht kurz nach dem Umzug vor dem Aus, wenn er innerhalb dreier Monate keine Stelle findet. Demgegenüber können sich "Rentner, Studenten und übrige Nichtererwerbstätige" frei innerhalb der EU niederlassen, allerdings nur gegen den Nachweis genügender finanzieller Mittel, so dass nicht die Gefahr besteht, dass sie der Sozialhilfe zur Last fallen. Denn die Fürsorge ist generell nicht Bestandteil des Vertrages.
Und dann findet sich im Abkommen noch der "Ordre-public-Vorbehalt". Die Freizügikeit kann Beschränkungen unterworfen werden, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. Es ist zu befürchten, dass diese dehnbare und rechtsstaatlich bedenkliche Bestimmung von irgendwelchen kantonaler Polizeidirektoren dazu missbraucht wird, "auffällige" Einwanderer aus früheren oder noch heutigen EU-Überseegebieten (etwa aus Guadeloupe ) wegzuweisen.
Importieren statt Ausbilden
Vor kurzem ging durch die Medien, in der Schweiz würden 20'000 qualifizierte Informatiker benötigt. Die Wirtschaft setze jetzt alle Hoffnungen auf das Freizügigkeitsabkommen, um die fehlenden Leute "importieren" zu können. Diese Schuttklubmentalität hat bereits weite Teile des Spitzensportes in den wirtschaftlichen Ruin getrieben. Auf die gesamte Wirtschaft übertragen ist sie nicht nur kurzsichtig, sondern auch in höchstem Masse unsolidarisch. Spezialistinnen und Spezialisten, die in ärmeren Ländern wie Portugal oder Griechenland eine teure Ausbildung erhielten und dort viel nötiger gebraucht würden als in der Schweiz, werden -" wir haben es ja " - einfach "eingekauft", wie der vielsagende Ausdruck lautet. Damit könnte ein Niedergang des Schweizer Bildungswesens einhergehen: Es ist für die Wirtschaft billiger, immer die aktuell interessanten Fähigkeiten auf dem Weltmarkt einzukaufen, statt mit teurer permanenter Bildung dafür zu sorgen, dass die hier ansässige Bevölkerung sich die aktuellen Fähigkeiten verschaffen kann.
Freipass für die grosse weite Welt ?
Sollte die Nachwuchsförderung in der Schweiz tatsächlich durch den erleichterten "Import" von gut ausgebildeten Fachkräften konkurrenziert werden und sollte zudem die Nachfrage nach den beschränkten Ausbildungsplätzen an den schweizerischen Hochschulen noch steigen, könnte es für den EUphorischen Nachwuchs bald ein böses Erwachen geben. Schon heute studieren bedeutend mehr Studentinnen und Studenten aus dem EU-Raum in der Schweiz als umgekehrt. Real bestehende Diskriminierungen (Zugangshürden, höhere Studiengebühren) hätte der Bundesrat längst mittels Verhandlungen ausräumen können. Die Vermutung liegt nahe, dass das absichtlich nicht geschah, um die beste Propagandakarte für den EU-Vertrag nicht vorzeitig zu verspielen. Allerdings: Der Stellenwert der freien Wahl des Wohnortes kontrastiert ohnehin erstaunlich zum konkreten Wunsch junger Schweizerinnen und Schweizer nach einer Ausbildung oder einer Stelle im Ausland. Nur etwa 5% aller Studentinnen besuchen eine ausländische Hochschule - die meisten von ihnen nicht in einem EU-Land, sondern in den USA. Auch nach Inkrafttreten des bilateralen Personenverkehrs-Vertrages würden EU-Staaten wie Grossbritannien die jungen Schweizer bei den Studiengebühren diskriminieren. Heute kostet beispielsweise der Vorkurs an der Schule für Gestaltung in Zürich für einen Briten 1840 Fr. pro Jahr, während ein vergleichbarer Kurs an einem öffentlichen englischen College etwa 11'000 Fr. pro Jahr kostet (privatwirtschaftliche Preise für nicht-EU-Studenten!).
Die flankierenden Massnahmen ohne Zähne
Die im Zusammenhang mit dem Freizügigkeitsabkommen am meisten diskutierten flankierenden Massnahmen finden ihren Niederschlag in Vorschlägen des Bundesrates für ein neues Gesetz "über die in die Schweiz entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer" (etwa Baukolonnen, die im Heimatstaat angestellt sind) und für neue Bestimmungen im Arbeitsrecht zur Durchsetzung der orts,- berufs- und branchenüblichen Löhne. Eine "tripartite Kommission" aus Verwaltung und Sozialpartnern soll den Arbeitsmarkt beobachten und unter Wahrung aller möglicher "berechtigter Interessen" bei Missbräuchen einschreiten. Auf der anderen Seite soll das angeblich diskriminierende heutige System mit genereller und präventiver Kontrolle der Lohn- und Arbeitsbedingungen von AusländerInnen durch ein unverbindlicheres System mit nachträglichen punktuellen Kontrollen ersetzt, also abgeschwächt, werden.
Heute fehlen die Instrumente, um gegen Lohn- und Sozialdumping, z. B. gegen die systematische Missachtung von Gesamtarbeitsverträgen, wirksam vorzugehen. Obwohl - oder gerade weil - die vorgeschlagenen Massnahmen EU-Richtlinien entsprechen, sind grösste Zweifel an ihrer Wirksamkeit angebracht. Denn Erfahrungen aus dem EU-Raum zeigen, dass eine Angleichung der Arbeitsbedingungen eher nach unten als nach oben erfolgt, die unterprivilegierten Einheimischen müssen sich, um konkurrenzfähig zu bleiben, in die gleichen arbeitsrechtlichen Grauzonen begeben wie die Zuwanderer. Die Bauequipen aus Billiglohnländern in Berlin oder die englischen Arbeitskräfte im boomenden spanischen Mittelmeertourismus bieten Anschauungsmaterial, das wenig zuversichtlich stimmt.
Freizügigkeit der Reichen nicht auf Kosten der Armen
Einmal entmythologisiert, könnte dem Freizügigkeitsabkommen dennoch zugestimmt werden als Schritt in die richtige Richtung. Wem es allerdings nicht einfach um Öffnung, sondern um wirkliche Offenheit gegenüber ganz Europa und der Welt geht, kann nicht akzeptieren, dass die Personenfreizügikeit mit der EU mit zusätzlichen Diskriminierungen der Arbeitssuchenden von ausserhalb der EU erkauft wird. Dass dieser Standpunkt heute politisch so schwer zu vertreten ist, "verdanken" wir jenen Linken, welche seit Jahren ihre internationale Solidarität einem möglichst baldigen Anschluss an die neue Nation EU geopfert haben.
Der Abschluss der bilateralen Verträge wird die Arbeitslosenversicherung (ALV) zusätzlich belasten. Um wieviel genau, ist laut NZZ schwierig abzuschätzen und dürfte von der Konjunkturlage abhängen. Gehe man von 1997 mit rund 90 000 Arbeitnehmern mit Verträgen von weniger als einem Jahr und Saisonniers aus, würde daraus eine Mehrbelastung von etwa 210 Millionen Franken pro Jahr resultieren. Nach siebenjähriger Übergangsfrist werde dieser Betrag vermutlich 370 Millionen bis 600 Millionen Franken erreichen. Dafür werde ab dem achten Jahr die Rückerstattung von Grenzgängerbeiträgen hinfällig. Eine solche Rückerstattung ist im EU-Recht nicht vorgesehen, wird von der Schweiz indes zurzeit auf Grund eines bilateralen Abkommen mit den Nachbarstaaten im Umfang von rund 200 Millionen Franken pro Jahr geleistet (Zahlen NZZ, NZZ. 16.9.98; der SBG Pressedienst gelangt zu ähnlichen Zahlen, 19.11.98, S. 247).
Es ist als positives Resultat der bilateralen Verträge zu betrachten, dass ausländische Kurz- und Saison-Arbeitskräfte aus dem EU-Raum in den Genuss der ALV gelangen sollen. Kritische Fragen tauchen jedoch bezüglich der Finanzierung auf. Die entsprechenden Auszahlungen würden nicht von den Profiteuren der neuen Regelung - Arbeitgeber, die Kurz- und Saisonarbeiter beschäftigen - getragen, sondern von allen Versicherungsbeitragszahlern. Damit erweist sich der Freizügigkeitsvertrag als eine typische Umverteilungsmaschine - zugunsten der Arbeitgeber. Dies zeigt, dass die Wirtschaft nicht gegen Umverteilung wettert, wenn sie davon profitiert.
Die Gewerkschaften begnügen sich angesichts dieses Problems mit moralischen Appellen an die Unternehmerschaft: "Es wäre falsch, den bilateralen Vertrag für diese Mehrkosten verantwortlich zu machen. Verursacher dieser Mehrausgaben sind die Unternehmungen, die ihr Personal nur zeitlich befristet beschäftigen und damit die Kosten der Flexibilität der Arbeitslosenversicherung überbürden." und "Das Problem muss deshalb in der Schweiz gelöst werden: Indem die Unternehmungen die Arbeit besser über das Jahr verteilen und ihr Personal ganzjährig beschäftigen. Und indem die Unternehmungen trotz Personenfreizügigkeit Arbeitslose einstellen, bevor sie im Ausland neues Personal rekrutieren". (Serge Gaillard, Pressedienst SBG, 19.11.1998).
Es ist erstaunlich, dass sich ausgerechnet die Gewerkschaften auf moralische Appelle an die Unternehmerschaft verlassen. Es ist doch offensichtlich, dass nur knallharte ökonomische Anreize diese dazu bringen wird, sich im Sinne der Gewerkschaften zu verhalten. Es muss deshalb gefordert werden, dass die Profiteure von Kurz- und Saisonarbeitern auch die entsprechenden ALV-Kosten übernehmen. Dies hätte folgende positive Konsequenzen: (1) die sozialpolitisch bedenklichen Kurzarbeitsplätze würden eher durch dauerhaftere Beschäftigungsformen ersetzt. (2) Es ist zu befürchten, dass die vom Bundesrat vorgesehene Regelung latente und offene Fremdenfeindlichkeit fördert (wir hören schon entspechende Stammtisch-Anekdoten). Dies würde durch eine Übernahme der Kosten durch die profitierenden Unternehmungen verhindert.
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Die offizielle Schweiz scharrt kräftig, um bei "Schengen" mitmachen zu dürfen. Besonders am Schengener Informationssystem ist man interessiert. Um dafür innenpolitisch die Trommel zu rühren, wird kräftig fremdenfeindliche, aus der Luft gegriffene Angstpropaganda betrieben. Laut Integrationsbericht 99 droht die Schweiz im Falle einer "Isolation" im Schengenraum "Drehscheibe für die illegale Migration, die organisierte Kriminalität und den internationalen Terrorismus" zu werden (S. 232). Bisher gaben die Schengener Staaten dem Baggern der Schweizer Diplomaten glücklicherweise nicht nach. Dies ist allerdings nicht humanen Einsichten der Schengener EU-Regierungen zuzuschreiben, sondern wohl eher der Aufdringlichkeit der Schweizer. Diese liess manche EU-Regierung merken, dass angesichts des geradezu peinlich grossen Interesses der Schweizer hier ein Faustpfand vorliegt. Entsprechend fing man an, ein Mitmachen bei Schengen von der Ratifizierung der bilateralen Verträge abhängig zu machen (siehe Integrationsbericht 99 S. 241). Daraus ergibt sich für Gegner eines Mitmachens der Schweiz bei Schengen und der Festung Europa zwingend die Ablehnung der bilateralen Verträge.
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