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Über den Tisch gezogen



Sollten die bilateralen Verträge Mitte nächsten Jahres unterschrieben werden, wird das kein guter Tag für die Umwelt sein. Die Schweiz muss die 28-Tonnen-Limite aufgeben und wird in den nächsten Jahren mit einer Welle von alpenüberquerenden Lastwagen überschwemmt. Ob diese 2009 oder 2013 oder am St.Nimmerleinstag zum grösseren Teil auf die Schiene verlagert werden, steht in den Sternen. Mit dem Landwirtschaftsabkommen wird der durch das GATT/WTO-Abkommen bereits eingeleitete Konkurrenzdruck auf die Schweizer Bauern verschärft, das heisst die Lebensmittelimporte, grösstenteils auf der Strasse herbeigekarrt, werden nochmals in grossem Masse zunehmen. Taktische Überlegungen, ob ein Ja oder ein Nein den demokratiepolitisch verheerenden EU-Beitritt eher verhindert, haben einen höchst spekulativen Charakter und müssten angesichts des lausigen Vertragswerkes eigentlich in den Hintergrund treten.

von Luzius Theiler und Christian Thomas

Ständiger Krebsgang der Umweltorganisationen

Wie verhalten sich die Umweltorganisationen und die Grünen angesichts eines ökologisch unakzeptablen Vertragswerkes? Erinnern wir uns: Der erste grosse Fehler, den die Schweiz in den Verhandlungen mit der EU gemacht hat, war die Unterzeichnung des Transitvertrages, in welchem sie sich verpflichtete, zwei NEAT-Röhren ohne irgend einen Zuschuss der EU zu bauen. Diese Röhren sind bekanntlich für den Binnenverkhr der Schweiz völlig unnötig und ein reines Geschenk an die EU. Eine Gegenleistung der EU gab es nicht, denn das Nachtfahrverbot und die 28t-Limite, die wir im Gegenzug behalten "durften", hatten wir ja schon. Eine klare Bedingung der Umweltorganisationen für die Zustimmung zum Landverkehrsabkommen war ursprünglich die Umsetzung der Alpeninitiative, also die Beschränkung des alpenüberquerenden Strassengüterverkehrs auf 500'000 Lastwagen bis zum Jahr 2004. Dies hätte nach weitgehend übereinstimmenden Berechnungen der Umweltverbände und des Bundesamtes für Verkehr eine Transitgebühr von mindestens 600 Franken nötig gemacht, während die EU von Anfang an 300 Franken anbot. Der Leuenberger-Kinnok-"Kompromisss" von 325 Franken wurde dann als grosser Verhandlungserfolg der Schweiz gefeiert. Die viel zu niedrige Transitgebühr machte es nötig, dass die Umweltverbände ihre oberste Forderung nach Kostenwahrheit aufgegeben haben und plötzlich möglichst hohe Subventionen für den schon heute bei weitem nicht kostendeckenden Güterfernverkehr verlangten. Mit anderen Worten: Die Wirkung - nämlich das viel zu grosse Transportvolumen - wird mit der Ursache, nämlich den viel zu geringen Transportpreisen, bekämpft. Das Landverkehrsabkommen ist damit aus Sicht der Umwelt eine gigantische Fehlkonstruktion. Die Umwelt wird zum Opfer der Europhorie auf grün-linker Seite. Schon vor Monaten erklärte Bundesrat Leuenberger allen, die es wissen wollten, von den Grünen sei ohnehin kein Referendum zu erwarten.( Zu besänftigen galt es demnach in erster Linie die Rechten.)

Gesamtwürdigung

Die übrigen Verträge sind keineswegs günstiger. Das Forschungsabkommen benachteiligt in krasser Form die Schweiz, da die Forschung im Zeitraum des Vertrages von der Schweiz praktisch doppelt bezahlt wird. Durch die Anerkennung von Zertifizierungsstellen in der EU wird die Regulierungsfähigkeit der Schweiz zugunsten von Umwelt und Gesundheit substantiell eingeschränkt. Die Liberalisierung auf dem Gebiete der öffentlichen Märkte bewirkt eine weitere Verschärfung der Konkurrenz (mit entsprechendem Lohndruck) und eine zusätzliche Zerstörung regionaler Wirtschaftsverflechtung. Das Flugverkehrsabkommen Vergrössert die Anzahl Flüge in der Schweiz und hilft einen Sektor zusätzlich zu liberalisieren, der seine externen Kosten seit Jahren nicht zahlt und der zudem von der öffentlichen Hand massiv subventioniert wird (über Steuervergünstigungen und Bezahlung von Infrastrukturen). Genau betrachtet konzentriert das Abkommen die Vorteile auf spezifische Wirtschaftskreise (nämlich die Import- und Export-Wirtschaft), während die Lasten dem Steuerzahler und der Allgemeinheit aufgebürdet werden. Die Allgemeinheit muss die Subventionen an die Bahn berappen. Alle Beitragszahler müssen die an sich wünschenswerten Sozialbeiträge an Kurzzeit-Arbeiter und Saisonniers bezahlen. Die Allgemeinheit muss auf eigene staatliche Kontrollen von Waren verzichten, damit die Exportindustrie billiger Waren ausführen kann. Die Binnenwirtschaft, in den 90er Jahren für die stagnative Phase der Schweiz verantwortlich, gerät weiter unter Druck. Deshalb wäre nur ein Vertragswerk akzeptabel, das die gesamten externen und internen Kosten den Profiteuren aufbürdet. Nur so lässt sich auch ausmachen, ob die wirtschaftlichen Vorteile die Nachteile tatsächlich überwiegen. Können die Profiteure die Kosten auf die Allgemeinheit abwälzen, ist keine Kosten-Nutzen-Analyse möglich. Die im Auftrag der Politik und der Profiteure ausgearbeiteten Analysen von Prognose-Instituten und Universitäten sind in diesem Falle nämlich wenig vertrauenswürdig.

Ja zwecks Vermeidung eines EU-Beitritts?

Trotz des schlechten Vertragswerkes scheuen auch viele EU-Kritiker vor einem Referendum zurück. Ob bei einer Ablehnung des Landverkehrsabkommens die schweizerischen Regierungsvertreter den Willen und die Kraft haben, bessere Bedingungen auszuhandeln, scheint fraglich. Von einem "geregelten Verhältnis" mit der EU hingegen erwarten viele eine Befreiung vom Druck zu Beitrittsverhandlungen. Gemäss neuerer Umfrage wollen nur ein Viertel der Schweizerinnen und Schweizer sofort nach Unterzeichnung der bilateralen Verträge weitere Verhandlungen mit der EU. 61% hingegen befürworten jedoch die bilateralen Verträge, von denen sich viele offensichtlich eine Art Waffenstillstand angesichts des ständigen EU-politischen Gezänkes und des dauernden Beschusses durch EU-Propaganda seitens der Massenmedien versprechen (Umfrage des GfS-Forschungsinstituts, NZZ. 19.8.99). Die schlechten bilateralen Verträge werden als eine Art Preis für Ruhe und gutschweizerisches Entgegenkommen zwecks Kompromissfindung betrachtet. Ob die Rechnung aufgeht, ist allerdings fraglich. Dafür spricht der Umstand, dass die Exportwirtschaft sich vermutlich mit den bilateralen Verträgen zufrieden gibt. Ohne wirtschaftliche "Gründe" würden die EU-Beitrittsbefürworter einen schweren Stand haben. Der Verzicht auf Volksrechte zwecks Mitsprache von Bundesräten und Beamten in Brüssel, dürfte anlässlich einer Volksabstimmung schwer vermittelbar sein. Hinzu kommt, dass mit der Freizügigkeit im EU-Raum das bei den mobilen Mittelschichten zentralste Argument für einen EU-Beitritt wegfällt. Die ganze Klaustrophobie-Züchtung dürfte hinfällig werden. Das latent rassistische Argument, auf Flughäfen mit Afrikanern, Asiaten und Arabern in der Reihe "other coutries" anstehen zu müssen, würde nicht mehr verfangen. Handkehrum dürfte die EU-Propaganda durch den Umstand erleichtert werden, dass zwei bedeutsame Hindernisse bezüglich eines Beitrittes wegfallen (Freizügigkeit, Verkehr). Die Massenmedien befinden sich weiterhin fest in den Händen der Euronationalen. Sie werden es wie bisher schaffen, aus Mücken Elephanten zu machen, aus minimen oder oft nur als billige Ausrede dienenden Nachteilen des "Fernbleibens" Katastrophen des "Inseldaseins" zu zeichnen. Die beinahe widerstandslose Akzeptierung der bilateralen Verträge könnte auch neue Forderungen der EU gegenüber der Schweiz provozieren, etwa in Bezug auf den Abbau von weiteren sog. "handelshemmenden Massnahmen" (z.B. Qualitätsvorschriften für Lebensmittel). Dies wiederum könnte eine resignative Stimmungslage fördern: "Wenn wir schon dauernd vor der EU kuschen müssen, treten wir besser gleich bei, dann kann 'die Schweiz' vielleicht ein wenig mitreden". Wie sieht die Dynamik im Falle einer Ablehnung der bilateralen Verträge aus? Zwar kann man bereits jetzt schon sagen, dass die Massenmedien und die politischen Oberschichten wie nach dem EWR-Nein eine unsägliche und lächerliche Endzeitstimmung zelebrieren würden. Die übrigen Entwicklungen sind aber schwerlich vorhersehbar. Drückt die Wirtschaft im Falle eines Neins mit Vehemenz in Richtung Vollbeitritt oder ist mit einem Nein zu den Bilateralen Verträgen jeglicher weiterer Schritt hin zu einem Vollbeitritt auf Jahre hinaus erledigt? Man kann es drehen und wenden wie man will, über die Folgen eines Neins und die eines Jas kann man bezüglich künftiger Beitrittsperspektiven nur spekulieren. Unsichere strategische und taktische Erwägungen verlieren so ihr Gewicht. Ein Entscheid für oder gegen die Verträge muss gefällt werden aufgrund einer Einschätzung, ob diese fair und gut sind, nicht aufgrund vager Spekulationen.

Ein "lausiger Vertrag"

Unter dem Strich bleibt ein "lausiger Vertrag" (VCS-Sprecher Hans-Kaspar Schiesser), "ein gewaltiger Rückschritt für eine ökologische Verkehrspolitik in der Schweiz und Europa" (Alpen-Initiative). Nachdem Bundesrat Leuenberger das vom Parlament verbindlich beschossene Verlagerungsziel 2009 mit seinem Auspruch "ich gebe keine Garantien ab" zu einem wertlosen Wisch gemacht und damit Parlament und Umweltverbände der Lächerlichkeit preisgegeben hat, wäre ein Referendum eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Es müsste auch eine Selbstrverständlichkeit sein, weil mit den Verträgen bestehende Verfassungsnormen, insbesondere der Alpenschutz-Artikel de facto ausgehebelt werden. Bisher galt, dass die Verfassung nur durch eine Volksabstimmung abgeändert werden kann, doch mit dem Druck der EU ist es jetzt möglich, die Verfassung faktisch ohne Volksabstimmung zu verändern. Das ist eine schlechte Perspektive für die Zukunft direkten Demokratie in der Schweiz. Vielleicht haben zu viele aus der "politischen Elite" der Schweiz die repräsentativ-demokratischen Umgangsformen in der EU bereits verinnerlicht und akzeptiert.

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