Übersicht Dossiers Europäische Union Wirtschafts- und Währungsunion Die Bilanz des SpardiktatsBerlin hat von Griechenland seit dem Beginn der Eurokrise mehr als eine Drittelmilliarde Euro kassiert - als Zinsen für sogenannte Hilfskredite. Dies bestätigt die Deutsche Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Anfrage im Deutschen Bundestag. Demnach werden in den kommenden Jahren noch weitere Millionenbeträge in Form von Zinsen aus dem krisengeschüttelten Land in den deutschen Staatshaushalt abfließen.
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Die Deutsche Bundesregierung räumt in ihrer Antwort auf die erwähnte Anfrage im Deutschen Bundestag ausdrücklich ein, dass in der Zeit der deutschen Spardiktate das Bruttoinlandsprodukt Griechenlands um gut ein Viertel eingebrochen ist, während die Staatsschulden sogar in absoluten Zahlen stiegen. Mit dem Verlangen, die griechischen Außenstände spürbar zu senken, hatte Berlin seine Austeritätspolitik legitimiert. Die Antwort der Deutschen Bundesregierung bestätigt auch die gesellschaftliche Katastrophe, die aus den Mittelkürzungen auf allen Ebenen entstanden ist. So ist etwa das Durchschnittseinkommen von 2009 bis 2013 um rund ein Drittel abgestürzt. Eine aktuelle Untersuchung bestätigt, dass zwischen harten Sparmaßnahmen und der Suizidrate ein messbarer Zusammenhang besteht. Die griechische Suizidrate stieg im Juni 2011, als Athen die Ausgaben auf allen Ebenen auf Druck Berlins drastisch kürzte, sprunghaft um fast ein Fünftel und verharrt seither auf Rekordniveau.
Eine Drittelmilliarde
Berlin hat von Griechenland in den Jahren von 2010 bis 2014 mehr als eine Drittelmilliarde Euro als Zinsen für sogenannte Hilfskredite kassiert. Das bestätigt die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Anfrage im Bundestag. Demnach hat die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), über die Darlehen an das krisengeschüttelte Athen vergeben wurden, "im Zeitraum 2010-2014 an den Bund Zinseinnahmen von insgesamt rund 360 Mio. Euro ausgekehrt".[1] Für die kommenden Jahre erwartet die Bundesregierung weitere "Einnahmen für den Bundeshaushalt" in Form von Zinszahlungen aus Athen, die sie als "nur noch geringfügig" einstuft: "rund 20 Mio. Euro jährlich".
Auf ganzer Linie gescheitert
Die deutschen Zinsgewinne gingen in den vergangenen Jahren mit den Berliner Austeritätsdiktaten gegenüber Griechenland einher, deren ökonomische Folgen die Deutsche Bundesregierung nun selbst beziffert. Die Ergebnisse sind nicht wirklich neu, werden aber in der Antwort auf die Bundestags-Anfrage ausdrücklich bestätigt. Demnach sind die griechischen Staatsschulden von 2009 bis 2014 in absoluten Zahlen von 301,0 Milliarden Euro auf 317,7 Milliarden Euro gestiegen. Wegen des massiv schrumpfenden Bruttoinlandsprodukts (BIP) stieg der in BIP-Prozent gemessene Schuldenstand noch deutlich stärker an - von 126,8 Prozent (2009) auf 176,3 Prozent (2014). Die Spardiktate waren mit dem Verlangen begründet worden, Griechenlands Staatsschulden zu senken; sie haben genau das Gegenteil erreicht. "Diese Politik ist auf ganzer Linie gescheitert", erklärt der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko (Die Linke), auf den die aktuelle Bundestagsanfrage zurückgeht.[2]
Systematisch verzerrt
Die Bundesregierung bestätigt zudem den massiven Einbruch des griechischen BIP, das von einem Nominalwert von 237,4 Milliarden Euro (2009) binnen nur fünf Jahren um ein Viertel auf 180,2 Milliarden Euro (2014) abstürzte. Dabei haben sich die Prognosen der Troika, mit denen eine bei harter Anwendung der Austeritätsdiktate angeblich vorhandene Zukunftshoffnung Griechenlands suggeriert werden sollte, als systematisch verzerrt erwiesen. Wie aus der Antwort der Bundesregierung hervorgeht, wurde das erste "Hilfsprogramm" für Athen damit begründet, dass das BIP nach einem Rückgang von 4,0 Prozent im Jahr 2010 und 2,6 Prozent im Jahr 2011 in den folgenden Jahren um 1,1 Prozent (2012), 2,1 Prozent (2013) und erneut 2,1 (2013) Prozent wachsen würde. Tatsächlich schrumpfte es um 4,9 Prozent (2010), 8,9 Prozent (2011), 6,6 Prozent (2012) und 3,9 Prozent (2013). Abschließende Zahlen für 2014 liegen noch nicht vor.
Grassierende Armut
Neben den Kennziffern, die die ökonomischen Schäden des Austeritätsdiktats belegen, nennt die Bundesregierung auch Zahlen, aus denen sich die verheerenden sozialen Folgen ersehen lassen. Demnach ist der öffentliche Konsum von 2010 bis 2013 um rund ein Fünftel, der private Konsum sogar um etwa ein Viertel eingebrochen. Die Armutsrisikoquote - sie beziffert den Teil der Bevölkerung, dessen Netto-Einkommen weniger als 60 Prozent des nationalen Durchschnitts beträgt - ist von 19,7 Prozent im Jahr 2009 auf 23,1 Prozent im Jahr 2013 gestiegen; dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Schwelle, ab der man als arm gilt, deutlich abgesenkt wurde - von 6.897 Euro pro Jahr (2009) in einem Einpersonenhaushalt auf 5.023 Euro (2013) und von 14.480 Euro (2009) für eine klassische Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren auf 10.540 Euro pro Jahr (2013). Eine vierköpfige Familie mit einem Jahreseinkommen von etwa 10.600 Euro, die im Jahr 2009 noch als arm galt, wird heute als nicht mehr armutsgefährdet eingestuft. Das durchschnittliche Jahreseinkommen ist von 13.974 Euro (2009) auf 9.303 Euro (2013) abgestürzt. Die Arbeitslosenquote ist von 12,7 Prozent (2010) auf 25,8 Prozent (November 2014) in die Höhe geschnellt, die Jugendarbeitslosigkeit von 33 Prozent (2010) auf 50,6 Prozent (November 2014).
Zum Suizid motiviert
Die regierungsamtlichen Ziffern beschreiben Rahmenbedingungen, unter denen sich eine humanitäre Katastrophe abspielt. So steht das griechische Gesundheitssystem, das seit einiger Zeit mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) stabilisiert werden soll [3], praktisch vor dem Kollaps; beinahe ein Drittel der Einwohner kann sich keine geregelte Krankenversicherung mehr leisten, Ärzte, Pflegepersonal und Medikamente sind knapp.[4] Hunger greift um sich; die neue Regierung will Abhilfe schaffen und Essensmarken verteilen lassen. Eine neue Untersuchung bestätigt, dass die Zahl der Suizide stark gestiegen ist und dass ein klarer Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes besteht. Demnach ist die Suizidrate der Männer im Oktober 2008, als Athen zum ersten Mal Sparprogramme ankündigte, um 13,1 Prozent gestiegen. Im Juni 2011, als die Austeritätsmaßnahmen auf Druck Berlins verschärft wurden, schnellte sie um 18,5 Prozent in die Höhe; zum ersten Mal beinhaltete die Zunahme auch einen Anstieg der Suizidrate bei Frauen.[5] "Die bloße Ankündigung, dass es künftig wirtschaftlich ... bergab geht, reichte aus, um Menschen zum Suizid zu motivieren", fasst eine Fachzeitschrift die Studie zusammen - und weist darauf hin, dass die Suizidrate sich gewöhnlich "normalisiere", wenn die "Befürchtungen" sich nicht erfüllten und die gewohnten Verhältnisse wieder einkehrten. Dies sei "unter der derzeitigen Sparpolitik" allerdings nicht der Fall.
[1] Zitate und Angaben hier und im Folgenden: Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage des Abgeordneten Andrej Hunko u.a. und der Fraktion Die Linke. Berlin, 27.02.2015.
[2] Krisenpolitik gegenüber Griechenland ist auf ganzer Linie gescheitert und bedarf grundlegender Umorientierung. www.andrej-hunko.de 05.03.2015.
[3] S. dazu Austerität tötet.
[4] S. dazu Todesursache: Euro-Krise.
[5] Griechenland: Ökonomische Aussichten beeinflussen Suizidrate. www.aerzteblatt.de 03.02.2015.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59071
Kasten: In der WoZ vom 7. Mai, 2015 wurde der lesenswerte Artikel „Griechenland: Der Kalte Krieg der Märkte“ publiziert (S. 9). In der WoZ vom 28. Mai 2015 erschien der ebenfalls lesenswerte Artikel „Experiment Griechenland“, S. 7). Ferner: Der Weg aus dem neoliberalen Wahn, Woz vom 12, Februar, https://www.woz.ch/-59e2). Weitere Lektüre: http://monde-diplomatique.de/artikel/!225662 (Griechenland auf dem Boden der Tatsachen), sowie http://monde-diplomatique.de/artikel/!225688 (Wir sind Athen), in der Februar-Ausgabe des Le Monde Diplomatique.
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