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Anmerkungen im Vorgriff auf die linke Maastricht-II-Diskussion



Es ist nicht zu übersehen, auch die Linke in der EU zunehmend EU-skeptischer wird. Und es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass sich derzeit im Stillen eine linke Opposition gegen die EU von Maastricht formiert, die nur auf den Beginn der Revisionskonferenz zum EU-Vertrag zu warten scheint, um sachkundig und detailsicher ihre Kritik vorzutragen. Die Auseinandersetzung mit dieser inhaltlich zunehmend substantiierten Kritik wird ungleich schwerer sein, als die Diskussion mit den linksorthodoxen Euro-SkeptikerInnen einseitig jakobinischer oder brachial antikapitalistischer Denkungsart.

von Alexis v. Komorowski

Die Sozialpolitik der EU liefert neuerdings zunehmend Konfliktstoff . Dies hat drei wesentliche Gründe. Erstens stellt das Soziale wohl immer noch den Kristallisationspunkt linker Identität dar, so dass für die Linke die je individuelle Bewertung der EU-Sozialpolitik wesentlich darüber entscheidet, ob das EU-Projekt befürwortet wird oder nicht. Zweitens ist die soziale Dimension anerkanntermassen ein Schwachpunkt des EU-Konzeptes, so dass sich dieses Politikfeld für allfällige und keineswegs bloß linke EU-Kritik geradezu aufdrängt. Drittens erweist sich die Sozialpolitik als der Bereich, in dem traditionelle und moderne EU-SkeptikerInnen linker Provenienz häufig konform gehen, so dass gerade in dieser Domäne mit (Zweck)-Bündnissen der so ungleichartigen Geschwister gerechnet werden muss. Angesichts der vor diesem Hintergrund zu erwartenden Auseinandersetzungen im linken Lager erscheint es zweckmäßig, noch einmal die rechtlichen Rahmenbedingungen in Erinnerung zu rufen, die für die Sozialpolitik im Rahmen der EU-Institutionen bestimmend sind. Eine solche Klarstellung ist auch deshalb geboten, weil die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben der EU-Sozialpolitik durch den Maastricht-Vertrag, insbesondere durch Protokoll und Abkommen zur Sozialpolitik, noch intransparenter geworden sind, als sie es eh schon waren.

Eingangs ist festzustellen, dass die Sozialpolitik der EU zwei unterschiedlichen Rechtsregimen unterliegt. Im Bereich der Sozialpolitik wird nämlich - ähnlich wie beim Schengener Abkommen - das bis dato so verpönte "Europa der variablen Geometrie", der "konzentrischen Kreise", das "Europa à la carte" praktiziert.

In allen EU-Mitgliedstaaten gelten die Art. 117 ff. des EG-Vertrages - ergänzt durch die gemeinschaftsrechtlichen Generalermächtigungen. Als Kompetenznorm ist hier zunächst Art. 118a EG-Vertrag hervorzuheben. Auf der Grundlage dieser Rechtssetzungsermächtigung befindet sich allein in diesem Sommer ein halbes Dutzend rechtsverbindlicher Richtlinien im EU-Gesetzgebungsverfahren. Dabei geht es um die unterschiedlichsten Regelungsziele: von der Gewährleistung von Arbeits- und Gesundheitsschutz im Transportwesen bis zum Schutz der ArbeitnehmerInnen vor chemischen Stoffen am Arbeitsplatz. Bedeutsam im Rahmen dieses ersten Rechtsregimes ist ferner der Sozialfonds (vgl. Art. 123 ff. EG-Vertrag). Durch ihn kann insbesondere der Kampf in der EU gegen Langzeit- und Jugendarbeitslosikeit finanziert werden. Eine grosse Rolle spielen in dem genannten Zusammenhang schließlich die bereits erwähnten generalklauselartigen Ermächtigungen, wie sie in Art. 100 und Art. 235 EG-Vertag zu finden sind. Auf Basis dieser Bestimmungen ergingen bereits in der Vergangenheit wichtige Harmonisierungsvorschriften. Exemplarisch genannt: die Richtlinien zur Bekämpfung geschlechtsbezogener Diskriminierung sowie die Harmonisierungsrichtlinien zur Wahrung von ArbeitnehmerInnenansprüchen bei Betriebsübergang und zum Schutz der lohnabhängig Beschäftigten im Konkursfall. Auch in diesem Sommer standen wiederum rund zehn sozialpolitisch relevante EG-Richtlinien zur Debatte, die auf der Grundlage der gemeinschaftsrechtlichen Generalermächtigungen ergehen sollen; als Beispiel kann die Richtlinie zur Gewährleistung einer effektiven Mitsprache von ArbeitnehmerInnen in transnationalen Unternehmungen angeführt werden.

Neben diesem, wie dargelegt, nicht unansehnlichen ersten sozialpoltischen Regelungskomplex besteht im Rahmen der EU-Institutionen ein zweites Rechtsregime, das für sämtliche EU-Mitgliedsstaaten mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs gilt. Dieses zweite Rechtsregime gründet auf dem vorgängig erwähnten Protokoll Nr. 14 zum EU-Vertrag sowie dem von ursprünglich elf Mitgliedstaaten unterzeichneten Abkommen über die Sozialpolitik. Anders als bisweilen behauptet, kommt den in diesem Rahmen ergehenden Rechtsakten - trotz des opting out der Briten - kein geringerer rechtlicher Status zu als den im Rahmen des EG-Vertrages verabschiedeten sozialpolitischen Massnahmen. Denn gemäss Art. 239 EG-Vertrag rechnet auch das dem Maastrichter Vertrag beigelegt Protokoll zur Sozialpolitik zum Gemeinschafts-Verfassungsrecht; Ziffer 1 dieses Protokolles mit Verfassungscharakter ergibt, dass Rechtsakte, die aufgrund des Abkommens zur Sozialpolitik ergehen, den Massnahmen nach EG-Recht rechtlich gleichgestellt sind und im übrigen der Gerichtsbarkeit des EU-Gerichtshofes in Luxemburg unterliegen. Dies erhellt, dass sich die beiden Regelungskreise der EU-Sozialpoltik nur in Hinblick auf ihren territorialen Geltungsbereich unterscheiden, nicht aber puncto Rechtsverbindlichkeit.

Inhaltlich allerdings geht das zweite Rechtsregime, das auf Protokoll und Abkommen basiert, erheblich über die Regelungen des EG-Vertrages hinaus. Es enthält beachtliche Kompetenznormen zur Regelungen des individuellen und kollektiven Arbeitsrechts. So bestehen erstmals in der Geschichte des Gemeinschaftsrechts explizite Ermächtigungsnormen zum Erlaß von Vorschriften im Bereich der geschlechtlichen Gleichbehandlung, des Kündigungsschutzes sowie der Mitbestimmung. Als vorrangiges Regelungsziel des Abkommens wird dabei in Art. 1 die Beschäftigungsförderung bezeichnet. Entgegen anderslautender Behauptung ist diese eindeutige Zielgesetzgebung durchaus rechtlich relevant, denn sie dient als juristischer Auslegungs- und Interpretationsmassstab für die Ermächtigungsnormen des Abkommens. Vor allem aber zeigt sich an dieser klaren Zielsetzung deutlich, dass die elf Vertragsstaaten im Abkommen bemüht waren, sozial- und wohlfahrtsstaatliche Akzente zu setzen, um auf diese Weise die neoliberale Marktherrlichkeit des EG-Vertrags in gewisser Hinsicht zu korrigieren und dem Binnenmarkt dadurch die vielzitierte "soziale Dimension" zu verschaffen. Diesen eher sozialstaatlichen als wirtschaftsliberalen Ansatz spiegeln namentlich diejenigen Befugnisnormen im Sozialabkommen wieder, die zur interventionistischen Bekämpfung von struktureller Arbeitslosigkeit und zur öffentlichen Finanzierung von Arbeitsbeschaffungsmassnahmen ermächtigen. Der vor diesem Hintergrund mit Fug und Recht als "sozialdemokratisch" zu bezeichnenden Philosophie des Sozialabkommens entspricht ferner der originelle und zukunftsweisende Versuch, die Tarifparteien in die Setzung und Durchführung des EU-Arbeitsrechts einzubeziehen; dem tragen die auf Vorschlag der Spitzenverbände von Arbeitgeber und ArbeitnehmerInnen zustande gekommenen Art. 4 II und 2 IV des Abkommens Rechnung. Namentlich für die ArbeitnehmerInnenseite erweist es sich als positiv, wenn die Einflussnahmen der SozialpartnerInnen auf arbeitsrechtliche Gemeinschaftsbestimmungen in förmliche Verfahren eingebunden wird. Denn bei rein informellem Lobbying ist die Kapitalseite stets im Vorteil - nicht nur weil sie finanzkräftiger ist, sondern weil sie bekanntlich homogenere Interessen vertritt.

Selbstredend weist das Sozialabkommen auch erhebliche Schwächen auf. So können im Bereich der Sozialpolitik - anders als in der Umweltpolitik - lediglich schrittweise anzuwendende Mindestvorschriften erlassen werden. Die politische Gefahr eines Sozialdumpings ist daher nicht von der Hand zu weisen, auch wenn die Vertragsparteien durch das Abkommen nicht daran gehindert werden, strengere Schutzmaßnahmen zu erlassen. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass die Gefahr einer Angleichung nach unten noch größer wäre, wenn EU-Harmonisierungsvorschriften gänzlich fehlen würden. Sozialprotokoll und Abkommen enthalten insofern schüchterne, aber dennoch verheißungsvolle Ansatzpunkte, die es grundsätzlich, also von Rechts wegen erlauben, die Binnenmarktdynamik in sozialpolitisch verträgliche Bahnen zu leiten. Ob dies in der Praxis auch wirklich geschieht, ist eine davon zu trennende Frage der national geprägten Integrationspolitiken in den EU-Mitgliedsstaaten. Dass diese einer aktiven EU-Wirtschafts- und Sozialpolitik mit Skepsis begegnen, hat reichlich wenig mit deren normativen Vorgaben im MaastrichterVertrag, dafür aber sehr viel mit der gesellschaftlichen Grosswetterlage zu tun. Für die zu erwartende sozialpolitische Europadiskussion innerhalb der EU-Linken lässt sich daher das folgende Redlichkeitsgebot formulieren: Es gilt, sorgsam zu differenzieren, ob sozialpolitische Mißstände in der EU tatsächlich EU-spezifische, im Gemeinschaftsrecht zu ortende Ursachen haben, oder ob sie nicht vielmehr als Ausdruck wachsender Machtlosigkeit der Sozialdemokratie auch im nationalstaatlichen Bereich zu werten sind. Nur wenn sich die EU-Linke (selbst)-kritisch hierüber Rechenschaft abgibt, wird es möglich sein, die Sozialpoltik der EU unvoreingenommen, angemessen zu bewerten.

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