Übersicht Dossiers Schweiz Bilaterale III, Rahmenvertrag 2.0 oder PaketansatzDie vom Bundesrat bereits geschluckten institutionellen Abmachungen sind nicht akzeptabel.
Man wundert sich, wieso der Bundesrat in die Verhandlungen mit EU bezüglich eines Vertragspaketes eingestiegen ist, das offenbar aus taktischen Gründen nicht mal einen offiziellen Namen hat. Die Gegner des neuen Paketes sprechen von Rahmenvertrag 2.0, die Befürworter von Bilateralen III und der Bundesrat von «Vertragspaket», was kaum als Name für einen Vertrag geeignet ist. Die Rahmenbedingungen haben sich indessen wenig verändert. Die EU-Kommission bleibt bis auf Details stur bei ihren Forderungen, die zum Abbruch der Übung bezüglich des Rahmenabkommens 1.0 geführt hat. Im Inland haben sich die Kraftverhältnisse ebenfalls kaum verändert. Seit Yves Maillards an der Gewerkschaftsspitze steht, ist die Sprache der Gewerkschaften eher klarer geworden. Vermutlich hofft der Bundesrat bei dem, was er Paketansatz nennt, genügend praktische Vorteile für partielle Interessen herauszuschinden, um die institutionellen Kröten in den Hintergrund zu drängen.
Von Paul Ruppen
«Common Understanding»
Im «Common Understanding» (https://www.eda.admin.ch/content/dam/europa/de/documents/abkommen/20231215-common-understanding_DE.pdf) wird salbungsvoll von einer Nähe zwischen der Schweiz und der EU gesprochen, die auf gleichen Werten beruhe. Nun, Gebietskörperschaften haben keine Werte, wohl aber die Vertreter dieser Gebietskörperschaften. Ob diese mit den Werten der Bewohnerinnen und Bewohner dieser Gebiete übereinstimmen ist eine andere Frage. Sollte aber z.B. die Einstellung der Schweizer Vertreter zur Demokratie mit der der EU-Vertreter übereinstimmen, wäre das ernüchternd. Zudem scheinen die Vertreter der EU das, was oft von den Medien wohlwollend «Nadelstiche» genannt wird, in Beziehungen zu Nachbarn völlig normal zu finden. Hier von gemeinsamen Werten zu reden, zeigt, dass die Schweizer Seite nicht auf Gleichwertigkeit insistiert und die EU diese trotz gegenteiliger Bekenntnisse auch nicht anerkennt. In der Tat werden Drohgebärden der EU im «Common Understanding» schriftlich festgehalten (S. 13).
Das Pakt soll gemäss «Common Understanding» die folgenden Elemente umfassen:
• Die «institutionellen Lösungen» samt automatischer Rechtsübernahme sollen für jedes der
bestehenden Abkommen (Bilaterale I von 1999: Luftverkehr, Landverkehr, Personenfreizügigkeit, technische Handelshemmnisse, landwirtschaftliche Erzeugnisse) verankert werden.
• Abkommen in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit
• Regelungen für staatliche Beihilfen, die in die Abkommen über Luftverkehr, Landverkehr und Strom aufgenommen werden
• Eine Vereinbarung über die Beteiligung der Schweiz an Unionsprogrammen (Forschung, Bildung)
• Eine Vereinbarung über den finanziellen Beitrag der Schweiz
• Einen hochrangigen Dialog.
Diese Elemente werden in der Folge ausführlicher dargestellt. Von besonderem Interesse sind die «dynamische Rechtsübernahme», die «Streitbeilegung» und die «Verknüpfung» zwischen den Abkommen. Bis auf eventuelle Präzisierungen hat die «Schweiz», d.h. der Bundesrat, diesbezüglich bereits nachgegeben: Es heisst etwa lapidarisch: «Die Europäische Kommission und die Schweiz teilen die Auffassung, dass das gute Funktionieren der bestehenden und künftigen Binnenmarktabkommen durch eine Verpflichtung zur dynamischen Rechtsübernahme gewährleistet werden sollte, sofern die bereits bestehenden Ausnahmen gewahrt bleiben und für die Ausnahmen, Prinzipien und Absicherungen eine Lösung gefunden wird.» Der Bundesrat ist also für die rechtliche Unterwerfung unter die EU-Gesetzgebung und deren Weiterentwicklung in den Bereichen, die durch die Verträge abgedeckt sind.
Bezüglich Streitbeilegung: gelingt es den sektoriellen Ausschüssen nicht, eine Lösung für einen Streitpunkt zu finden, sollen beide Parteien die Möglichkeit haben, ein Schiedsgericht anzurufen, in dem beide Parteien vertreten sind. Diese «sollte» den Europäischen Gerichtshof (EU-Gerichtshof) anrufen, wenn es um die Anwendung von EU-Rechtsbegriffen geht. Die Entscheidung des EU-Gerichtshofes ist für die Parteien dann verbindlich. Faktisch besteht damit eine Unterwerfung unter das Gericht der Gegenpartei auf dem Gebiete der Verträge, wenn es um die Anwendung von EU-Rechtsbegriffen geht. Die NZZ (Tobias Gafafer, Fabian Schäfer, 18.01.2024, Europäische Richter, dynamische Rechtsübernahme, Zuwanderung, Lohnschutz: Das müssen Sie über den Neuanlauf mit der EU wissen) wittert hier eine Neuerung gegenüber dem gescheiterten Rahmenvertrag: das Schiedsgericht muss an den EU-Gerichtshof gelangen und nicht etwa die Vertragsparteien. Ob dies wirklich relevant ist, sei dahin gestellt.
Bezüglich Strafmassnahmen gilt: «Die Europäische Kommission und die Schweiz teilen die Auffassung, dass alle bestehenden und künftigen Binnenmarktabkommen als kohärentes Ganzes betrachtet werden sollten, das ein Gleichgewicht der Rechte und Pflichten zwischen der EU und der Schweiz gewährleistet. Stellt ein Schiedsgericht fest, dass eine Partei gegen eines dieser Abkommen verstossen hat, und ist die andere Partei der Ansicht, dass der Entscheid des Schiedsgerichts von der vertragsbrüchigen Partei nicht befolgt wurde, sollte diese andere Partei die Möglichkeit haben, im betroffenen Abkommen oder in jedem anderen Binnenmarktabkommen eine Auswahl von verhältnismässigen Ausgleichsmassnahmen zu ergreifen. Die von den Ausgleichsmassnahmen betroffene Partei sollte die Möglichkeit haben, die Verhältnismässigkeit dieser Massnahmen durch das Schiedsbericht beurteilen zu lassen.» Damit gilt zwar nicht eine «Super-Guillotine», welche zur Aufhebung aller Verträge führte, wenn ein Vertrag verletzt oder gekündigt wird. Es gilt aber festzuhalten, dass die EU beliebige «verhältnismässige» Retorsionsmassnahmen auf dem durch die Verträge betroffenen Gebiet erlassen kann, wobei die Überprüfung der Verhältnismässigkeit dauern wird – sofern der Bundesrat diese überhaupt überprüfen lässt – und Strafen damit ziemlich willkürlich verfügt werden können. Die Guillotineklausel bezüglich der Bilateralen I bliebe übrigens in Kraft.
Der Bundesrat einigt sich mit der EU auch bezüglich jährlicher Zahlungen, die «Kohäsionsbeitrag» genannt werden. «Die Europäische Kommission und die Schweiz teilen die Auffassung, dass die Grundlage für einen regelmässigen, gemeinsam vereinbarten und fairen finanziellen Beitrag der Schweiz zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten zwischen ihren Regionen geschaffen werden sollte. Damit sollte die kontinuierliche und ausgewogene Stärkung der wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen zwischen ihnen gefördert und dabei auf wichtige gemeinsame Herausforderungen reagiert werden.
Dieser neue rechtsverbindliche Mechanismus sollte für den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen der EU bereit sein. Die Kommission und die Schweiz teilen die Auffassung, dass der erste Schweizer Beitrag zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten im Rahmen des ständigen Mechanismus eine zusätzliche finanzielle Verpflichtung für den Zeitraum zwischen Ende 2024 und dem Inkrafttreten des ständigen Mechanismus beinhalten sollte. Diese Verpflichtung sollte das Niveau der Partnerschaft und der Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und der EU in diesem Zeitraum angemessen widerspiegeln.»
Diesbezüglich sind ein paar Feststellungen angebracht: (1) Solche Zahlungen dienen nicht dazu, die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten zwischen den Regionen zu verringern. Durch Freihandel zwischen wirtschaftlich ungleich starken Regionen werden die Unterschiede verstärkt und die Zahlungen dienen vor allem dazu, in den Verliererregionen Personen zu finanzieren, die nachher fürs EU-Intergrationsprojekt einstehen, da sie von diesem finanziell abhängig sind. Es geht also nicht im Kohäsion, sondern um Integration gewisser Schichten ins EU-Projekt. (2) Die Forderung nach Ausgleichszahlungen widerspricht der wirtschaftsliberalen Theorie, die dem Binnenmarkt zugrunde liegt, dass Handel und Arbeitsteilung immer zum Nutzen aller beteiligt sind. Mit der Forderung nach Ausgleichszahlungen widerspricht die EU faktisch ihrer Ideologie. (3) Die Ausgleichszahlungen sollten von den Profiteuren des Freihandels bezahlt werden – also von den Mitgliedern der Wirtschaftsverbände, die sich für die neuen Verträge einsetzen. Nur wenn man die Kosten nicht auf die Allgemeinheit verteilen kann, kann man eine saubere Kosten-Nutzen-Rechnung vornehmen. (4) Wenn es ums Zahlen geht, spricht man von «Partnerschaft», wo sonst dynamische Rechtsübernahme, Übernahme von Urteilen der mächtigeren Vertragspartei verlangt und etwa die Aufhebung der «Nadelstiche» von «Fortschritten in den Verhandlungen» abhängig gemacht werden (s. S. 13 des «common understanding».
Der Bundesrat einigt sich mit der EU-Kommission und die Schweiz zudem darin, staatliche Beihilfenregeln, welche für die EU-Mitgliedstaaten gelten, gleichwertig zu diesen auszugestalten. Diese dürfte erheblichen Auswirkungen auf den wirtschaftspolitischen Handlungsspielraum der Kantone und des Bundes haben: statt demokratisch kontrollierter Wirtschaftspolitik wird man es mit demokratisch nicht kontrollierbarer EU-Deregulierungspolitik zu tun haben.
Im Vergleich zum gescheiterten Rahmenvertrages haben sich im «Common Understanding» offenbar ein paar weitere Verschiebungen ergeben:
• Die EU möchte die Unionsbürgerrichtlinie auch auf die Schweiz ausweiten, was der Bundesrat jedoch ablehnt, da Auswirkungen auf das Sozialsystem befürchtet werden. Der Rahmenvertrag war diesbezüglich unklar. Vermutlich hätte das zu schaffende Schiedsgericht unter Einbezug des EuGH entscheiden müssen. Neu will der Bundesrat diese Fragen bereits in den Verhandlungen klären.
• Der Bundesrat hofft auf zusätzliche Absicherungen etwa zu den Lohnkontrollen, die im Rahmenabkommen nicht vorgesehen waren. Neu ist die Idee einer sogenannten «Non-Regression-Klausel», um die Einwände der Gewerkschaften zu entkräftigen. Dieser Klausel gemäss müsste die Schweiz keine EU-Regeln übernehmen, die den Lohnschutz schwächen. Die EU verlangt aber handkehrum die Übernahme ihrer Spesenregelung. Dies wird hier von Arbeitgebern- und Arbeitnehmerverbänden abgelehnt, weil es das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» unterläuft. Interessant diesbezüglich, dass z.B. die Basler EU-Rechtsprofessorin Christa Tobler die Meinung vertritt, die Spesenregelung sei in ihrer gegenwärtigen Form eigentlich ein Systemfehler im EU-Recht, der gegen das übergeordnete Gebot der Rechtsgleichheit verstosse. Die Schweiz könnte es also sogar wagen, die Regel zu ignorieren und dafür Klagen aus der EU zu riskieren. Käme es dann zu einem Verfahren vor dem Schiedsgericht, hätte sie reelle Chancen, den Streit zu gewinnen (Der Bund, 17. 12. 2023). Da wird von EU-philen Rechtsgelehrten also zum Rechtsbruch aufgefordert – von Rechtsgelehrten, die sonst nicht genug den angeblichen Zuwachs an Rechtssicherheit durch künftige Verträge mit der EU anpreisen.
• Im Rahmenvertrag wollte die EU Verhandlungen über das Freihandelsabkommen (FHA) von 1972 vorsehen. Dies lehnten in der Schweiz die Kantone und die Bauern sowie einige kritische Wirtschaftsvertreter ab. Das FHA soll durch das Verhandlungspaket nicht tangiert werden.
Das definitive Verhandlungsmandat
Das «common understanding» wurde in der Schweiz einem Vernehmlassungsverfahren unterzogen. Neben parlamentarischen Kommissionen wurden die Kantone begrüsst. Zudem wurden ausgewählte Sozial- und Wirtschaftspartner eingeladen, zum Entwurf Stellung zu beziehen (economiesuisse, Schweizerischer Arbeitgeberverband, Schweizerischer Gewerbeverband, Schweizerische Bankiervereinigung, Schweizerischer Bauernverband, Schweizerischer Gewerkschaftsbund, Travail.Suisse). Das Ergebnis der Konsultationen liegt in einem Bericht vor und wurde am 8. März 2024 veröffentlicht. s. https://www.eda.admin.ch/content/dam/europa/de/documents/berichte_botschaften/20240308_bericht-ergebnisse-konsultation-entwurf-verhandlungsmandat-eu_DE.pdf
Auf Grund der Konsultationen hat der Bundesrat das definitive Verhandlungsmandats (https://www.eda.admin.ch/content/dam/europa/de/documents/berichte_botschaften/20240308_endguetiges-verhandlungsmandat_DE.pdf) um ein paar Forderungen ergänzt, die über das «common understanding» hinausgehen. Es geht um Verbesserungen beim internationalen Bahnverkehr und beim geplanten Stromabkommen. Der Bundesrat will aber auch weitere Präzisierungen bezüglich der bestehenden Schutzklausel im Freizügigkeitsabkommen besprechen.
Bezüglich Rechtsauslegung wird das sogenannte Zwei-Pfeiler-Modell betont, ein Ausdruck der im «common understanding» nur einmal und zwar im Zusammenhang mit den staatlichen Beihilfen auftaucht. Es heisst: «6.3. Auslegung und Anwendung: Die einheitliche Auslegung und Anwendung gemäss den völkerrechtlichen Grundsätzen werden durch die Behörden der Vertragsparteien auf deren jeweiligem Territorium sichergestellt (Zwei-Pfeiler-Modell). Die Kompetenz des Bundesgerichts zur Auslegung des Schweizer Rechts und die Kompetenz des EuGH zur Auslegung des EU-Rechts, einschliesslich der Abkommensbestimmungen, die unionsrechtliche Begriffe implizieren, werden respektiert.
6.4. Überwachung: Die Abkommen werden durch die Behörden der Vertragsparteieneigenständig auf deren jeweiligem Territorium gemäss den völkerrechtlichen Grundsätzen überwacht (Zwei-Pfeiler-Modell).
6.5. Dynamische Rechtsübernahme: Die regelmässige Aktualisierung der bestehenden und künftigen Binnenmarktabkommen wird durch die dynamische Rechtsübernahme sichergestellt; dies unter der Voraussetzung, dass (i) die Schweiz an der Weiterentwicklung des sie betreffenden EU-Rechts teilnehmen kann (decision shaping), (ii) ihre verfassungsrechtlichen Verfahren respektiert werden und (iii) keine EU-Rechtsentwicklungen übernommen werden, die in den Anwendungsbereich einer Ausnahme fallen.
6.6. Streitbeilegung: Im Streitfall suchen die Parteien im Gemischten Ausschuss nach einer politischen Lösung. Bei fehlender Einigung im Gemischten Ausschuss kann jede Vertragspartei den Streit einem paritätischen Schiedsgericht unterbreiten. Wirft der Streitfall eine Frage betreffend eine Ausnahme von der dynamischen Rechtsübernahme auf und impliziert er keine Auslegung oder Anwendung von unionsrechtlichen Begriffen, entscheidet das Schiedsgericht den Streitfall ohne Einbezug des EuGH. Wirft der Streitfall eine Frage betreffend die Auslegung oder Anwendung einer Bestimmung eines Abkommens oder des EU-Rechts auf, deren Anwendung unionsrechtliche Begriffe impliziert, und ist die Auslegung dieser Bestimmung für die Streitbeilegung relevant und für eine Entscheidfällung durch das Schiedsgericht notwendig, so unterbreitet das Schiedsgericht diese Frage dem EuGH zur verbindlichen Auslegung. In jedem Fall entscheidet das Schiedsgericht über den Streitfall.
6.7. Ausgleichsmassnahmen: Im Falle der Feststellung einer Verletzung durch das Schiedsgericht, können im durch die Verletzung betroffenen Abkommen bzw. in einem anderen Binnenmarktabkommen verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen ergriffen werden. Die Schweiz strebt an, dass die Ausgleichsmassnahmen erst in Kraft treten, wenn das Schiedsgericht über deren Verhältnismässigkeit entschieden hat. Das Ziel ist insbesondere, allfällige Schäden aufgrund von Ausgleichsmassnahmen zu vermeiden, die in der Folge als unverhältnismässig beurteilt werden.»
Die Formulierung, dass im Falle von unionsrechtlichen Begriffen das EU-Gericht verbindlich urteilt, aber in jedem Fall das Schiedsgericht über den Streitfall entscheidet, ist interessant. Es handelt sich wohl um den verzweifelten Versuch, Unterwerfung als Gleichberechtigung im Schiedsgericht zu verkaufen.
Anscheinend hat nun auch die EU-Kommission in Antwort auf diese Ergänzungen ihre Forderungen ergänzt. Sie möchte nun doch über eine Modernisierung des Freihandelsabkommens (FHA) von 1972 sprechen. Zudem stellt die EU-Kommission manche Ausnahmen in Frage, die sie der Schweiz im Rahmen der Bilateralen I gewährt hatte (z.B. Export von Leistungen wie Arbeitslosengeldern)
Eröffnung der Verhandlungen
Die beiden Parteien haben am 8. März 2024 offiziell die Verhandlungen eröffnet. Von diesen ist nichts Gutes zu erwarten, da der Bundesrat in den demokratiepolitisch entscheidenden Fragen bereits nachgegeben hat: (1) automatische Rechtsübernahme und damit Aufgabe der Möglichkeit demokratisch kontrollierter Wirtschaftspolitik in den Bereichen, die von den Verträgen abgedeckt werden sowie (2) Unterwerfung unter das Gericht der Gegenpartei. Das Reden von «zwei Pfeilern» ist als Augenwischerei zu betrachten.
Unia-Präsidentin Vania Alleva.
Die Unia-Präsidentin Alleva erklärt, die Schweiz müsse die Spesenregelung wegverhandeln, und zwar dringend. Sie rechnet vor, dass ein Arbeiter in der Schweiz für Unterkunft, Essen und Reisen pro Monat schnell einmal 3500 Franken bezahlen müsse, bei einem Durchschnittslohn auf dem Bau von 5500 Franken. «Muss der Entsandte diese Spesen ganz oder auch nur teilweise selber bezahlen, ist das eine Ausbeutung, die wir nicht tolerieren können», sagt sie. Zudem verschaffe dies seinem ausländischen Unternehmen einen unfairen Wettbewerbsvorteil. Die Spesenregelung ist darum für die Gewerkschaften einer von mehreren Punkten, wegen deren sie die laufenden Verhandlungen nicht mittragen und mit Ablehnung des ganzen Pakets drohen.
Der Bund seinerseits will sich derzeit auf mögliche Interpretationen der Entsenderichtlinie nicht einlassen. Stattdessen hat der Bundesrat in seinem Verhandlungsmandat das Ziel definiert, bei den Spesen eine Lösung zu finden, die den Grundsatz «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» garantiert und unlauteren Wettbewerb verhindert.
Die politischen Chancen des neuen Vertragspakets werden auch davon abhängen, wie gut ihm das nun in den Verhandlungen gelingt. Denn die SVP lehnt die Übung grundsätzlich ab, für die Linke und die Gewerkschaften gehen die diskutierten Kompromisse beim Lohnschutz generell zu weit. Und so könnte es ohne weitere Fortschritte bald heissen: Ausser Spesen (wieder) nichts gewesen. NZZ am Sonntag, 24. März 2024, S. 1
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Europa: Keine Zustimmung ohne wirksamen Lohnschutz (8. März 2024)
Der Bundesrat hat an seiner heutigen Medienkonferenz das definitive Verhandlungsmandat mit der EU verabschiedet und den Beginn der Verhandlungen noch für diesen Monat angekündigt. Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, wird kein Verhandlungsergebnis unterstützen, welches den Lohnschutz oder den Service Public schwächt. Entsprechende Zugeständnisse gegenüber der EU, unter anderem bei den Spesen, untergraben den Lohnschutz und sind in einem Abkommen nicht tragbar.
Der Bundesrat hat an seiner heutigen Medienkonferenz bestätigt, dass er mit der EU auf der Grundlage der Sondierungen Verhandlungen aufnehmen will. Dabei schafft er Transparenz über das Verhandlungsmandat. Dieses birgt gegenüber dem Entwurf, welches er in die Konsultation geschickt hat, wenig substanziell Neues.
Das Mandat verdeutlicht, dass der Bundesrat beim Lohnschutz zu bedeutenden Zugeständnissen gegenüber der EU bereit ist. So soll etwa die Voranmeldefrist verkürzt oder die Kaution nur noch im Wiederholungsfall erhoben werden. Auf eine allgemeine Absicherung der Dienstleistungssperre will der Bundesrat hingegen verzichten. Dies, obwohl die Gewerkschaften stets darauf hingewiesen haben, wie wirksam mit diesem Instrument gegen Unternehmen vorgegangen werden kann, welche missbräuchlich die Löhne unterbieten. «Der Lohnschutz muss aussenpolitisch abgesichert und gleichzeitig innenpolitisch gestärkt werden, sonst wird Travail.Suisse ein Abkommen zurückweisen», so Adrian Wüthrich, Präsident von Travail.Suisse.
Hinsichtlich der Spesenregelung will der Bundesrat mit seiner Lösung das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» zwar garantieren. Er weist aber die Forderung der EU nach dem Herkunftsprinzip nicht ausdrücklich zurück. «Ausländische Spesen untergraben inländische Löhne. Der Bundesrat muss die Anwendung inländischer Spesenregelungen deshalb in den Verhandlungen mit der EU zwingend durchsetzen, wenn er das Prinzip ‘gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort’ nicht untergraben will», so Thomas Bauer, Leiter Wirtschaftspolitik.
Travail.Suisse lehnt zudem eine Liberalisierung des internationalen Schienenverkehrs, wie sie im Verhandlungsmandat vorgesehen ist, ab. Das bestehende Kooperationsmodell soll beibehalten werden, ohne gleichzeitig Wettbewerbsmodelle zu erlauben. https://www.travailsuisse.ch/de/weitere-themen/europa-international/2024-03-08/europa-keine-zustimmung-ohne-wirksamen-lohnschutz
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