Übersicht Dossiers Schweiz SPS-Partei-Programm, die EU und die Überwindung des KapitalismusAnlässlich der Pressemeldungen über die Verabschiedung des SP-Parteiprogramms vom Oktober 2010 1) (Fussnote Sozialdemokratische Partei der Schweiz, Parteiprogramm: Für eine sozial-ökologische Wirtschaftsdemokratie, verabschiedet vom SP-Parteitag in Lausanne, 30./31.Oktober 2010; http://www.sp-ps.ch/ger/Partei/Unsere-Werte/Parteiprogramm) mochte man sich wundern, dass die SPS sowohl möglichst schnell der EU beitreten und zugleich den Kapitalismus überwinden will – ist die EU doch die Inkarnation des Kapitalismus in Westeuropa: Beschränkung des demokratischen Einflusses der Bevölkerungen zu Gunsten des möglichst unbeschränkten Einflusses der Multis2) (Fussnote gut dokumentiert in Balanyá (et al.) (2001) Konzern Europa: Die unkontrollierte Macht der Unternehmen, Zürich: Rotpunkt. Die Entwicklungen werden von den Autoren weiterhin im Auge behalten. s. http://www.corporateeurope.org) sowie Druck auf die Löhne und die Sozialversicherungen im Rahmen einer marktradikalen, rechtsliberalen Ideologie. Die Verwunderung verschwindet aber teilweise, sobald man liest, was die SPS unter der Überwindung des Kapitalismus versteht.
Von Paul Ruppen
Es ist gar nicht so einfach, im SPS-Partei-Programm hinter dem Schwall von hehren Grundsätzen, die jeder sozial und demokratisch denkende Mensch unterschreiben würde, die Grundeinstellungen herauszufiltern, die hinter dem Wunsch stecken, der EU beizutreten. Man findet unter der schönen Rede ein ziemlich unschönes, ungebrochenes Vertrauen in demokratisch sehr mittelbar kontrollierte „Eliten“.
Direkte Demokratie
Die SPS singt scheinbar ein Loblied auf die direkte Demokratie: „Wir verteidigen sie gegenüber jenen, die sie als ineffizient, zu langsam oder gar zukunftsuntauglich bezeichnen. Die direkte Demokratie ist der ausschliesslich parlamentarischen überlegen, weil der Souverän seine Macht nicht nur durch die Wahl des Parlaments, sondern auch in Form von Sachentscheiden ausüben kann.“ (S. 35). Im nächsten Abschnitt wird der Souverän aber souverän in die Schranken verwiesen: „So wichtig die demokratische Staatsform für uns ist, so wichtig ist es anderseits, ihre Grenzen zu benennen, denn auch eine Mehrheit darf nicht alles. Demokratie findet ihre Grenzen im übergeordneten Recht, das ja seinerseits demokratisch legitimiert ist, also in den Grund- und Menschenrechten sowie im Völkerrecht. Ohne solche Schranken kann die Demokratie untergraben werden und zu einem Willkürstaat gegen Minderheiten verkommen.“
Diese Passage ist bezeichnend für die zu Grunde liegenden technokratischen, elitistischen und letztlich antidemokratischen Einstellungen der heutigen Sozialdemokratie:
• Der Souverän nicht alles darf – das ist unbestritten. Wer darf ihn aber beschränken, ausser er selbst? Wer dem Souverän Grenzen vorschreibt, macht sich selber zum Souverän und bestreitet damit die Volkssouveränität. Demokraten, die mit Mehrheitsentscheiden nicht einverstanden sind, setzen sich für eine Veränderung der Mehrheitsmeinung ein, nicht für eine Beschränkung der Volkssouveränität.
• Völkerrecht hat eine sehr indirekte und nur teilweise demokratische Legitimation. Das Recht wird im wesentlichen von Sachverständigen entwickelt, die von Regierungen bestimmt werden und diesen gegenüber verantwortlich sind. Die Regierungen ihrerseits sind keineswegs alle demokratisch legitimiert. Zudem ist die demokratische Kontrolle der Regierungen bei der Aushandlung von entsprechenden Regelungen sehr indirekt. Sie erfolgt in fast allen Ländern höchstens via Parlamente, die für ein paar Jahre gewählt wurden und die kaum je in Hinblick auf die Entwicklungen des Völkerrechts erkoren werden. Eine inhaltliche demokratische Legitimation liegt also nur am Rande vor.
• Eine gewisse, indirekte demokratische Legitimation ist dem Völkerrecht sicher nicht abzusprechen. Auch ohne explizite Willensbekundungen entsprechen etliche Entwicklungen den Absichten und Wünschen von Mehrheiten in den Bevölkerungen. Daraus kann man aber nicht schliessen, dass Völkerrecht künftig ausserhalb demokratischer Einflussnahme zu stehen habe, gleichsam durch einen einmaligen Willensakt auf immer und ewig demokratisch legitimiert. Die heutige Generatione kann die künftigen Generationen nicht derart rechtliche binden: Recht muss vielmehr immer wieder demokratische legitimiert werden (können). Die Volkssouveränität ist dadurch gekennzeichnet, dass immer wieder auf Entscheidungen
zurückgekommen werden kann.
• Wer sich über die Volkssouveränität stellt und vorschreiben will, worüber abgestimmt werden darf, beantsprucht eine Form der Unfehlbarkeit. Eine solcher Anspruch führt in voraufklärerische, dunkle Zeiten zurück, die man überwunden glaubte.
• Der Rechtsstaat ist ein Produkt der Demokratie. Die Bevölkerungen wollten nicht staatlicher Willkür ausgesetzt sein. Die einzige Garantie für einen dauerhaften Fortbestand des Rechtsstaates besteht in der fortwährenden demokratischen Kontrolle von Regierung, Parlamenten und Gerichten.
Die technokratische Ausrichtung des Parteiprogramms wird unterstrichen durch den Umstand, dass die SPS die direktdemokratischen Rechte jeglichem Völkerrecht, nicht etwa nur Menschenrechten, unterwerfen möchte. Die SPS möchte die Ebene der internationalen Organisationen zudem zusätzlich stärken – angeblich um die Globalisierung in Griff zu bekommen (EU, UNO, WTO, IWF/Weltbank, ILO; S. 35): „Die Dynamik der Globalisierung führt zu einem ständigen Bedeutungszuwachs der internationalen Organisationen. Diese sind in der Regel auf der exekutiven Ebene angesiedelt und somit demokratisch eher schwach abgestützt. Die wichtigsten Institutionen dieser Art (UNO, WTO, IWF/Weltbank, ILO) werden in Zukunft vermehrt bisher nationalstaatliche Kompetenzen übertragen bekommen. Wenn aber diese Kompetenzen aus dem demokratisch besser begründeten Souveränitätsbereich der Nationalstaaten zu den internationalen Institutionen wechseln, dann ergibt sich ein Demokratisierungsbedarf.“ (S. 35)
Was wird dann unter Demokratisierung solcher Organisationen verstanden? „Der Demokratisierungsbedarf der internationalen Institutionen muss eingelöst werden durch ihre eigene Parlamentarisierung und durch den Einbezug der nationalen Parlamente in ihre strategischen Entscheidungen.“ (S. 2010). Es wird also nicht verlangt, dass möglichst wenig Kompetenzen auf höhere Ebenen verschoben werden, um den Bevölkerungen möglichst unmittelbare Teilnahme an Entscheidungen zu gewährleisten. Die SPS ist mit einem weitgehend doch eher Alibifunktionen übernehmenden Parlamentarismus auf Organisationsebene und einer sehr mittelbaren Kontrolle via „nationaler“ Parlamente glücklich, die ihren Unwillen, solche Organisationen zu kontrollieren, bereits zur Genüge demonstriert haben – besonders augenfällig und sehr gut dokumentiert etwa im Falle der EU. (Fussnote s. z.B. Clarissa Freundorfer, Die Beteiligung des Deutschen Bundestages an der Sekundärrechtsetzung der Europäischen Union, Bern, Peter Lang, 2008.)
Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass die SPS in diesem Zusammenhang eine Erweiterung der direktdemokratischen Instrumente vorschlägt, welche unterstützenswert ist: es wird das Recht auf eine Volksinitiative verlangt, wodurch „das Volk dem Bundesrat auch in der Aussenpolitik konkrete Handlungsaufträge erteilen kann“. Angesichts der zunehmenden Wichtigkeit der internationalen Ebene wäre ein solches Recht unabdingbar – es kann eine Ansiedlung von möglichst vielen Entscheidungskompetenzen in Reichweite der Bevölkerungen aber nicht ersetzen. Man darf gespannt darauf sein, ob die SPS eine Volksinitiative für die Einführung eines solchen Initiativrechtes starten wird.
Föderalismus
Interessant und bezeichnend sind die Aussagen im Programm zum Föderalismus: „Die SP ist für föderalistische Staatsstrukturen, weil sie zur Machtteilung und zur Bürger- und Bürgerinnennähe beitragen. Die Gliederung des Staates in drei Ebenen halten wir für zweckmässig und zukunftstauglich, in der konkret vorhandenen Ausprägung aber für reformbedürftig. Zudem muss sie um eine vierte Ebene, die europäische, ergänzt werden.“ (S. 37) Die Bürgerinnennähe soll dabei nicht etwa nur durch die vierte Ebene, die „europäische“ abgeschwächt werden, sondern auch durch die „Reform“ der politischen Gebietsstrukturen des Föderalismus auf Landesebene. Die SPS tritt für Gemeindefusionen ein, für Bezirkszusammenlegungen und verlangt: „Langfristig soll die Anzahl Kantone stark reduziert werden, damit grössere und eigenständigere Einheiten als heute untereinander gleichwertig und mit neuer Vitalität ihre Aufgaben erfüllen können.“
Faktisch ist die SPS auf jeder Ebene für Zentralisierung und für eine Ansiedelung von Entscheidungskompetenzen auf möglichst hoher Ebene. Das Bekenntnis zur Bürger- und Bürgerinnennähe wird durch die systematische Forderungen nach Gebietsreformen desavouiert. Gebietsreformen können sich in manchen Fällen aufdrängen, wobei dies von Fall zu Fall konkret zu analysieren ist und unter Zustimmung der Betroffenen zu erfolgen hat. Im SPS-Programm verzichtet man auf solche Forderungen: Zentralisierung ist offenbar per se gut. Die von der SP angestrebeten Gebietsreformen bedeuten insgesamt eine Stärkung des Staatsapparates via Professionalisierung und eine Schwächung des Milizsystems: Bürokratisierung statt Bürgernähe.
Der „vierten Ebene“, der EU, möchte SPS noch mehr Kompetenzen übertragen – obwohl gemäss verschiedenen Quellen um die 80% der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten bereits auf dieser Ebene produziert wird.
„Demokratisierung“ der Wirtschaft und „Überwindung des Kapitalismus“
„Die SP Schweiz war und ist eine Partei, die den Kapitalismus nicht als Ende und schon gar nicht als Vollendung der Geschichte akzeptieren will. Sie hat immer eine Wirtschaftsordnung ins Auge gefasst, die über den Kapitalismus hinausgeht und diesen durch die Demokratisierung der Wirtschaft letztlich überwindet. Sie wusste, dass dieses Ziel in der Ferne liegt, aber sie hat trotzdem an ihm festgehalten. Denn die Wirtschaftsdemokratie ist mehr als ein Ziel. Sie ist auch der Weg, um dieses Ziel zu erreichen.“ (S. 15). Doch was verstehen die Sozialdemokratien unter „Demokratisierung“ der Wirtschaft?
Unter Demokratisierung verstehen die Genossen
• Die Entwicklung der Sozialversicherungen an Stelle privater Versichungen
• Stärkung des Servic public
• Entwicklung des Genossenschaftswesens (z.B. in den Bereichen Krankenversicherungen, Pensionskassen, Telekommunikation)
• Mitbestimmung der Belegschaften vom Arbeitsplatz über den Betrieb bis zur Unternehmensebene, auch bei transnationalen Unternehmungen
• Weiterentwicklung der Aktiengesellschaften zu Mitarbeitergesellschaften
• Ausweitung der Rechte der Beschäftigen zu Lasten des Diktats von Aktionären
• Staatliche Regulation bestimmte Kernmärkte
• Bereitstellung öffentlicher Güter durch die Errichtung eines transnationalen Service public statt transnationaler Privatisierungen
• Überführung von privaten Kapitalgesellschaften in staatliches Eigentum in
bestimmten Bereichen
• Stärkung der Eingriffsrechte von Bund, Kantonen und Gemeinden in die Boden- und Eigentumspolitik
Obwohl eine Tendenz zu mehr Staat markant ist, wird der Markt nicht abgelehnt: „Der Markt ist zwar ökonomisch effizient, wäre aber ohne Leitplanken ökologisch und sozial blind. Sofern die Leitplanken richtig gesetzt sind, bildet er die beste Methode zur Regulierung von Angebot und Nachfrage und zur Preisbildung. Damit der Markt seine Qualitäten ausspielen kann, muss allerdings der Wettbewerb am richtigen Ort spielen können. Er darf nicht durch die Konzentration der Marktmacht in den Händen weniger sowie durch fehlende Transparenz, schädliche privatwirtschaftliche Monopole oder Kartellbildung unterlaufen werden.“ (S. 48). Auch hier hat der Staat gemäss SP-Programm eine grosse Rolle zu spielen: „Der Markt ist ein Werkzeug unter anderen, das, richtig eingesetzt, effizient Ressourcen zuteilen und Güter verteilen kann. Wir sehen ihn als Wirtschaftsmotor im Dienst einer freiheitlichen und gerechten Gesellschaft. Die Politik muss die Märkte steuern, ihnen Leitplanken setzen und Ziele vorgeben, ihre zerstörerischen Kräfte bändigen und sie umlenken in Bahnen, die den Menschen Lebensqualität und der Natur Schutz bieten. Die SP engagiert sich in diesem Sinne für eine sozial-ökologische Marktwirtschaft, die zur Wirtschaftsdemokratie beiträgt und in diese integriert ist.“ (S. 48).
Manche Vorschläge zur Demokratisierung der Wirtschaft sind durchaus diskussionswürdig und es ist sicher richtig, einer Art gemischter Wirtschaft das Wort zu reden, wenn man Versorgungssicherheit für alle will und eventuell von der Wachstumsorientierung wegkommen will (das steht im Programm allerdings nicht!). Der Staat hat dabei vermutlich eine wichtige Rolle zu spielen – um so wichtiger ist die demokratische Kontrolle des Staates. Hier sind bezüglich der sozialdemokratischen Konzepte einige Fragezeichen zu setzen. Die sozialdemokratische Gesamtsicht führte bei ihrer Umsetzung zu einer massiven Verstärkung des Staatsapparates und Zentralisierung von Entscheidungskompetenzen auf demokratisch kaum noch zu kontrollierende Ebenen, und entsprechend zu Bürgerferne und Schwächung der demokratischen Kontrolle. Eine solcher Staatsapparat würde zur Gefahr für die Demokratie, den Rechtsstaat, die Menschen und deren Versorgungssicherheit. Die Zwangsjacke eines solchen Staates hat mit der Überwindung des Kapitalismus durch „die freien Kooperation freier Individuen“ jedenfalls nichts mehr zu tun. (Fussnote: die Utopie der freien Koooperatio freier Individuen ist sicher nicht realistisch. Als Leitidee ist sie aber alleweil tauglich).
Klassische EU-Ideologie
Im übrigen wird im SP-Programm die klassische Verbrämung des EU-Grossmachtprojektes als „Friedensprojekt“ gefeiert. Eine Rückverlagerung von Kompetenzen in die Mitgliedstaaten wird als „Nationalismus“ verschrieen – die Genossen setzen damit auf bekannte europopulistische Art bürgernahe demokratische Kontrolle der Politik mit Nationalismus gleich. Dabei würden demokratisierte Länder in Europa sich gegenseitig keineswegs bedrohen. Es ist vielmehr die EU, welche längerfristig den Weltfrieden und wohl auch den Frieden in Europa bedroht: Die Grossmachtaspirationen der EU mit dem Ziel der Absicherung von Rohstoffzufuhr und Absatzmärkten sind wohlbekannt und auch in offiziellen Texten dokumentiert (Fussnote s. z.B. Edito-Seite für ein Zitat). Nachdem die klassischen westeuropäischen Nationalstaaten imperialistischer Politik allein nicht mehr fähig waren, mussten sie sich zusammenschliessen, um diese fortführen zu können. Die Darstellung der EU als Friedensprojekt ist Ideologie im Dienste dieses EU-Grossmachtprojektes.
Bemerkenswert ist die folgende Kritik der SP an der EU: „Während Jahren dominierte in der EU eine neoliberale Marktideologie“ (S. 7) und es wird eine verstärkte Anstrengung der europäischen Sozialdemokratie verlangt, um diese zu überwinden. Bei dieser Kritik wird allerdings unterschlagen, dass das Binnemarktprojekt von einem sozialistischen EG-Kommissar (Jacques Delors) in Eintracht mit den westeuropäischen und US-amerikanischen Multis vorangetrieben wurde. Und während einer fast 100% sozialdemokratischen Dominanz in den EU-Ministerräten Ende der 90er Jahre wurde das EU-Projekt kräftig in neoliberale Richtung weiterentwickelt – inklusive Währungsunion, deren desaströsen sozialen Folgen wir heute anschlaulich vor Augen haben. Die sozialen Folgen werden heute durch sozialdemokratische Regierungen unerbittlich verstärkt – unterwürfig gegenüber internationalen Gremien und im Dienste der Rückzahlung von Schulden an deutsche Banken.
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