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25 Jahre Europapolitik der Schweizer Grünen: Auf dem Weg zu den Wurzeln

Als am Abstimmungsabend des 6. Dezembers 1992 das knappe Volks-Nein zum EWR mit einem Unterschied von 23‘836 Stimmen – die Vorlage wäre so oder so vom Ständemehr abgelehnt worden – feststand, war klar: den Ausschlag für das Volksmehr hatten die Grünen gegeben. Dieser Erfolg löste bei einem Teil der führenden VertreterInnen der Grünen einen eigentlichen „Schock“ aus. Im Nachhinein wurde versucht, die Haltung der Grünen umzuinterpretieren. Bereits 10 Tage nach der Abstimmung forderten die Grünen an einer Pressekonferenz „sofortige EG-Beitrittsverhandlungen“. Das Nein zum EWR sei in Wirklichkeit ein Ja zum EU-Beitritt gewesen. Die NZZ titelte berechtigt mit „Integrationspolitische Purzelbäume“.1)

Von Luzius Theiler

In der Tat hält die grüne Nach-EWR-„Korrektur“ der Parteigeschichte den historischen Tatsachen nicht Stand. In einem Papier unter dem Titel „Ja zu Europa heisst Nein zum EG-Binnenmarkt“ bezogen die Schweizer Grünen 1989 zum ersten Mal Stellung zum Verhältnis mit der EG, der späteren EU, und skizzierten eine grüne Europapolitik. Das Papier steht ganz im Zeichen einer Erklärung, die einige Monate vor dem Fall der Berliner Mauer von den europäischen Grünen abgefasst wurde: Die „Gemeinsamen Europa-Erklärung der Grünen in Europa“ bekennt sich zu einem „Europa der autonomen Regionen“. Die Opposition der Grünen Parteien ausserhalb der EG gegen einen EG-Beitritt ihre Länder wird unterstützt. Eine „Gemeinsamen Erklärung der Grünen Parteien der neutralen und EFTA-Staaten (Schweiz, Schweden, Finnland Österreich, Schweiz)“ hält u.a. fest, „dass wir unbedingt gegen jede Vergrösserung der EG sind“, jedoch “eine engere Zusammenarbeit mit Umwelt-, Friedens- und anderen demokratischen Bewegungen in Osteuropa anstreben und klar feststellen, dass auch deren Länder zu Europa gehören und Europa ohne diese unvollständig wäre“. Damit war zu einem frühen Zeitpunkt die solidarische Alternative zur Abschottungspolitik eines EU-Grosseuropas der reichen Nationen abgesteckt.

Im „Politischen Jahrbuch der Schweiz“ von 1991 wird diese Politik weiterhin vertreten: „Die GP forderte auch einen Abbruch der EWR-Verhandlungen und kündigte Widerstand gegen ein eventuelles EG-Beitrittsgesuch an“. Anzumerken bleibt allerdings, dass diese Haltung nicht von allen Grünen in der Romandie mitgetragen wurde. 2) Im Original liest sich die Haltung der Grünen zur EU (der damaligen EG) - in der von der Delegiertenversammlung am 4. Mai 1991 gutgeheissenen und formell noch heute gültigen Programmplattform - wie folgt: „Eine europäische Einigung nach dem heutigen Modell der EG und die Schaffung eines Einheitsraums mit unbeschränktem Wachstum des Personen-, Waren- Kapital- und Dienstleistungsverkehrs widerspricht diesen Grundsätzen. Die heute die EG dominierende zentralistische und rein wirtschaftlich ausgerichtete Politik ist in ihrem Wesen lebensfeindlich und antiökologisch. Sie führt zu einer Vergrösserung des Gefälles zwischen reichen und armen Ländern, zu einer noch grösseren Verschwendung unserer Ressourven und zu einer Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Sie steht damit im Widrspruch zu den Regeln unseres Ökosystems“3)

Kurswechsel über Nacht

Über die Gründe und Hintergründe des praktisch „über Nacht“ erfolgten Kurswechsels der Grünen in der Woche nach der EWR-Abstimmung lässt sich nur mutmassen. Der Schreibende kann sich erinnern, dass von führenden Exponenten der Partei schon Tage vor der Abstimmung Signale der „inneren Kündigung“ des Engagements gegen den EWR-Vertrag kamen. Vordergründiges Hauptmotiv war, dass sich die Grünen verschiedentlich den Vorwurf anhören mussten, „Steigbügelhalter der SVP zum grössten Triumpf ihrer Geschichte“ zu sein 4). Dazu gesellte sich ein gewisser Gruppendruck: Wie Untersuchungen belegen, ist die grüne Durchschnittswählerschaft „gut gebildet“, oft mit akademischen Weihen und mittlerem bis hohem Einkommen ausgestattet 5). Dies gilt vor allem auch für die Exponenten der Partei. Im aufstiegsorientierten, „urbanen“ Milieu galten damals EU-Skeptiker oft als „hinterwälderisch“. Allerdings ist festzuhalten, dass in den späten 90iger-Jahren die grosse Mehrheit der Stadtzürcher Grünen zu den heftigsten Kritiker der EU-Anpassung gehörte.

Alpeninitiative auf dem Altar der EU geopfert

Die Alpeninitative, die eine verbindliche Beschränkung des alpenüberquerenden Verkehrs von Grenze zu Grenze verlangte*)woraus dann allerdings eine bisher nicht eingehaltene Beschränkung auf 650‘000 Lastwagen wurde) wurde mit tatkräftiger Mithilfe der Grünen lanciert und 1994 gewonnen. 1991 lancierten die Grünen ein Referendum gegen den Bau zweier NEAT-Röhren in weiser Voraussicht, dass damit eine wirtschaftlich unnötige und ökologisch unsinnige Transportflut kreuz und quer durch Europa gefördert und damit der alpenquerende Güterverkehr nicht verlagert, sondern gesamthaft ausgeweitet würde, was sich später bestätigt hat. Mit der Zustimmung der Mehrheit der Grünen zum Landverkehrsabkommen mit der EU im Jahre 2000 - eine Minderheit sammelte im Rahmen eines grün-linken Referendumskomitees Unterschriften gegen das Abkommen - gaben die Grünen die verfassungsmässigen Verlagerungsziele zugunsten einer EU-Annäherung auf, da das Abkommen der EU im Rahmen der Bilateralen I freien Marktzugang zum Strassenverkehr in der Schweiz garantierte. In diesem Zusammenhang sei eine kleine Randbemerkung erlaubt: Als an der Delegiertenversammlung der Grünen Schweiz vom 24 August dieses Jahres in Visp in einer Resolution gefordert wurde, das in der Verfassung verankerte Verlagerungsziel im alpenüberquerenden Güterverkehr müsse „ohne Abstriche“ umgesetzt werden, erlaubte sich der Schreibende in der Diskussion darauf hinzuweisen, dass das nicht ohne Neuverhandlung des Landverkehrsabkommens mit der EU möglich sei.

EU-Begeisterung zum Ende des Jahrtausends

Unter dem Einfluss des neuen Präsidenten Ruedi Baumann bestätigte 1998 die Delegiertenversammlung der GPS in ihrem 2. Positionspapier zu „Europa“ ihre Kehrtwendung in der Europapolitik: „Die Schweizer Grünen stehen der europäischen Integration positiv gegenüber.(…) Die Mehrheit der Schweizer wünscht sich einen baldigen Beitritt unseres Landes zur Europäischen Union“. Folgerichtig beschloss der Vorstand der GPS - die DV wurde gar nicht erst bemüht - mit 15 Stimmen - gegen (m)eine und bei einer Enthaltung die Ja- Parole zur Volksinitiative „Ja zu Europa“. Diese wurde am 4. März 2001 mit einer Mehrheit von 76,8 % abgelehnt. Die Hypothese, dass auch eine deutliche Mehrheit der grünen WählerInnen nein gestimmt haben, liess sich leider nicht verifizieren, da das Longchamp-Institut die Herausgabe der Wahlanalyse bezüglich der grünen Wählerschaft „aus statistischen Gründen“ verweigerte.

Zur nächsten Diskussion mit EU-politischer Dimension kam es 2004 bei der Abstimmung über das Schengen-Dublin-Abkommen - Bestandteil der Bilateralen II. Die Parteileitung empfahl ein Ja u. a. mit folgender Begründung: „Mit diesen beiden Abkommen betritt die Schweiz ein Stück der EU durch eine eher unschöne Hintertüre. (…) Eine Ablehnung dieser Abkommen macht aber wenig Sinn, da sie eben auch Teil der EU-Politik sind“. Die Diskussion innerhalb der Grünen drehte sich hauptsächlich um die Verstärkung der polizeilichen Überwachungsmöglichkeiten im Schengenraum und um die damit verbundenen migrationspolitische Fragen (Stärkung der „Festung Europa“). Das mehrheitliche Ja der Grünen wurde schliesslich wesentlich vom Engagement der Schweizerischen Flüchtlingshilfe beeinflusst, welche das Abkommen zum damaligen Zeitpunkt als notwendigen Schritt betrachtete, „um die Repressionsspirale im Asylbereich aufzuhalten“ - was sich schon bald als Illusion erwies.

EU-Dämmerung: Konfrontation mit der realexistierenden „Festung Europa“

Mit Schengen wurden die Grünen in einem Kernanliegen mit der „realexistierenden EU“ konfrontiert, was die Zweifel an der Kombination von Integration im Innern und Abschottung gegen aussen nährte. Spätestens mit „Frontex“ erodierte bei manchen Grünen das Bild von der EU als einer „weltoffenen Gemeinschaft“. 2006 korrigierten die Grünen ihr bedingungsloses „Ja zur EU“ von 1998 mit einem neuen 3. Positionspapier mit dem vielsagenden Titel „Ja zu einem EU Beitritt – aber nicht um jeden Preis“ 6) „Ein EU Beitritt ist für die Schweiz auch mit einigen Schwierigkeiten und Nachteilen verbunden. Es gibt Bereiche, die in der Schweiz sensibel sind oder wo die Handhabung hierzulande weitaus fortschrittlicher ist, als diejenige der EU. Auch direktdemokratische Errungenschaften wollen die Grünen bei einem EU-Beitritt nicht einfach preisgeben. Im Gegenteil. Diese Bereiche gilt es über einen Beitritt hinaus verbindlich zu schützen. Die Grünen stellen in diesem Sinne Bedingungen an einen Schweizer EU-Beitritt“. In der Folge wird im Papier das Wunschbild einer grünen, demokratischen und sozialen „Ideal-EU“ gezeichnet, welcher die Grünen gerne beitreten möchten. Da die EU kaum geneigt sein wird, sich wegen eines schweizerischen EU-Beitritts grundlegend zu ändern, kommt dem Positionspapier eher der Stellenwert eines Wunschzettels zu.

Ein letztes Mal flackerte die EU-Diskussion 2009 bei der „Cassis de Dijon“-Vorlage auf, die von der grossen Mehrheit der Grünen im Parlament abgelehnt wurde. Als dann aber eher überraschend welsche Bauern das Referendum ergriffen, zauderte die Parteileitung. Nach heftigen Diskussionen innerhalb der Partei sprach sich schliesslich die Mehrheit der Kantonalsektionen - zu spät für die Sicherung der nötigen Unterschriftenzahl - für die Unterstützung des Referendums aus. Im Argumentarium der Parteileitung wird die EU-Frage thematisiert: “Die Skepsis der Grünen gegenüber dem Cassis-de-Dijon-Prinzip hat nichts mit einer EU-feindlichen Haltung zu tun. Die Grünen kämpfen seit 15 Jahren für einen EU- Beitritt. Wäre die Schweiz EU-Mitglied, könnte sie als solches für eine differenzierte Anwendung des Cassis-de-Dijon-Prinzips kämpfen. Sie könnte sich für das Recht jedes Landes stark machen, den eigenen Markt vor ökologischem und sozialem Dumping zu schützen. Doch solange sie nicht Mitglied ist, gibt es keinen Grund, sich einer Regelung zu beugen, die der Umwelt und der Gesellschaft schaden“.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die in den 90iger Jahren eher EU-freundlichen welschen Grünen in konkreten Sachfragen später, etwa bei der „Cassis de Dijon“-Vorlage oder in der Agrarpolitik, pointiert freihandelskritische Positionen vertraten und vertreten. Zuletzt sprachen sich etwa die Genfer Grünen für das Referendum gegen die Agrarpolitik 2014-17 aus. Einhellig gestützt haben die Schweizer Grünen immer die Personenfreizügigkeit als Grundrecht - im Unterschied zur SP, die bei jeder Erweiterung mit Widerstand drohte. Lakonisch bemerkt dazu der Historiker und frühere grüne Nationalrat Jo Lang: "Ein Teil der SP, die noch in den 90er Jahren einem sakralen Europaeismus huldigte, fällt heute einem profanen Nationalismus heim“.

Seit der Verabschiedung des heute noch gültigen und auf der Home-Page der Grünen publizierten Positionspapier von 2006 )) http://www.gruene.ch/web/gruene/de/positionen/internationales/europapolitik.html, das sowohl Befürworter wie Gegner eines EU-Beitritts für sich in Anspruch nehmen konnten und können, ist der EU-Beitritt bei den Schweizer Grünen kein Thema mehr. Vor den nationalen Wahlen gibt die EU-Lobbyorganisation „Neue Europäischen Bewegung“ (Nebs) jeweils eine Wahlempfehlung („Label Europa“) heraus. 2011 hat nur noch knapp die Hälfte der in die Bundesversammlung gewählten Grünen die zahnlos abgefasste „Deklaration“, die nicht etwa ein Bekenntnis zum EU-Beitritt, sondern nur die Bereitschaft zur Mitgestaltung eines Prozesses verlangte, „der eine EU-Mitgliedschaft zu vorteilhaften Bedingungen ermöglicht“. Prominente Grüne wie die beiden heutigen Ko-Präsidentinnen Regula Rytz und Adèle Thorens, die alten und neuen Fraktionspräsidenten Antonio Hodgers und Balthasar Glättli, Maja Graf, die Nationalratspräsidentin von 2013 und die EU-skeptischen Nationalräte Daniel Vischer und Geri Müller fehlen auf der Liste. 7)

„Lebensmittelinitiative“ gegen den EU-Freihandel

Zum angestrebten Agrarfreihandelsabkommen mit der EU, das vom Ständerat gestoppt wurde, schrieben die Grünen 2012 in einer Medienmitteilung unter dem Titel „Qualität für Lebensmittel statt EU-Freihandel“ u.a.: „Nahrung ist lebensnotwendig und kann nicht mit anderen Waren gleichgestellt werden. Deshalb darf sie nicht nur den Regeln des Freihandels unterworfen werden. Vielmehr soll die lokale Produktion Vorrang haben – in der Schweiz und anderswo. Denn Landwirtschaft in der Nähe verheisst frische und sichere Nahrungsmittel“. Wie wahr aber wohl kaum EU-konform! 8 )

In diesem Sinne werden die Grünen Schweiz am 25. Januar 2014 eine „Initiative für ökologische und faire Lebensmittel“ lancieren. Im Kern geht es darum, dass in der Schweiz nur importierte Lebensmittel verkauft werden dürfen, die den Qualitätsstandards und Produktionsvorschriften für einheimische Lebensmittel entsprechen. „Cassis de Dijon“ würde damit für Lebensmittel wegfallen. Obwohl die Zielrichtung der Initiative dem EU-Freihandelsprinzip widerspricht, spielte in den internen Diskussionen um die Formulierung des Initiativtextes das Verhältnis zur EU keine Rolle. Sollte allerdings die gegenwärtig in Geheimgesprächen zwischen den USA und der EU - in die Verhandlungen sind nur die 600 grössten Konzerne einbezogen! - diskutierte Transatlantische Freihandelszone (Transatlantic Free Trade Area, Tafta) einer Realisierung näher kommen, würde die Lebensmittelinitiative unerwartet schnell europapolitisch brisant. Denn mit der „Wirtschafts-Nato“ wie sie bereits betitelt wird, sollen den Staaten bis hinunter zu den Gemeinden alle „handelshemmenden“ Vorschriften zur Qualität und Produktionsweise von Produkten verboten werden. 9)

Die Schweizer Grünen könnten bald wieder vor einer ähnlichen Entscheidung wie vor 25 Jahren stehen: Anpassung an einen zentralistischen Grossraum, dessen erklärten Ziele aus unbeschränktem Wachstum bestehen, oder Verteidigung der demokratischen Selbstbestimmung und der lokalen Produktion.



1) NZZ ,16. Dezember 1992
2) http://www.gruene.ch/web/dms/gruene/doc/die_gruenen/partei/geschichte_gps_uni_bern/Geschichte%20der%20GPS%20-%20Universit%C3%A4t%20Bern.pdf
3) http://www.gruene.ch/web/dms/gruene/doc/positionen/gruene_programme/wahlprogramme/programmplattform91/1991_programmplattform_d.pdf)
4) Matthias Baer und Werner Seitz, Die Grünen in der Schweiz, Zürich, Rüegger-Verlag, 2008, S. 26
5) Adrian Vatter und Isabelle Stadelmann Steffen in die Grünen in der Schweiz, S. 55ff
6) http://www.gruene.ch/web/dms/gruene/doc/positionen/internationales/europapolitik/europa/Europa.pdf
7) http://www.europa.ch/index.asp?page=wahlen
8 ) (http://www.gruene.ch/web/gruene/de/positionen/internationales/europapolitik/medienmitteilungen/agrarfreihandel.html)
9) http://www.monde-diplomatique.de/pm/2013/11/08/a0003.text


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