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Für eine demokratisch kontrollierte Verfassungsgerichtsbarkeit

Die Räte nehmen sich immer wieder bewusst verfassungswidrige Freiheiten bei der Gesetzgebung heraus.

Gemäss Artikel 190 der Bundesverfassung gilt, dass Bundesgesetze und Völkerrecht für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend sind. Entsprechend dürfen Bundesgesetze nicht auf ihrer Verfassungskonformität überprüft werden. Dies hat zur Folge, dass die Eidgenössischen Räte faktisch die Verfassung ändern können, ohne die entsprechenden verfassungsmässig dafür vorgegebenen Verfahren beachten zu müssen.

von Paul Ruppen

Das klassische Argument gegen eine Verfassungsgerichtsbarkeit in der Schweiz besteht darin, dass man gegen verfassungswidrige Gesetze das Referendum ergreifen kann. Wird das Referendum nicht ergriffen oder wird in einer Referendumsabstimmung das Gesetz nicht verworfen, hat die stimmberechtigte Bevölkerung ihr implizites oder explizites Ja zum Gesetz gegeben und dieses ist demokratisch legitimiert.

Mit dieser Argumentation ergeben sich folgende Probleme

1) Gilt ein verfassungswidriges Gesetz, so ersetzt es faktisch die entsprechenden Artikel in der Bundesverfassung. Es nimmt damit eine Änderung der Verfassung vor. Es wurde aber nicht gemäss den ordentlichen Verfahren, die für Verfassungsänderungen gelten, eingeführt.

2) Da die entsprechenden Artikel der Bundesverfassung nicht verändert werden, ergibt sich ein inkonsistentes Rechtssystem. Aus Widersprüchen kann man gemäss klassischer Logik alles herleiten. Damit öffnet ein inkonsistentes Rechtssystem der Willkür alle Türen, was rechtsstaatlich äusserst bedenklich ist. Die Willkür wird faktisch nur noch politisch eingegrenzt. Verfassungen dienen aber dem Zweck, Willkür einzuschränken und Politik - solange als keine Verfassungsänderung erfolgt - in gewissen Bahnen zu halten.

Gegenüber der Verfassungsgerichtsbarkeit wird ferner in Feld geführt, diese würde zu einem Richterstaat zu Lasten der Demokratie führen. Es wird etwa auf die Rolle des Obersten Gerichtes der USA verwiesen, dessen Macht in der Tat demokratisch kaum kontrolliert wird. Es wacht über eine Verfassung, die sehr schwer den sich wandelnden Verhältnissen angepasst werden kann, und es wird zudem durch ein Auswahlverfahren bestimmt, wodurch Präsidenten indirekt via Verfassungsgericht die Politik auch kommender Legislaturen stark mitbestimmen können. Ein solches System mit einer so wichtigen Rolle von demokratisch wenig legitimierten Richtern ist keineswegs erstrebenswert und die Schweiz des 19. Jahrhunderts hat glücklicher Weise auf die Übernahme dieses Aspektes der US-Verfassung verzichtet.

Der Hinweis auf die Verfassungsgerichtsbarkeit in den USA ist allerdings für die Schweiz keineswegs relevant. Die Schweiz kennt Instrumente der direkten und indirekten Demokratie, mittels derer die Verfassung demokratisch relativ einfach verändert werden kann. Prüft ein Gericht die Verfassungsmässigkeit von Gesetzen und wird ein Gesetz als verfassungswidrig deklariert, kann das Parlament der Volksabstimmung Vorschläge unterbreiten, um die Verfassung so zu ändern, damit das Gesetz nachher verfassungsmässig ist. Alternativ kann es das Gesetz der Verfassung anpassen. Mittels Initiative kann man ebenfalls der Volksabstimmung Verfassungsänderungen unterbreiten. Damit wird dem Verfassungsgericht ein neuer Rahmen gegeben, innerhalb dessen es die Verfassungsmässigkeit von Gesetzen zu überprüfen hätte. Im schweizerischen Systems würde zwar durch ein Verfassungsgericht die Macht des Parlamentes eingeschränkt, was allerdings durchaus positiv ist. Eine Macht, die verfassungswidrige Gesetze beschliessen kann, ist als willkürlich und als rechtsstaatlich bedenklich einzustufen. Ein zu schaffendes Verfassungsgericht würde im schweizerischen System nicht besonders viel Macht erhalten. Es könnte Gesetze auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüfen, womit ein gewisser Interpretationsspielraum gegeben ist. Darin allein würde seine Macht bestehen. Es kann jedoch Gesetze oder Verfassungsgrundsätze nicht definitiv verbieten. Die demokratische Kontrolle auch der Gerichte bliebe bestehen. Von einem Richterstaat wäre man also weit entfernt.

Parlamentarier nehmen für sich in den Debatten zur Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit jeweils in Anspruch, über die Verfassungsmässigkeit zu achten und dies besser und demokratischer zu können als abgehobene Richter, da sie direkt von der stimmberechtigten Bevölkerung gewählt wurden. Die Eidgenössischen Parlamente nehmen es aber bei der Pflege der Verfassungsmässigkeit keineswegs genau. Es gibt genug Beispiele, in denen sich die Eidgenössischen Parlamente bewusst über Verfassungsartikel hinwegsetzen. Als ein Bespiel unter einigen sei die Alpeninitiative angeführt. Diese verbietet den Warentransport durch die Schweiz auf Lastwagen. Im Gesetz sind dann 650 000 die Schweiz durchquerende Lastwagen pro Jahr erlaubt, wobei diese Grenze in der Praxis nicht eingehalten wird.

Die bewusste Missachtung der Verfassung wird von einzelnen Parlamentariern denn auch offen zugegeben. Der damalige Energie-Spezialist der SVP und jetzige Bundesrat, Albert Rösti, gab wie etliche weitere Parlamentarier zu, dass das Energie-Gesetz nicht im Einklang mit der Verfassung ist. Beschönigend meinte er: «Selbstverständlich finden Sie einige Artikel in der Verfassung, wo man von einem Ritzen der Verfassung sprechen kann. Aber letztlich fühle ich mich hier als Parlamentarier, als Volksvertreter verantwortlich, dass es dereinst genügend Strom gibt. Und da mache ich, gestützt auf die Verfassung, eine Güterabwägung, die dieses Ziel erfüllen wird.» 1) Oder Philipp Bregy, Fraktionschef der Mitte, meint, er habe überhaupt keine Bedenken wegen der Verfassungsmässigkeit. «Ich erachte es als meine Pflicht als Parlamentarier, in einer solchen Krise die nötigen Entscheide zu treffen, um möglichst schnell aus dieser Krise herauszukommen». Schliesslich meinte FDP-Mann Matthias: «Wir befinden uns jetzt in einer Sachzwangslage und werden nach der Schlussabstimmung diesem Gesetz so zustimmen im Wissen, dass wir nicht ganz auf Verfassungslinie sind.» Bei solchen Argumentationen fragt man sich, wieso das Parlament überhaupt noch eine Verfassung braucht – man handelt ja im eigenen Selbstverständnis eh im Interesse der Schweiz. Da ist eine Verfassung doch nur hinderlich und es wäre es eigentlich ehrlicher, auf eine Verfassung zu verzichten.

In der Tat sind Parlamente gegenüber gruppendynamischen Prozessen nicht gefeit, wie die Behandlung der Energiefrage - Solarexpress und Energiegesetz - zeigen. Matthias Jauslin von der FDP diagnostizierte diesbezüglich: «Ich habe schon immer gesagt: Das Parlament ist im Modus Hyperaktivismus, und das kommt nicht gut.» Um unüberlegte, verfassungswidrige Schnellschüsse, die im vorliegenden Fall zu Lasten der Natur und der Steuerzahler gehen, zu vermeiden, braucht es eine griffige Verfassungsgerichtsbarkeit.

Eine demokratische kontrollierte Verfassungsgerichtsbarkeit könnte wie folgt aussehen: Beschliesst das Parlament ein Gesetz, dürfen Bürgerinnen und Bürger innert vorzusehender Frist Verfassungsbeschwerde einreichen (z.B. 30 Tage). Das Verfassungsgericht müsste innert vorgesehener, kurzer Frist die Beschwerde behandeln (z.B. 60 Tage). Das Parlament hat dann erstens die Möglichkeit, dass Gesetz an die Verfassung anzupassen. In diesem Fall würde das verfassungsmässig gemachte Gesetz wie üblich dem fakultativen Referendum unterliegen. Zweitens besteht für das Parlament die Möglichkeit, einen Verfassungsänderungsentwurf zu erarbeiten, der das nicht-verfassungsmässige Gesetz stützt. Dieser Verfassungsentwurf würde dem obligatorischen Referendum unterliegen und das entsprechende Gesetz dem fakultativen Referendum.

Ein solches Verfahren würde die politischen Prozesse nicht allzu sehr verlangsamen, da davon auszugehen ist, dass das Parlament angesichts des Verfassungsgerichtes Gesetze verfassungsmässig gestalten wird. Betrachtet das Parlament eine verfassungsgemässe Lösung der Probleme mittels Gesetz ohne Verfassungsänderung als unmöglich, kann es direkt eine Verfassungsänderung anstreben. Dies braucht eine gewisse Zeit – wobei es durchaus angemessen ist, Verfassungsänderungen wohlüberlegt vorzunehmen. Es erfolgte durch die Verfassungsgerichtsbarkeit eine fürs schweizerische Rechtssystem gesunde Selbstdisziplin des Parlamentes, eine Stärkung des Rechtsstaates und der Demokratie.

1) Alle Zitate aus «Wie Politiker den möglichen Verfassungsbruch rechtfertigen», https://www.srf.ch/news/schweiz/dringliches-energiegesetz-wie-politiker-den-moeglichen-verfassungsbruch-rechtfertigen


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