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Zeichen der Zeit



Der 8. Juli 1996 dürfte als ein historischer Wendepunkt in die Geschichte der internationalen Friedenspolitik eingehen. An diesem Tag hat der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag unerwartet deutlich die Atommächte ins Unrecht versetzt und ihrer Nuklearstrategie die völkerrechtliche Legitimation entzogen. Der Wahrspruch müsste Folgen haben, zum Beispiel auch für die von der NATO angeboten "Partnerschaft für den Frieden". Wie kann es "Frieden" mit einem Militärbündnis geben, das sich mit seiner nuklearen Einsatz- und Abschreckungsdoktrin über das Völkerrecht hinwegsetzt?

von Willy Spieler

Höchstrichterliche Ächtung der Atomwaffen

Der Entscheid des IGH erfolgte in einem Gutachten, das die Generalversammlung der UNO gemäss Art. 96 Abs. 1 der UN-Charta angefordert hatte. Das Urteil enthält drei Elemente, die künftig für die juristische Beurteilung der Strategien von Atommächten massgebend sein werden:

- das Gericht entschied, "dass die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen generell gegen diejenigen Regeln des Völkerrechts verstossen würden, die für bewaffnete Konflikte gelten, insbesondere gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts".

- Allerdings wollte der Gerichtshof "nicht definitiv die Frage entscheiden, ob die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen in einer extremen Selbstverteidigungssituation, in der die Existenz eines Staates auf de Spiele stünde, rechtmässig oder rechtswidrig wäre". Dies Einschränkung erfolgte äusserst knapp: bei einem Stimmenverhältnis von 7 zu 7 Stichentscheid des Präsidenten.

- Schliesslich erinnerte der IGH die Atommächte an ihre "völkerrechtliche Verpflichtung, in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen und zum Abschluss zu bringen, die zu nuklearer Abrüstung (Entwaffnung) in allen ihren Aspekten unter strikter und wirksamer internationaler Kontrolle führen".

Historisch an diesem Urteil ist, dass erstmals in der Geschichte der Einsatz und schon die Androhung von Atomwaffen nicht mehr nur moralisch geächtet, sondern auch völkerrechtlich delegitimiert werden. Gewisse bleibt die "extreme Selbstverteidigungssituation" vorbehalten; aber selbst diese problematische Ausnahme - durch die ja wohl zerstört würde, was verteidigt werden sollte - ist nur eine vorläufige, da der IGH meint, er können "angesichts der gegenwärtigen Lage des Völkerrechts" und des "zur Verfügung stehenden Faktenmaterials" die Frage noch "nicht definitiv" beantworten.

Auf gar keinen Fall liesse sich die "Erstschlagsdoktrin" der NATO (in einem "konventionell" geführten Krieg) mit dieser Ausnahmesituation rechtfertigen. Aber auch die Abschreckungsstrategie der Atommächte gerät ins Wanken, da schon die Androhung atomarer Gewalt als völkerrechtswidrig gilt. Es ist denn auch kein Geheimnis, dass der Urteilsspruch des IGH die NATO-Strategen mehr als nur "irritiert"; am liebsten hätten sie dem Gericht die Zuständigkeit überhaupt abgesprochen (wie die USA, als sie 1986 vom IGH wegen ihrer Interventionen in Nicaragua verurteilt wurden).

Die Grundsätze, auf die sich das Gericht beruft, sind den Haager und Genfer Konventionen entnommen. Waffen, die ein ihrer Wirkung unkontrollierbar sind oder gar bewusst gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden, gelten seit je als Verstoss gegen das Kriegsvölkerrecht. Aber ausgerechnet die Atomwaffen schienen bis heute von diesen fundamentalen Regeln der Kriegführung ausgenommen. Keine der grossen Mächte war je bereit, ihre Nuklearstrategie völkerrechtlich in Frage stellen zu lassen. Das Völkerrecht verhinderte weder den Einsatz von Atombomben in Hiroshima und Nagasaki noch das Wettrüsten während des Kalten Krieges. Begriffe wie "couter-city strategy" wendeten sich mit brutaler Offenheit gegen die Zivilbevölkerung, die das Kriegsvölkerrecht schützen wollte. Die Androhung des Genozids gehörte zur Logik der Abschreckung.

Gegen die Verbiegung des Völkerrechts vermochte auch die UN-Generalversammlung nichts auszurichten, obschon sie seit 1961 in immer neuen Resolutionen bekräftigte, "dass der Einsatz von Kernwaffen eine Verletzung der Charta der Vereinten Nationen und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt". Solche Resolutionen haben nur empfehlenden Charakter und können die Entwicklung des Völkerrechts bestenfalls moralisch beeinflussen. Erst das IGH-Gutachten hat diese Entwicklung in die Form einer verbindlichen Interpretation des Völkerrechts gebracht. Der Entscheid dürfte, so ist zu hoffen, das Ende der "Samtpfötchen-Mentalität" des Völkerrechts im Umgang mit Atomwaffen einleiten.

Der Urteilsspruch des IGH hat den Atommächten aber noch eine weitere Niederlage bereitet, indem er sie - gegen ihren Willen - auf eine stufenweise nukleare Abrüstung innerhalb eines zu bestimmenden Zeitrahmens verpflichtet. Noch an der Genfer Abrüstungskonferenz haben sie das von égypten im Namen der paktfreien Staaten vorgelegte "Aktionsprogramm zur Beseitigung der Kernwaffen" abgelehnt, was Indien den Vorwand lieferte, die Unterschrift unter den Teststoppvertrag zu verweigern. Das IGH-Gutachten dürfte solche Obstruktionen in Zukunft erschweren. Denn es hält in seiner Begründung fest: "Die juristische Bedeutung dieser Verpflichtung geht über eine Verhaltensanweisung hinaus; es ist die Verpflichtung, ein präzises Ergebnis zu erzielen: atomare Abrüstung in allen Belangen". Internationale Friedensorganisationen wie die in der Kampagne "World Court Project" vereinten fühlen sich mit diesem Urteil im Rücken bestärkt, die Atommächte zu unverzüglichen Verhandlungen über ein Verbot von Atomwaffen aufzufordern.

Viel wäre gewonnen, wenn sich auch die Weltöffentlichkeit dieser Sache des Völkerrechts annähme und auf die nukleare Entwaffnung der Grossmächte drängte. Dazu bedürfte es einer starken Friedensbewegung, dazu müssten aber auch die internationalen Medien ihre Informationspflicht erfüllen. Beides hängt wohl zusammen: das Lahmen der Friedensorganisationen und das Schweigen der Medien, die das Urteil des IGH kaum einer Notiz, geschweige denn eines Kommentars für wert befanden.

Welche "Partnerschaft" für welchen "Frieden"?

Was hat der Entscheid des IGH mit der von der NATO angebotenen Partnership for Peace (PfP) zu tun, an der sich die Schweiz nach Meinung des Bundesrates beteiligen sollte? Da gibt es doch so verlockende Kooperationsprojekte wie "demokratische Kontrolle über die Streitkräfte" oder "Ausbildung von Offizieren in humanitärem Völkerrecht". Da werden die sicherheitspolitischen Menüs" freiwillig zusammengestellt - ohne den geringsten Zwang, später der NATO beizutreten. Da kann doch nur eine isolationistisch bornierte Schweiz abseits stehen. Heisst es.

So harmlos ist die Sache leider nicht. PfP erweist sich letztlich doch nur als einer der vielen Schritte, welche die NATO heute unternimmt, um ihre offensichtlichen Legitimationsdefizite nach dem Ende des Kalten Krieges zu überwinden. Ist schon das Feindbild abhanden gekommen, so soll die NATO wenigstens als "Friedensbewegung" inszeniert werden. Das wohl grösste Legitimationsdefizit aber wird durch das Gutachten des IGH offenbar: Das Völkerrecht ächtet die strategischen Grundlagen der NATO, sei es die Erstschlagsdoktrin, die neuerdings auch als "Defense Counter-Proliferation" daherkommt, um mit präventiven Atomschlägen die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln zu bekämpfen, sei es die Doktrin der nuklearen Abschreckung, die sich mit der Weigerung verbindet, auf Verhandlungen über eine atomare Abrüstung einzutreten.

Also müsste es doch eigentlich die Pflicht des Bundesrates sein, alles zu unterlassen, was diese NATO politisch relegitimieren würde. Eine Militärallianz, die sich in ihrer Strategie völkerrechtswidrig verhält, wird, wenn sie trotz dem Entscheid des IGH an dieser Strategie festhält, zu einer völkerrechtswidrigen Organisation. Sie kann gar keine "Partnerschaft für den Frieden" anbieten, wenn sie das Völkerrecht missachtet, das die rechtliche Grundlage des Weltfriedens ist.

Die Meinung, dass unser Land sich auf die PfP nicht einlassen sollte, hat nichts mit irgendeinem neutralitätspolitischen Sonderfalldenken" zu tun. Die Schweiz sollte mit oder ohne Neutralität auf der Seite des Völkerrechts stehen, und das heisst: zur Stärkung der UNO und deren Regionalorganisation in Europa, der OSZE, beitragen. Das wäre die eigentliche, die rechtlich und ethisch gebotene ôffnung zur Welt und zu Europa. Sich der NATO annähern, nur um damit "Offenheit" zu beweisen, ist "provinzieller", als die Propaganda für PfP glauben machen will. Offenheit ist ein ethisches Gebot, also kann sie nicht auf dem Weg über eine Organisation verwirklicht werden, die sich selber um Recht und Ethik futiert. Die Beteiligung an PfP käme einer politischen Unbedenklichkeitserklärung gegenüber der NATO gleich, wie sie nach dem 8. Juli 1996 weniger denn je im Interesse des Friedens in Europa liegen würde.

Aber auch die Neutralität behält ihre Bedeutung gegenüber Militärallianzen, die mehr dem Machtpoker zwischen Grossmächten als der Durchsetzung des Völkerrechts dienen. Das Gerangel um die "Osterweiterung" der NATO gegen den Willen der russischen Regierung bringt es an den Tag. Sollten auf dem Territorium der künftigen osteuropäischen Mitgliedstaaten gar Atomwaffen stationiert werden, so würde die NATO bis zur Kenntlichkeit offenbaren, wes imperialistischen Geistes Kind sie noch immer ist.

Wenn die NATO anstelle der OSZE die "Sicherheitsarchitektur" für Europa bestimmen will, dann hat das mit dem Frieden sehr wenig, mit der Vorherrschaft der USA in Europa dagegen sehr viel zu tun. Der Traum von Ronald Reagans erstem Aussenminister Al Haig, dass die "ganze Welt" zur "Sache der NATO" und damit zur Sache der USA werde, scheint in Erfüllung zu gehen. Diese NATO aber wäre nichts anderes als eine Rückversicherung zum Zweck der "notfalls" gewaltsamen Exekution des globalen Marktes gegen widerstrebende Völker. In der Vergangenheit lieferte das "Bündnis" die Drehbücher für den Obristenputsch in Griechenland 1967 oder für die Verhinderung einer linken Regierung in Italien. Im Zeichen der "neuen Weltordnung" hat der militärische Büttel weltweiter Kapitalinteressen wohl noch lange nicht ausgedient.

Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit. Schon gar nicht gibt es eine "Partnerschaft für den Frieden", wenn die Partner sich über das Völkerrecht hinwegsetzt. Aber es ist nicht das erste Mal, dass "Friede, Friede!" gerufen wird, "wo doch kein Friede ist" (Jer. 6,14).

Dieser Artikel erschien in "Neue Wege, Oktober 1996, 90. Jahrgang - Nr. 10, Administration: Michaelskreuzstrasse 1, 6037 Root

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