Die EU war bisher eine "militärfreie Institution". Der Maastrichter Vertrag bedeutete diesbezüglich einen Rückschritt: er bezieht offiziell die Westeuropäische Union (WEU) in die EU ein und öffnet damit das Tor für deren Militarisierung. Zudem werden dadurch etliche Probleme in die EU hineingetragen: während alle WEU-Staaten NATO-Mitglieder sind und sich die WEU als westeuropäischer Arm der NATO versteht, sind weder alle EU-Staaten WEU-Mitglieder, noch alle westeuropäischen NATO-Staaten EU-Mitglieder.
von Christian Sterzing *
Die europäische Integration ist ein dynamischer Prozeß, in dem die Regierungskonferenz 1996 ("Maastricht II")
nur einen weiteren Schritt darstellen wird. Auf dieser Konferenz wird es u.a. um die Reform der im
Maastrichter Vertrag erstmals geregelten Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) gehen. Die seit
Maastricht gemachten Erfahrungen mit der intergouvernementalen Konstruktion der GASP (sog. 2. Säule der
EU) werden allgemein - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen - als unbefriedigend empfunden, so daß
über die Notwendigkeit von Reformen Einigkeit herrscht, über deren Ausmaß und Charakter aber divergierende
Vorstellungen bestehen. Zum Aufgabenkatalog der Regierungskonferenz gehört insbesondere die stufenweise
Weiterentwicklung der Westeuropäischen Union (WEU) zur "Verteidigungskomponente der Europäischen
Union".
Von bündnisgrüner Seite gibt es Überlegungen, die in einer Reform der GASP ein Gegenmittel zur
Renationalisierung deutscher Außenpolitik sehen. Angesichts der Gefahr einer Militarisierung der deutschen
Außenpolitik erscheint manchen die Militarisierung der EU als das "kleinere Übel". Ob mit einer
Entnationalisierung des Militärs auch eine Entmilitarisierung der Gesellschaft verbunden ist, bleibt allerdings
eine zumindest offene Frage. Der Vertrag von Maastricht bedeutet aus dieser Sicht für die Bündnisgrünen
friedenspolitisch einen Rückschritt, denn durch die Einbeziehung der WEU wurde das Tor für eine
Militarisierung der Europäischen Union aufgestoßen. Trotz und gerade wegen dieser Entwicklung halten die
Bündnisgrünen an ihrem Ziel einer Zivilisierung der Außenpolitik fest.
Friedenspolitische und integrationspolitische Zielsetzungen können jedoch in Widerspruch zueinander geraten.
Grenzüberschreitende, internationale Zusammenarbeit ist nicht per se ein friedensfördernder Akt, sie ist
zumindest ambivalent, denn sie kann neben der friedensstiftenden Kraft der Kooperation zwischen den
Beteiligten auch den Keim des Unfriedens, der Spaltung und Hegemonie, ja des Krieges im Verhältnis zu
anderen Staaten in sich tragen. Die Debatten über eine "Vergemeinschaftung" nationaler oder
intergouvernementaler Politiken können deshalb nicht losgelöst von den Inhalten der Politik, von den Zielen und
Auswirkungen der Integrationsschritte geführt werden.
Wir müssen auch jedem "Kerneuropa"-Konzept, das lediglich eine Vormachtrolle Deutschlands festlegen soll,
eine deutliche Absage erteilen. Angesichts der Bestrebungen zur Renationalisierung der Europapolitik ist dies
eine fatale Entwicklung , denn die Bildung eines militärischen Kerns würde die Gefahr der Spaltung der EU
noch verstärken.
Unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen ist eine Vergemeinschaftung der GASP nur so weit
anzustreben, wie sie - ausgehend von einem umfassenden Friedens- und Sicherheitsbegriff - dem Frieden in
Gesamteuropa und der Welt dient. Das Ziel einer zivilen Rolle der EU in der Welt kann nur durch eine
Entmilitarisierung der Politik, eine umfassende Abrüstung und den Ausbau kollektiver Sicherheitsstrukturen
erreicht werden. Die Integration der militärischen Strukturen der WEU in die EU würde jedoch eine
Militarisierung der bislang zivilen Strukturen der EU bedeuten. Jede Militarisierung der EU würde als
Rechtfertigung für eine Militarisierung der deutschen Außenpolitik dienen und einen neuen Schub der Auf- und
Umrüstung in Richtung auf eine europäische Interventionsarmee bedeuten.
GASP ist nur ein Teilbereich der EU-Außenpolitik
Die Diskussion über die unzulängliche GASP und mögliche Reformen läßt manchmal vergessen, daß außerhalb
der GASP die EU in vielfältiger Weise aktiv eine gemeinsame Außenpolitik betreibt, z.B. im Bereich der
Außenhandelspolitik, der Entwicklungszusammenarbeit, der Agrar- und Umwelt- sowie Wirtschafts- und
Finanzpolitik. Insoweit darf die GASP nicht mit der Außenpolitik der EU gleichgesetzt werden. Auch außerhalb
der GASP wirkt die EU in vielfältiger Weise auf die internationalen Beziehungen ein. Daran wird sich
grundsätzlich durch eine Reform der GASP nichts ändern. Es unterstreicht vielmehr die Notwendigkeit eines
einheitlichen Konzepts für die Außenpolitik im Gemeinschaftsrahmen. Die Verengung der Debatte auf
sicherheits- und militärpolitische Fragen erweckt zudem den Eindruck, die außenpolitische Handlungsfähigkeit
der EU hänge allein von der Vertiefung der militärischen Zusammenarbeit ab.
Mangelnde Kongruenz der Mitgliedschaften
Übersehen wird von den Befürwortern einer Integration von EU und WEU gerne die Tatsache, daß keineswegs
alle EU-Mitgliedstaaten gleichzeitig Mitglied der WEU, geschweige denn der NATO sind. Auch sind nicht alle
europäischen NATO-Mitglieder in der EU. Der jüngste Beitritt der neutralen Staaten Österreich, Schweden und
Finnland hat das Problem der mangelnden Kongruenz der Mitgliedschaften in EU, WEU und NATO nochmals
deutlich werden lassen, denn die der WEU zugedachte Doppelrolle besteht einerseits in ihrer Funktion als
Verteidigungskomponente der EU und andererseits als Instrument zur Stärkung des europäischen Pfeilers der
Atlantischen Allianz. Konsequenz aus der mangelnden Kongruenz der Mitgliedschaften ist die Forderung nach
einem (militärischen) Kerneuropa, dem nur einige Mitgliedstaaten angehören. Ob eine solche Entwicklung
allerdings die gewünschte Herausbildung einer "europäischen Verteidigungsidentität"1 befördert, muß
bezweifelt werden.
Heranführung der WEU an die EU
Zwar wird eine Verschmelzung der beiden Zusammenschlüsse nur langfristig für möglich gehalten, aber seit
Maastricht wird die Heranführung der WEU an die EU vorangetrieben, indem die Arbeitsbeziehungen
entwickelt und die Arbeitsweisen harmonisiert werden 2. In der Realität wird zur Zeit gemäß der Petersberger
Erklärung vom Juni 19923 die operative Handlungsfähigkeit der WEU ausgebaut. Durch enge Kooperation mit
der NATO soll die WEU an operativer Handlungsfähigkeit gewinnen, so daß langfristig mit einer Arbeitsteilung
zwischen NATO - zur kollektiven Landesverteidigung - und WEU - zum europäischen Krisenmanagement - zu
rechnen sein wird, auch wenn unter den Mitgliedstaaten noch keineswegs konzeptionelle Übereinstimmung
erzielt worden ist.
Europa als "Zivilmacht"
Für die EU als bislang "militärfreier Institution" bedeutet eine Integration der WEU eine Militarisierung. Eine
gemeinsame Sicherheitspolitik in Europa muß statt dessen die Abrüstung vorhandener Militärsysteme
vorantreiben und durch eine entschlossene Konversionspolitik den sozialverträglichen Abbau von
Rüstungsproduktion und Rüstungsexporten initiieren.
Die Diskussion über die Fortentwicklung der GASP, insbesondere die Herausbildung einer gemeinsamen
Verteidigungspolitik, vernachlässigt die bestehenden Entwicklungspotentiale einer zivilen Außenpolitik auf
europäischer Ebene.
Demokratisierung der GASP
Da die GASP vor allem im Wege intergouvernementaler Zusammenarbeit formuliert und umgesetzt wird, fehlt
weitgehend eine demokratische Kontrolle. Nationale Parlamente und das Europäische Parlament verfügen weder
über wirksame Kontrollinstrumente, noch über ausreichende Mitwirkungsmöglichkeiten.
Die Übertragung weiterer außenpolitischer Zuständigkeiten auf die Europäische Union ist derzeit höchst
unwahrscheinlich, so daß sich die öffentliche Diskussion auf eine Revision der Entscheidungsverfahren,
insbesondere das Problem der Einführung bzw. Verstärkung des Mehrheitsprinzips konzentriert, um auf diese
Weise die Handlungsfähigkeit der Union zu erhöhen. Teilweise gehen die Vorstellungen so weit, daß im
Rahmen eines "Kerneuropa"-Konzepts Mitgliedstaaten z.B. per Mehrheitsentscheidung gegen ihren Willen zwar
nicht zur Teilnahme, jedoch zur Mitfinanzierung militärischer Aktionen der EU veranlaßt werden können. Ein
derartiger Zwang ist unakzeptabel. Sinnvoll und realistisch erscheint es, zunächst das bestehende zweistufige
Verfahren einer Einstimmigkeitsentscheidung über das Ob und einer Mehrheitsentscheidung über das Wie einer
"gemeinsamen (außenpolitischen) Aktion" in der Praxis zu erproben. Mehrheitsentscheidungen im Rat sind nur
dann zu befürworten, wenn damit ein echtes Mitentscheidungsrechts des Europäischen Parlaments verknüpft
wird.
Die EU in Europa
Die Ausdehnung der vorhandenen westeuropäischen Integrationsstrukturen und nicht-militärischen
Konfliktbewältigungsmechanismen auf weitere Regionen Europas kann nur dann auch außergemeinschaftlich
eine friedensstiftende Wirkung entfalten, wenn gleichzeitig durch die EU die gesamteuropäische
sicherheitspolitische Kooperation im Rahmen der OSZE vorangetrieben wird. Die Fortentwicklung der EU muß
mit einer Stärkung der OSZE einhergehen. Eine engere Verzahnung von EU und OSZE kann - wie das Beispiel
des Stabilitätspaktes4 gezeigt hat - bei konsequenter Nutzung des zivilen außen- und wirtschaftspolitischen
Instrumentariums zur Förderung der Demokratie, Menschenrechte und des Friedens in Europa beitragen.
1) Christian Sterzing ist Abgeordneter im deutschen Bundestag, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Bonn. zurück zum Text
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