Ende 1996 war der Aussenpolitische Ausschuss des Schwedischen Reichstags zu Gast beim Ausschuss für Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik des EU-Parlaments. Die schwedische Vorsitzende versuchte die heutige schwedische Politik zu erklären, und stand dabei überzeugten EU-Föderalisten (1) gegenüber, die sich eine kernbewaffnete EuropaArmee wünschen. Der Erklärungsversuch scheiterte, was nicht erstaunlich ist.
von Per Gahrton, schwedischer, grüner EU-Parlamentarier (Miljöpartiet de gröna)(2)
Die offizielle Position Schwedens
Die schwedische Ausschussvorsitzende erklärte einerseits, dass Schweden eine enge militärische
Zusammenarbeit mit der Europäischen Union (EU), der Westeuropäischen Union (WEU) und der NATO
anstrebe. Schweden habe sogar zusammen mit Finnland einen Vorschlag zur Regierungskonferenz eingereicht.
Laut diesem Vorschlag solle die EU bestimmen können, dass die WEU in speziellen Fällen Militäraufgaben
übernimmt. Dies wäre nur mit Hilfe der NATO möglich. Schweden habe auch nichts gegen eine Osterweiterung
der NATO, hat der schwedische Regierungschef Göran Persson diesen Sommer in Riga doch schwedische
Hilfe zugunsten des lettischen Beitrittsantrags versprochen. Schweden pflege zudem bereits eine enge
Zusammenarbeit mit der NATO. Der NATO-Generalsekretär besuchte neulich das Land, die Regierung habe
angekündigt, dass alles militärische Material dem NATO-Standard angepasst werden müsse. Schweden sei
aktives Mitglied des "Partnerschaft für den Frieden", Beobachter in der WEU und nehme in der IFOR mit
tausend Soldaten teil. Diese unterstehen dem NATO-Kommando.
Anderseits hat die schwedische Ausschussvorsitzende den EU-Parlamentariern erklärt, dass Schweden mit
Entschiedenheit auf seiner Position eines nicht-alliierten Landes bestehe. Damit könne es sich im Fall eines
Krieges im Nahgebiet neutral verhalten. Die Euro-Föderalisten waren empört: Neutralität sei heute überholt.
Schweden denke zuviel an sich selbst, und berücksichtige die gemeinsamen europäischen Interessen zuwenig.
Schweden wolle eine internationale Rolle spielen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen! Wie könne man
glaubwürdig eine Osterweiterung der NATO, die auch die baltischen Staaten umfasst, befürworten - und
gleichzeitig behaupten, man beabsichtige selbst blockfrei und neutral zu bleiben.
Grüne Kritik an dieser Position
Leider haben die EU-Föderalisten recht. Schweden betreibt ein sehr gefährliches Doppelspiel, um sich
stufenweise in die NATO (und die WEU) einzugliedern - möglichst unbemerkt von der schwedische
Bevölkerung. Diese Politik ist aus verschiedenen Gründen gefährlich:
1.Eine Osterweiterung der NATO im Ostseegebiet, besonders ein NATO-Beitritt der baltischen Staaten, würde von
Russland ohne Zweifel als eine Provokation verstanden.
2.Ein NATO-Beitritt der baltischen Staaten könnte den Eindruck schaffen, dass die Unabhängigkeit dieser Länder
militärisch gegen irgendeine russische Bedrohung zu verteidigen wäre. Damit könnten unverantwortliche politische
Kreise, die es auch in den baltischen Staaten gibt, die Notwendigkeit einer guten Nachbarschaft und Zusammenarbeit mit
Russland vergessen. Ein NATO-Beitritt könnte also neue Risiken schaffen.
3.Ein NATO-Beitritt der baltischen Staaten hiesse eine Einkreisung Schwedens und Finnlands durch NATO-Länder. Der
Druck auf Schweden und Finnland, sich auch anzuschliessen, würde verstärkt - und damit würden die Perspektiven für
die Alternative "nicht-militärische globale Friedenspolitik in Europa" verschwinden.
4.Für das ganze Ostseegebiet wäre ein NATO-Beitritt Schwedens ein Risiko. Die schwedische Neutralität ist ja nicht nur
ein Kind des Kalten Krieges oder des Zweiten Weltkrieges. Schweden ist seit fast zweihundert Jahren neutral und hat in
dieser Zeit nicht an Kriegen teilgenommen. Es ist durchaus wahr, wie zum Beispiel Belgier mir zu sagen pflegen, dass
Neutralität keine Garantie für ein Verschontwerden ist. Für Schweden aber war die Neutralität erfolgreich - auch für
unsere Nachbarn während des Zweiten Weltkrieges. Wenn wir den Finnen gegen Russland durch den Kriegseintritt
geholfen hätten, wie es manche wünschten, dann wären wir automatisch Feinde der Alliierten geworden. Und wenn wir
Truppen gegen die Deutschen in Norwegen eingesetzt hätten, hätten wir nicht mehr den Finnen gegen die Russen mit
nicht-militärischen Mitteln und freiwilligen Soldaten helfen können. Wir wären von Nazitruppen besetzt worden und
hätten nicht mehr dänischen Juden und norwegischen Widerstandskämpfern Schutz bieten können.
Niemand weiss natürlich, ob ähnliche Situationen noch je eintreffen werden. Wir wissen aber sicher, dass die
schwedische Neutralität (1) die Schweden aus Kriegen herausgehalten hat, (2) unseren Nachbarn geholfen hat, (3) uns
besondere Möglichkeiten zu globaler Solidaritätspolitik, wie Olof Palme sie betrieb, eröffnet hat und (4) dass sie
niemandem geschadet hat.
Neue Möglichkeiten für die Neutralität
Warum denn durch eine Osterweiterung der NATO die Voraussetzungen für eine erneuerte Neutralitätspolitik der Länder
zwischen Westeuropa und Russland verunmöglichen?
Es gibt für gewisse Machtkreise gute Gründe für die Eingliederung Schwedens (und Finnlands) in die NATO:
A)Man zerstört damit ein Beispiel für die Länder des Streifens zwischen Russland und der NATO-Zone Westeuropas. Es
ist eine Tatsache, dass nicht alle Leute in Zentral- und Osteuropa ihre Länder als NATO-Mitglieder sehen wollen. Im
Herbst 1996 habe ich Ungarn, die Tschechei, die Slovakei und Estland besucht. Überall sind die Grünen gegen die
NATO und befürworten Neutralität, sogar die Schaffung eines neutralen Streifens zwischen Russland und der NATO.
Zu einem solchen Streifen gehören natürlich Schweden, Finnland und Österreich. Ohne diese neutralen "Veteranen"
würde eine solche Alternative unglaubwürdig.
B)Man möchte Schluss mit der Möglichkeit machen, dass je noch einmal ein kleines, reiches, nordeuropäisches Land eine
unabhängige Aussenpolitik gegen die westlichen Supermachtinteressen führen kann, eine Politik der Solidarität mit den
Armen und Unterdrückten in der dritten Welt. Zudem beseitigt man ein Haupthindernis für die Verwirklichung der
Militarisierung der EU. Von der NATO wäre es für Schweden nur ein kleiner Schritt bis zur Vollmitgliedschaft in der
WEU und damit einer künftigen EU-Armee.
Die geplante Osterweiterung der NATO kann also nicht unabhängig von der Zukunft der neutralen EU-Staaten betrachtet
werden. Ich habe den Verdacht, dass die Ost- und Zentraleuropäischen Staaten nicht einmal das Hauptziel der
Erweiterung sind - es scheint vielmehr um die Einkreisung Schwedens, Finnlands und Österreichs zu gehen. Ein
konkretes Zeichen dafür bekam ich vor einigen Tagen bei einem Besuch im NATO-Hauptquartier in Brüssel. Ich fragte:
"Wenn Schweden sich plötzlich umbesinnen würde und einen Beitrittsantrag einreichte, wie würde Sie reagieren?" -
"Ach" antwortete der NATO-Sprecher, "Schweden wäre unser Lieblingsbeitrittskandidat! Schweden ist ja bereits in
jeder Hinsicht NATO-kompatibel!"
Als Organisationssoziologe weiss ich, dass alle Organisationen überleben wollen, selbst wenn sie ihre Lebensfähigkeit
und eigentliche Berechtigung verloren haben. Die NATO ist hier keine Ausnahme. Die ursprüngliche Aufgabe, die
Verteidigung gegen die Sowjetunion, besteht heute nicht mehr. Warum hat sich die NATO nicht, wie der Warschauer
Pakt, aufgelöst? Weil Tausende von Leuten vom Weiterleben der NATO abhängig sind? Ja, aber nicht nur deshalb. Man
spricht jetzt häufig von einer neuen NATO, mit neuen Aufgaben und Zielsetzungen. Die NATO erhielt in der Tat neue
Aufgaben und Zielsetzungen und sie will eine neue Rolle spielen. Die Rolle der NATO wird aber nicht im
"Friedensmachen" bestehen, wie sie dies selber euphemistisch beschreibt. Die eigentliche Hauptrolle wird darin
bestehen, die materiellen Interessen der reichen Nordamerikaner und Nordwesteuropäer gegen die wachsenden
Herausforderungen der Armen im Süden zu verteidigen. Grauzonen mit unklarer "Solidarität" müssen weg. Die Festung
Europa/USA muss dieser Logik zufolge ohne Löcher und Verräter fertiggebaut werden.
Deshalb muss man mit der Neutralität der Neutralen Schluss machen. Aktive Neutralität darf nicht als glaubwürdige
Alternative dargestellt werden können. Mit der Osterweiterung der NATO sollen die Grenzen zwischen den
abgeschotteten Reichen und dem Rest der Welt klar festgelegt werden.
Aus grüner Perspektive drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass gemeinsame Sicherheit in Europa nur durch die
gesamteuropäische OSZE geschaffen werden kann. Neutralität ist nicht nur für die (noch) Neutralen wichtig, sondern sie
ist für alle Grünen als Beispiel einer zivilen Solidaritäts-Alternative reicher Länder im Norden von ausserordentlicher
Bedeutung. Die NATO muss nicht erweitert, sondern aufgelöst werden.
Anmerkungen:
(1) "Euroföderalisten" vertreten die Schaffung eines europäischen Bundesstaates und sind entsprechend - bezogen auf die heutige Situation - Zentralisten (Anmerkung der Redaktion)
(2) Beitrag bei der öffentlichen Anhörung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Bonn, 6 Dezember 1996
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