Aus wirtschaftlichen und strategischen Gründen werden die ehemaligen Kolonien europäischer Staaten weiterhin in Abhängigkeit von der EU gehalten. Die Methoden der Verbindung mit den "Mutterländern" sind verschieden.
von Herbert Langthaler
Gut zwei Dutzend Gebiete, verstreut über die Weltmeere und ihre Küsten, sind heute nach wie vor Kolonien
europäischer Staaten. Darunter befinden sich so unterschiedliche Territorien, wie die zehn Millionen Metropole
Hongkong, die in den nächsten Jahren an China zurückgegeben werden soll und die ebenfalls britische Insel
Pitcairn, deren knapp hundert Einwohner, allesamt Nachkommen der berühmten Meuterer der "Bounty", als
stolze Briten kein Interesse an einer Loslösung von Mutter Britannien zeigen. "Gebiete ohne Selbstregierung"
heissen die Kolonien im UN-Jargon und sollten eigentlich längst ihre Unabhängigkeit erlangt haben. Immerhin
wurde von der UNO bereits 1960 die Resolution 1514, die "Erklärung zur Entkolonisierung" verabschiedet, in
der das Selbstbestimmungsrecht der Völker festgeschrieben wurde. Dass sich die europäischen Staaten nach wie
vor so vehement an ihre kolonialen Besitztümer klammern, hat allerdings gewichtige ökonomische und
militärische Gründe.
Frankreich, Großbritannien, Spanien, die Niederlande und Portugal verfügen nach wie vor über überseeische
Besitzungen, die durch unterschiedliche rechtliche Konstruktionen mit dem "Mutterland" verbunden sind.
Während die Niederländischen Antillen und Aruba als "Autonome Teile des Königreichs Niederlande" bereits
weitgehende Selbständigkeit geniessen und 1997 in die Eigenstaatlichkeit entlassen werden sollen, sieht es bei
den britischen Kronkolonien und französischen DOM-TOMs ganz anders aus.
Die fast ausschließlich insularen Gesellschaften des französischen "Konfetti Imperiums" kennen zwei
Hauptformen der Einbindung in die französische Republik. Die karibischen Inseln Guadeloupe und Martinique,
Französisch Guyana und Réunion sind als Überseedépartements (DOM) seit 1946 den Départements des
europäischen Frankreichs formal gleichgestellt. Die französischen Inseln im Pazifik (Neukaledonien,
Französisch Polynesien sowie Wallis und Futuna) haben den Status von überseeischen Territorien (TOM). Sie
verfügen über weitgehende innere Autonomie, in Fragen der Außenpolitik, der inneren und äußeren Sicherheit
hat aber nach wie vor Paris das Sagen. Zuständig für die französischen Kolonien ist ein eigenes "Ministère des
DOM-TOM". Alle Bewohner der DOM-TOM sind französische Staatsbürger mit parlamentarischer Vertretung in
Paris und im EU-Parlament in Strassburg.
Militärische Interessen
Während die britischen Kolonien, wie die Cayman-Islands, die Vergin-Islands oder die Bermudas, vor allem als
off-shore Finanzzentren und beliebte Touristenziele Bedeutung erlangt haben, nehmen die französischen
Kolonien in den Sandkastenspielen der Euro-Militärs eine wichtige Stellung ein. Mit den DOM-TOMs verfügt
Frankreich über ein weltweites Netz von Stützpunkten, das es in zukünftige gesamteuropäische Militärstrategien
einbringt. Die DOM-TOMs sind vor allem wichtige strategische Bausteine für Frankreichs (und der EU)
nukleare Ambitionen. Französisch Polynesien bietet mit den "Centre d'Expérimentation du Pacifique" auf den
Atollen Mururoa und Fangataufa das Testgelände für die französische "force de frappe".
Im 900 Quadratkilometer grossen Raumfahrtzentrum (Centre spatial guyanais - CSG) in Kourou
(Französisch-Guyana) werden mit Ariane europäische Spionagesatelliten ins All geschossen und Trägerraketen
für nukleare Sprengköpfe getestet. Kourou ist längst nicht mehr nur französisches Experimentierfeld. An der
dort beheimateten Europäischen Weltraumagentur (ES) sind neben der BRD mit 37 Prozent auch zahlreiche
andere EU-Staaten (u.a. Österreich) sowie die Schweiz und Norwegen beteiligt. Auf Gouadeloupe wiederum
befindet sich die logistische Drehscheibe zwischen dem "Mutterland" und den militärischen Einrichtungen in
Polynesien und Guyana. Auch im Indischen Ozean mischt Frankreich als Mitglied der "Indian Ocean
Commission" als regionale Ordnungsmacht mit.
Wirtschaftliche Interessen
Neben der militärischen Bedeutung machen die insularen Kolonien Frankreich zum Besitzer der drittgrössten
Meereswirtschaftszone der Welt. Durch die, bei der dritten UN-Seerechtskonferenz 1982 beschlossene
Ausweitung der Meereswirtschaftszonen auf 200 Meilen kamen 11 Millionen Quadratkilometer ozeanische
Flächen unter die Verfügungsgewalt Frankreichs. Zwar werden weder der Fischreichtum der "französischen"
Gewässer voll genutzt, noch ist die Technologie für den Abbau der unter der Meeresoberfläche vermuteten
Bodenschätze ausgereift, aber beide Ressourcen werden in Zukunft steigende Bedeutung erlangen.
Währenddessen werden die Fanglizenzen an japanische oder US-amerikanische Unternehmen vergeben - die
einheimischen Fischer haben das Nachsehen und Fisch wird in Dosen aus dem Mutterland importiert.
Überhaupt entwickelten sich in den Kolonien eine beinahe pervers zu nennende Wirtschaftsstruktur. Wegen der
Zwangsausrichtung auf EU und Metropole werden jeweils nur um die 10 Prozent des Außenhandels mit den
jeweiligen Nachbarländern abgewickelt. Die Deckungsrate der Importe durch Exporte lag Anfang dieses
Jahrzehnts zwischen 43 Prozent (Neukaledonien) und 6 (!) Prozent (Polynesien), letzteres führte als 19 mal
mehr ein, als es exportierte. Die enormen Summen, die vom "Mutterland" in die Kolonien fließen (um die 1 000
$ US pro Jahr und Kopf), kommen vor allem einer völlig aufgeblähten Verwaltung zu gute. Über 70 Prozent
der Arbeitnehmer in den DOM-TOMs sind heute im tertiären Sektor beschäftigt. Während die Gehälter, in dem
mit Beamten aus dem Mutterland besetzten, öffentlichen Dienst bis zum Doppelten des vergleichbaren Gehalts in
den Metropolen betragen, sind 30 bis 60 Prozent der einheimischen Jugendlichen arbeitslos. Die gesetzlichen
Mindestlöhne sind dafür niedriger als im Mutterland und werden in der Privatwirtschaft oftmals unterschritten.
Als Folge dieser Disparitäten kommt es in vielen Gebieten zu einer massenhaften Auswanderung ins
"Mutterland" bei gleichzeitiger massiver Zuwanderung aus den Metropolen. So verbringen immer mehr weiße
Franzosen ihren Lebensabend unter karibischen Palmen, während sich junge MartiniquerInnen oder
Guadeloupis in Paris abrackern. Die Opposition in Martinique spricht folgerichtig von einem "génocide par
substitution" - einer Umwandlung der einheimischen Bevölkerung durch Austausch.
In den letzten Jahren ist eine zunehmende Involvierung der EU in die Belange der überseeischen Kolonien
festzustellen. Die voll in den jeweiligen Staat integrierten Gebiete, neben den französischen DOMs, die
spanischen Besitzungen Ceuta, Melila und die Kanarischen Inseln sowie die portugiesischen Azoren und
Madeira sind für die EU nichts anderes als europäische Regionen wie das Waldviertel, Bayern oder Kalabrien.
Als solche haben diese Gebiete theoretisch auch Anspruch auf Gelder aus den diversen EU-Töpfen. Praktisch
antragsberechtigt sind allerdings nur die Zentralregierungen in den Metropolen und denen war bisher meist das
metropolitane Hemd näher als der koloniale Rock. Daher wurde im Zuge der Vorbereitung auf den
EU-Binnenmarkt ein eigenes Förderungs-Programm (POSEIDON) für die Kolonien ins Leben gerufen. Es soll
die "realistische Einfügung der überseeischen Départements in die EU" sicherstellen. Im Juli 1994 wurden
darüberhinaus für Réunion und Französisch-Guyana spezielle Förderungsprogramme der Euopäischen
Kommission beschlossen. KritikerInnen meinen, dass damit nur der Status Quo der Abhängigkeit zementiert
werden soll und den europäischen Kolonien "auch der letzte Zugang zu einer selbstbestimmten, eigenständigen
wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung verbaut wird". Darüber hinaus wird der gänzliche Ausverkauf durch
Abschreibungsfirmen und Immobilienspekulanten befürchtet.
Unabhängigkeitsbewegungen
Zwar existieren in vielen Kolonien Unabhängigkeitsbewegungen, die allerdings bei der einheimischen
Bevölkerung, falls sie nicht durch die Einwanderungspolitik der Metropolen ohnehin in die Minderheit gedrängt
wurde, auf wenig Widerhall stoßen. Die Ausnahme stellt dabei Neukaledonien (Kanaky) dar, wo während der
80er Jahre der militante Widerstand der Kanaken weltweit für Schlagzeilen sorgte. Die östlich von Australien
gelegene Inselgruppe stellt auch insofern eine Ausnahme dar, als sie nicht nur von strategischer Bedeutung ist,
sondern auch über wertvolle Bodenschätze verfügt. Die Nickelvorkommen machen Kanaky zum weltweit
drittgrössten Nickel-Exporteur, daneben wird noch Eisen, Chrom und Kobalt abgebaut. Paris betrieb während
der 70er Jahr eine massive Einwanderungspolitik mit dem Ziel, die Kanaken zur Minderheit im eigenen Land zu
machen. Von 1969 bis 1974 stieg die Zahl der auf Kanaky lebenden Franzosen auf 51 000, was 33 Prozent der
Gesamtbevölkerung ausmachte. Als die Einheimischen, durch eine die Franzosen bevorzugende Landpolitik,
immer mehr an den Rand gedrängt wurden, kam es 1984 nach schweren Unruhen zur Ausrufung einer
Republik Kanaky. Nachdem die Franzosen den Konflikt vorerst militärisch lösen wollten, kam 1988 doch noch
eine Verhandlungslösung zustande, deren wesentliches Ergebnis ein für 1998 geplantes Referendum über die
Unabhängigkeit der Inselgruppe war. In den meisten Kolonien hält sich Kritik am Status der Gebiete allerdings
in Grenzen. Zu gross sind die Vorteile die zumindest die europäischen und einheimischen Oberschichten aus
den reichlich fließenden Geldmitteln aus den Mutterländern ziehen.
Europa lässt sich seine weltweite Militärpräsenz und die Möglichkeit, die Kolonien als regionale Schaufenster
für europäische Produkte zu nutzen, so leicht nicht nehmen und lässt sich dies auch ganz schön was kosten.
Zwar hat die UNO die 90er Jahre zur "Entkolonialisierungsdekade" erklärt, aber ausser einigen Veranstaltungen
mit dazugehöriger Textproduktion zu Beginn dieses Jahrzehnts, ist die Entkolonialisierung der europäischen
Überseegebiete in der EU kein Thema. Im Gegenteil, der, offensichtlich von der imperialen Größe seiner
Vorfahren träumende, deutsche EU-Abgeordnete Otto Habsburg fand während einer Debatte über
Sondermassnahmen für bestimmte Agrarprodukte aus den französischen Überseeischen Départements
überraschende Argumente für den Besitz von Kolonien: "Gerade für uns Kontinentaleuropäer sind die
europäischen Überseegebiete ganz wesentlich. Sie geben uns weiterhin diese weltweite Perspektive, die wir
brauchen und sie sind das beste Element im Kampf gegen den Rassismus bei uns, denn das sind Gebiete, in
denen andere Rassen leben, die aber genauso Europäer sind wie wir und das ist das Schöne daran!".
(Dieser Artikel erschien im "Europakardiogramm", Schottengasse 3A/1/59, A-1010 Wien, e-mail: zoom@thing.at)
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