Die EU-Staaten betreiben Politik wie gewohnt. In der augenblicklichen geo-strategischen Lage können sie ihre jeweils eigenen Interessen am besten vertreten, wenn sie zusammenspannen. Der "gemeinsamen Polit-Markt" garantiert, dass Frankreich im Pazifik und zusammen mit Spanien im westlichen Mittelmehr der Rücken gestärkt wird, während Deutschland im Balkan und in Osteuropa freie Hand hat. Sollte diese Interessengemeinschaft durch Veränderungen des Umfeldes gestört werden, droht eine Balkanisierung Europas.
von Johan Galtung, Professor für Friedensforschung
Südosteuropa wurde sowohl von den Ottomanen als auch von den Habsburgern erobert; die Besetzungen
dauerten ein halbes Jahrtausend, mit vielen Aufständen. Entsprechend haben die Türken eine negative Sicht der
Griechen, Bulgaren und Serben, und die Österreicher (samt deren Verbündeten, den Preussen/Deutschen) eine
negative Sicht der Serben. "Balkanisierung" ist ein Ausdruck dieser Erfahrungen - wie sie sich in den Augen der
Herrscher ergeben: kleine, streitsüchtige Völker, die unwillig sind, die Segnungen der Fremdherrschaft zu
akzeptieren; und die sich gegenseitig bekämpfen. Haben andere Teile der Welt Besetzung mit mehr Grazie
ertragen?
Wenn das Kriterium der "Balkanisierung" endloser Streit und Krieg ist, dann war die unruhige Ecke während
den letzten 25 Jahren nicht im europäischen Südwesten, sondern im Nordwesten zu finden: Nordirland. Wenn
wir auf Westeuropa blicken, steht das "innere Fünfeck", bestehend aus Frankreich - Deutschland/Österreich -
Italien, Spanien und England, dem Balkan in nichts nach. Die letzten 800 Jahre bestehen in der Tat als endlosen
Querelen und Kriegen in allen 10 bilateralen Beziehungen des Fünfecks. Heute versuchen die Länder des
Fünfecks dasselbe wie die südlichen Slawen - die Jugoslawen - vor 45 Jahren: sie bilden eine Föderation, die
Europäische Union, in der sie die fünf wichtigsten Mächte sind - wenn man Österreich nicht in Betracht zieht.
Die Zeit wird erweisen, ob die Maastrichter-EU, die am 1. November 1993 zum Leben erweckt wurde, so lange
wie Jugoslawien II (1945 - 1990), leben wird.
Um eine bessere Perspektive zu gewinnen, fragen wir uns, in welcher Art von Konfliktformation die EU
eingebettet ist? Welches sind die anderen Parteien dieser Formation? Ist eine gigantische Balkanisierung am
Werk, mit endlosen Querelen und Kriegen? Wo werden Kollisionskurse eingeschlagen? In der Tat: die EU steht
mit vier weiteren gewichtigen Nachbarn in konfliktreichem Verhältnis, mit denen sie das "äussere Fünfeck"
bildet.
Der erste Konflikt besteht mit der arabisch-muslimischen Welt. Sie war bereits das Ziel der Kreuzzüge, die vor
900 Jahren am 27. November 1095 durch die Deklaration von Urban II, einem französischen Papst, lanciert
wurden. Heute sind die angespannten Beziehungen zu arabisch-muslimischen Einwanderern in Frankreich ein
offensichtlicher Aspekt dieses Konfliktfeldes. Wichtig sind auch die zwei spanischen Enklaven Ceuta (seit
1580) und Melilla (seit 1496), beide auf marokkanischem Gebiet. Für Marokko stellen diese spanischen Gebiete
ein wichtiges Thema dar, so wie Gibraltar für Spanien. Die Enklaven könnten von Marokko leicht jederzeit
besetzt werden. Ein wesentlicher Aspekt dieses Konfliktes besteht auch im Versagen der ehemaligen
Kolonialmacht Frankreich und der EU, die algerische Regierung unter Druck zu setzen, um den islamischen
Wahlerfolg Ende 1991 (FIS) zu respektieren.
Der zweite Konflikt besteht mit der türkisch-muslimischen Welt. Die angespannten Beziehungen in
Deutschland, wo Deutsche türkische Frauen lebend verbrennen, ist wohlbekannt. Die Türkei wird offensichtlich
wegen ihrer muslimischen Wurzeln nicht ein volles EU-Mitglied werden, was die Türkei noch muslimischer
macht. Am wichtigsten in diesem Zusammenhang ist der Kollisonskurs in Jugoslawien: die EU-Politik besteht
darin, ein muslimisches Land in Kontinental-Europa zu verhindern. Daher die Anerkennung einer von Anfang
angelegten Katastrophe, ein tri-nationales Bosnien-Herzegovina. Im Falle des Scheiterns dieses Projektes wurde
eine muslimisch-kroatische Föderation mit unbekannten Grenzen vorgesehen. Nach vielen Jahren Krieg, von
der Anerkennung am 6. April 1992 bis zu den Dayton Abkommen, bleiben die wahrscheinlichen Verlierer die
Moslems. Mittlerweile bildet die Türkei einen gemeinsamen Markt mit den sechs ehemaligen muslimischen
Sowjetrepubliken, Iran, Pakistan und Afghanistan; 10 Millionen km2 und 300 Millionen Einwohner.
Der dritte Konflikt besteht mit der slawisch-orthodoxen Welt. Die anti-serbische Einstellung der EU in
Jugoslawien ist offensichtlich, ebenso wie die Verbindung zwischen Sarajevo 28. Juni 1914 (der Tag des
Kosovo-Traumas) und heute. Zusätzlich wird die östliche Grenze der EU bis hin zur slawisch-orthodoxen
Grenze in Europa verschoben, indem die Katholiken der Visegrad Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei,
Ungarn) akzeptiert werden, nicht jedoch die orthodoxen Christen, die 1054 ausgegrenzt wurden.
Der vierte Konflikt besteht mit den ehemaligen und jetzigen Kolonien in Afrika, in der Karibik und im Pazifik,
den sogenannten AKP-Staaten. 70 davon sind im Yaoundé-Lomé AKP-System organisiert. Dieses System
erhält im wesentlichen eine vertikale Arbeitsteilung, die Armut dieser Länder und garantiert der EU AKP-Preise
für Rohstoffe. Und Frankreich und Grossbritannien kontrollieren weiterhin Gebiete, die noch nicht
entkolonisiert wurden.
Diese vier Konflikte haben eines gemeinsam: sind verschärfen sich. Aus diesen Konfliktformationen ergibt sich
eine These über die raison d'être der EU: Die EU ist ein politischer und nicht nur ein wirtschaftlicher
gemeinsamer Markt. Spanien und Frankreich erhoffen sich Unterstützung in ihrem Konflikt mit der
arabisch-muslimischen Welt, unter der Bedingungen, dass sie Deutschland im Konflikt mit der
türkisch-islamischen und der slavisch-orthodoxen Welt unterstützen und unter der Bedingung, dass alle drei
(samt Italien) England und Frankreich bezüglich der AKP-Staaten unterstützen. Es gilt zu beachten, dass
Deutschland die meisten Waffen für Kroatien, Russland für Serbien, und die arabisch-muslimische und die
türkisch-muslimische Welt für Bosnien bezahlt haben. Vier der Blöcke des äusseren Fünfecks sind also bereits
im Krieg, indem sie ihr uraltes Spiel geniessen: lasst es den Balkan für uns ausfechten.
Solange die EU-Mitgliedsstaaten zusammen mehr aus dem äusseren Fünfeck herausholen können als getrennt,
wird im inneren Fünfeck Frieden herrschen. Dies ist jedoch eine delikate Balance. Während sie funktioniert
führt sie zur Bildung des Eurocorps, an der vier der fünf Kräfte des inneren Fünfecks (mit Belgien und
Luxemburg) teilnehmen.
Das Eurocorps verfügt bereits über Seestreitkräfte (die Euromarfor) für das westliche Mittelmehr, mit anderen
Worten für die erste Konfliktlinie. Die NATO ist bereits gemäss den Dayton-Verträgen in Bosnien installiert, um
die Situation einzufrieren. Die französischen Nukleartests im Pazifik sind hochmilitärischer Ausdruck der
Beziehungen zu den Ländern des pazifischen Teils des AKP-Systems, mit anderen Worten in der vierten
Konfliktformation. Es ist offensichtlich, dass die EU von den Mitgliedstaaten verlangen wird, Frankreich nicht
dafür zu verurteilen oder sich wenigstens zu enthalten. Und Deutschland wird sowenig gegen Euromarfor im
westlichen Mittelmehr protestieren wie Frankreich und Spanien gegen die deutschen Aktivitäten im östlichen
Mittelmehr, d.h. vor allem im Balkan.
Kurzum, Politik wie gewohnt, etwas verändert durch die Weltkriege: In Abänderung des klassischen Wiener
Konzertes mussten Österreich und Deutschland nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg den USA und China
permanente Sitze im Sicherheitsrat überlassen, wobei China Deutschland neuerdings einen Sitz in der
Kontakt-Gruppe für Jugoslawien überliess (drei der Sitze werden von Mitgliedern des inneren Fünfecks
besetzt). Das ganze ist so angelegt, dass - sollte das äussere Fünfeck ausserhalb des Balkans explodieren - die
Balkanisierung Europas auf einer hohen Intensitätsstufe vonstatten ginge.
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