Jörg Huffschmid beschreibt in seinem Eingangsartikel die Grossmachtstrategie des europäischen Kapitals, das unter der Führung des deutschen Kapitals die traditionelle aggressive wirtschaftliche Expansionsstrategie der BRD auf westeuropäischer Ebene wiederholen möchte. Die traditionelle Expansionsstrategie der BRD sah kurz zusammengefasst wie folgt aus: Die Absatz- und Verwertungsmöglichkeiten, die wegen hoher Arbeitslosigkeit und niedriger Masseneinkommen sowie geringerer Sozialleistungen im Inland sinken, sollen im Ausland eröffnet werden: durch Export von Waren, Kapital und Geld. Durch diese Exportstrategie wird aber die Währung des exportierenden Landes aufgewertet, was die Wettbewerbsfähigkeit auf den Auslandsmärkten schwächt. Dieser Nachteil kann nur durch verstärkte Kostensenkungen kompensiert werden: durch Lohnsenkungen, Rationalisierungen, Sozialabbau, restriktive Geldpolitik (die dafür sorgt, dass die Arbeitslosigkeit hoch und die Bedingungen für Lohnsenkungen günstig bleiben), durch steuerliche Entlastung der Unternehmen.
Auf westeuropäischer Ebene soll diese Strategie politisch wie folgt durchgesetzt werden: (1) die mitteleuropäischen Staaten des ehemaligen Ostblocks sollen in das gesamte Regelwerk der EU integriert werden, ohne dass diese die Chance hätten, an seiner Gestaltung und Anpassung an ihre Bedürfnisse mitzuwirken. Das Endergebnis sollte eine straff organisierte, disziplinierte und hierarchisch gegliederte europäische Grossmacht sein, die hervorragende Positionen im Kampf um die Weltmärkte besetzt. (2) die sozialpolitischen Errungenschaften, die in den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in fast allen Ländern der heutigen EU durchgesetzt worden waren, sollen demontiert werden. Die Bestimmungen im Vertrag von Maastricht über die Zutrittsbedingungen zur Währungsunion haben das Tempo und den Umfang des Sozialabbaus in der EU weiter erhöht. (3) Durch eine politisch und militärisch schlagkräftige Politische Union soll eine wirksame internationale wirtschaftliche Expansionspolitik abgestützt werden können.
Laut Huffschmid zeigen sich jedoch Risse im Gebälk der neoliberalen Konstruktion des "europäischen Hauses". Deutschland konnte die kleine Währungsunion nicht durchsetzen. Durch eine grosse Währungsunion steigen laut Huffschmid die Chancen einer politischen Einflussnahme auf die Euro-Währungspolitik. In der EU würde die Beschäftigungspolitik in Zukunft eine grössere Rolle spielen. Als Beleg gibt er hierfür allerdings nur die wortreichen, neoliberal ausgerichteten Erklärungen von Ministerkonferenzen an. Die Konstitution der politischen Union (schlagkräftige "Verteidigungsarmee") sei misslungen. Damit könne eine wirtschaftliche Expansionspolitik machtpolitisch nicht abgesichert werden. "Ein Versuch der EU, einen Gewinn von Weltmarktpositionen durch eine politische Abwertungsstrategie abzusichern, würde von den USA und Japan - zu Recht - als Kriegserklärung aufgefasst und mit gleichartigen Massnahmen beantwortet werden". (S. 14).
Angesichts dieser Lage bleiben laut Huffschmid zwei mögliche Entwicklungsvarianten: ein innereuropäischer, betrieblicher und geographischer Zentralisationsprozess mit entsprechend zunehmenden Polarisierungen zwischen sozialen Schichten sowie geographischen Entwicklungspolen. Gegensteuerung durch Umverteilung zugunsten der schwächeren Länder und Regionen sind unwahrscheinlich. Längerfristig führe dieser Weg entsprechend zu einer "Renationalisierung" der Politik. Als Alternative weist Huffschmid auf einen etwas vage bleibenden "Kurswechsel in Richtung auf die Mobilisierung innereuropäischer Entwicklungsmöglichkeiten: Gesamtwirtschaftliche Politik für mehr Beschäftigung und Wachstum, europäische Strukturpolitik für ökologischen Umbau und europäische Sozialpolitik gegen soziale Unsicherheit, Verelendung und Ausgrenzen, kurz ein europäisches Reformprojekt, das die systematischen inneren Entwicklungsblockierungen kapitalistischer Ökonomien nicht durch hemmungs- und perspektivlose Weltmarktexpansion nach aussen projiziert, sondern durch politisches Eingreifen angeht und jedenfalls für eine bestimmte Zeit überwindet." Die Rolle der politischen Demokratie in diesem Entwurf bleibt ungeklärt - ebenso wie das institutionelle Rahmenwerk, durch das europäische Struktur- und Sozialpolitik zu erfolgen hat: durch einen europäischen Bundesstaat oder durch internationale (europa- sowie weltweite) Verträge, die Mindeststandards festschreiben? Wenn die Perspektiven auch etwas vage bleiben und die Aussicht auf eine aktivere - und nicht nur neoliberale, auf "Flexibilisierung" der Arbeitsmärkte ausgerichtete - Beschäftigungspolitik der EU etwas zu optimistisch geschildert wird, in der Analyse weist der lesenswerte Artikel unbestreitbare Qualitäten auf.
Im Heft folgen Artikel über Theorien zur EU-Integration, über eine alternative Währungsorganisation Westeuropas, sowie Ausführungen zu Italien, Schweden, Norwegen, Finnland, Dänemark und New Labour. Bezüglich der EU zeigen die Länderberichte kaum neue Aspekte auf. Insbesondere vermag der Artikel über Italien nicht verständlich zu machen, wieso die ungebrochene EUphorie der Italiener die Konvergenz-Rosskur überstehen konnte.
Europäische Union und die Linke, Zeitschrift marxistische Erneuerung, 32, Frankfurt am Main, 12 1997
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