Volkssouveränität ernst genommen schliesst die direkte Demokratie ein, da nur sie differenzierte, sachbezogene Mitsprache der betroffenen Bevölkerung erlaubt. Gegen diese offensichtliche Tatsache sperren sich seit jeher die politischen "Eliten", die gerne vom "Volk" möglichst unbehelligt regieren möchten. Sie wehren sich deshalb gegen die Einführung der direkten Demokratie (Deutschland) oder wollen diese wieder einschränken (Schweiz). Obwohl man der Volkssouveränität in der Verfassung oder in der Theorie huldigt, misstraut man praktisch der Entscheidungsfähigkeit der Bevölkerung und zeigt damit, dass man dem "Volke" faktisch die Souveränität abspricht. Für die wirkliche Anerkennung der Volkssouveränität setzen sich jedoch überall in Europa vermehrt Bewegungen und Gruppierungen ein.
von Thomas Mayer*
Die deutsche Nachkriegsgeschichte ist von der Angst vor dem Volk geprägt. Genauso wenig wie das Volk
über das Grundgesetz entscheiden konnte, wurde im Grundgesetz das Recht auf Volksabstimmung
geregelt. Zwar wurde nach dem zweiten Weltkrieg in den meisten Verfassungen der Bundesländer die
Volksabstimmung vorgesehen. Gleichzeitig wurde dieses Recht jedoch mit praktisch unüberwindbaren
Hürden versehen (z.B. 20% der Stimmberechtigten müssen innerhalb von 14 Tagen einen Volksentscheid
verlangen, damit dieser stattfindet), so dass es in der Praxis nie zu Volksabstimmungen kam. Ausnahme ist
Bayern: Hier genügen die Unterschriften von 10% der Stimmberechtigten. Immerhin haben damit -
innerhalb von über 40 Jahren! - wenigstens vier Volksentscheide stattgefunden.
Angst vor dem Volk am Beginn der Republik
In der offiziellen Diktion wurde diese direktdemokratische Abstinenz mit den "schlechten Erfahrungen der
Weimarer Republik" (1919 - 1933) begründet. Tatsache ist jedoch, dass Weimar nicht an den wenigen
Volksbegehren, sondern an zu wenig Demokraten gescheitert ist. Hitler kam mit Hilfe des Parlamentes an
die Macht. Der eigentliche Grund für die Ablehnung der direkten Demokratie liegt woanders: Mit dem
Beginn des Kalten Krieges hatten die nach Westen orientierten Parteien Angst, mit dem Volksentscheid den
Kommunisten ein wirkungsvolles Instrument in die Hand zu geben. Die Politiker hatten Angst, die
Bevölkerung könnte sich doch gegen eine Teilung Deutschlands und gegen eine Westintegration
entscheiden. Der baden-württembergische Ministerpräsident Meier fügte auf der
Ministerpräsidentenkonferenz im Juli 1948 hinzu: "Wir sollten aber auf keinen Fall in der ÷ffentlichkeit
bekannt werden lassen, das wir in Bezug auf die Entscheidung durch das Volk irgendwelche Besorgnisse
hegen. Das dürfen wir auf keinen Fall preisgeben." So geschah es dann auch. Generationen von Studenten
lernten stattdessen den historischen Unsinn der "schlechten Weimarer Erfahrungen" auswendig (Prof.
Otmar Jung, Berlin, hat diese Zusammenhänge in seinen Werken aufgearbeitet).
Die deutsche Nachkriegsgeschichte ist geprägt von Versuchen, Volksabstimmungen zu wichtigen Fragen
(z.B. Atombewaffnung 1958, Raketenstationierung 1982, Atomenergie 1986) zu erlangen. Doch das
politische Establishment zeigte sich unerschütterlich. Da das Volk 1949 schon über die deutsche Teilung
nicht beschliessen konnte, verwehrte konsequenterweise der Bundestag 1990 auch eine Volksabstimmung
über die deutsche Einheit.
Direkte Demokratie in den Gemeinden
Seit der demokratischen Wende in der ehemaligen DDR, die allein durch die Bürger eingeleitet wurde, kam
dennoch etwas Bewegung in Richtung Direkte Demokratie zustande. Die jahrzentelange Arbeit der
verschiedenen Bürgerinitiativen für Direkte Demokratie und die um sich greifende wissenschaftliche
Diskussion zeigten Früchte. Die meisten Gemeindeordnungen der Bundesländer wurden reformiert. Nun
gibt es schon in elf Bundesländern das Recht auf Bürgerentscheid in den Gemeinden und Städten. Jedoch
sind auch diese Regelungen immer mit grossen Hürden beschwert. Die meisten Initiativen straucheln.
Durchgängig waren die Politiker in den Landtagen von Misstrauen gegenüber der Bevölkerung geleitet. Um
"Missbräuche" zu verhindern, wurden Themen grosszügig ausgeschlossen, werden bis zu 15% der
Unterschriften zur Einleitung eines Bürgerentscheides verlangt. In der Schweiz sind ja oft nur 2 oder 3%
nötig. Bürgerentscheide sind nur gültig, wenn die Mehrheit in der Abstimmung gleichzeitig 25% oder 30%
der Stimmberechtigten ausmacht. Eine Hürde, die in der Schweiz gänzlich unbekannt ist.
Bayern - Volksabstimmung über die Volksabstimmung
Die grösste Bürgerbewegung für Direkte Demokratie konnte in Bayern aufgebaut werden. Im Februar 1995
unterstützten 1,2 Mio. Bürgerinnen und Bürger das Volksbegehren "Mehr Demokratie in Bayern", das den
Bürgerentscheid in den Gemeinden und Landkreisen einführen will. Hier wird also das Instrument einer
bayernweiten Volksabstimmung verwendet, um den kommunalen Bürgerentscheid einzuführen. Der
Gesetzesentwurf des Volksbegehrens ist zwar, im Vergleich zur Schweiz, sehr zurückhaltend. Doch für die
Bundesrepublik wäre er ein Schrittmacher. Doch noch ist nichts entschieden: Gleichwohl in Bayern alle
Oppositionsparteien für das Volksbegehren gewonnen werden konnten, hält die CSU mit einem eigenen
Gesetzesentswurf entgegen. Denn "die Zukunft Bayerns steht auf dem Spiel!". Mit diesem Slogan wird
gegen das Volksbegehren gewettert. Gleichzeitig wird versucht, den Bürgerinnen und Bürgern Angst vor
sich selbst, Angst vor ihren eigenen Entscheidungen zu machen: wenn die Bürger selbst entscheiden, sind
Arbeitsplätze gefährdet, gibt es keine Kindergärten mehr, usw. Der Anfangsimpuls der Bundesrepublik, die
Angst vor dem Volk, kommt offen zum Vorschein. Doch dank einer bayernweiten Volksabstimmung wird
nun darüber öffentlich diskutiert. Ich hoffe, dass wir unsere Republik auf ein neues Fundament, auf das
Vertrauen in die Bürgerinnen und Bürger, stellen können. Genau wie es in der Schweiz mehr als 40 Jahre
brauchte, bis die Direkte Demokratie auf allen Ebenen errungen war, haben wir auch in der Bundesrepublik
noch einiges vor uns. Je mehr uns Schweizer Freundinnen und Freunde dabei helfen, umso besser.
• Thomas Meyer, München, ist Mitinitiant des Volksbegehrens "Mehr Demokratie in Bayern", siehe unter Mehr Demokratie in Bayern
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