Übersicht Dossiers Themenfokus Demokratie Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte – gegensätzlich oder unentwirrbar verbunden?Geschichtlich gesehen gehören Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte untrennbar zusammen. Die Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit wurden in jeder Demokratisierungswelle verstärkt und gegen die Widerstand von „Eliten“ zum Schutz der Bevölkerung vor Willkür des Staates und eben dieser „Eliten“ durchgesetzt. Die direkte Demokratie stellt dabei einen Höhepunkt an formeller Mitbestimmung der Bevölkerung an politischen Entscheidungsprozessen dar. Seit einiger Zeit ist bei gewissen Polit-„Eliten“ Mode geworden, die direkte Demokratie in einen Gegensatz zu Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten zu setzen. Die direkte Demokratie soll in Namen des Rechtsstaates und der Menschenrechte zurechtgestutzt werden – damit sind aber auf die Dauer auch Rechtsstaat und Menschenrechte gefährdet.
Von Paul Ruppen
Die Volkssouveränität ist unverhandelbar. Das „Volk“ ist dabei prosaisch jeweils die Mehrheit der stimmberechtigten und an einer Abstimmung teilnehmenden Bürginnen und Bürger – in der Schweiz kommt bei Abstimmungen, die das doppelte Mehr erfordern, noch die Mehrheit der Kantone hinzu. Von Abstimmung zu Abstimmung ist das „Volk“ entsprechend nicht dieselbe Menge von Personen. Die Volkssouveränität gründet auf dem unveräusserlichen Recht jedes Menschen, gleichberechtigt die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen mitzubestimmen, in denen er leben muss. Keine Gruppe von Menschen hat das Recht, anderen Menschen eine solche Teilnahme abzusprechen.
Offen gegen die Volkssouveränität wird selten argumentiert. Man geht verdeckt gegen sie vor. So wird etwa vorgebracht, auch das Volk könne irren. Dabei setzt man bei der populären und richtigen Erkenntnis an, dass Irren menschlich ist. Das Argument setzt voraus, dass es irgendwelche Gremien gibt, die sich nicht irren können und die das Recht haben sollten, das „Volk“ bei Irrtum in Schranken weisen zu können. Diese Gremien entscheiden dann, was Irrtum ist. Das Konzept unfehlbarer Gremien erinnert an Unfehlbarkeitslehren in manchen Kirchen oder Parteien. Wenn nicht vorausgesetzt wird, dass es unfehlbare Gremien gibt, die das Volk in Schranken weisen können, macht der Einwand wenig Sinn. Irren auch diese Gremien, so kann man ebenso gut das „Volk“ entscheiden lassen. Es ist ja nicht möglich, Entscheidungen von Fall zu Fall immer an jene Gremien zu delegieren, die sich gerade nicht irren. Welches unfehlbare Gremium sollte die entsprechenden Kompetenzzuweisungen jeweils vornehmen?
Das „irrende Volk“ sind für die Kritiker jeweils die Personen, deren Meinung sie nicht teilen und die dann das „Volk“ sind, wenn diese Personen die Mehrheit der Abstimmenden ausmachen. Die Kritiker gehören dann zur Minderheit und reklamieren für sich und die Minderheit die Wahrheit, die es gegen die Mehrheit durchzusetzen gilt. Dies ist ziemlich arrogant und man reiht sich dadurch in die wenig feine Gesellschaft von Fundamentalisten ein.
Das Argument ist zuletzt verfehlt, weil es suggeriert, es gehe in der Politik um Wahrheit. Dies ist zweifellos nicht der Fall. In der Politik geht es um Werte und Interessen. Diese sind weder wahr noch falsch. Man hat sie oder nicht. Irrtum kann in der Politik nur dann vorliegen, wenn man für die Verfolgung der eigenen Werte und Interessen Mittel verwendet, die den Zielen nicht angemessen sind. In diesem Sinne gibt es durchaus Tatsachenfragen in der Politik und diese werden durch Propaganda aller Art gerne verschleiert, wobei zu bemerken ist, dass Sachlagen in der Politik fast immer von einer gewissen Komplexität sind, so dass über Irrtum und Wahrheit mit gutem Recht episch gestritten werden kann.
Verfassungswidrigkeit von Initiativen
Eine weitere indirekte Infragestellung der direkten Demokratie besteht in der Behauptung, dass es in letzter Zeit verfassungswidrige Initiativen und Volksentscheide gegeben habe. Gemäss Lehre der Volkssouveränität ist das „Volk“ aber Herr der Verfassung und das „Volk“ hat das Recht, die Verfassung zu ändern. Nur wer die Volkssouveränität in Frage stellt, kann von verfassungswidrigen Initiativen reden. Jede Initiative, die einen Verfassungsartikel ändern will, wäre übrigens - in Bezug auf die bestehende Verfassung – verfassungswidrig. Von verfassungswidrigen Initiativen zu reden macht bei der Bejahung der Volkssouveränität wenig Sinn. Wenn man aber das Prinzip der Volkssouveränität in Frage stellen will, sollte man dies offen tun.
Manchmal kommt das Argument mit der Verfassungswidrigkeit von Initiativen etwas differenzierter, aber letztlich nicht haltbarer daher. Es wird behauptet, dass es einen unveränderlichen Kern der Verfassung gebe, den selbst der Souverän nicht ändern könne. Die Regeln des Kernes würden Demokratie erst möglich machen und könnten deshalb demokratisch nicht aufgehoben werden (z.B. Meinungsäusserungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, etc.). Selbst wenn man das Argument mit den Grundbedingungen für die Demokratie akzeptiert (der Verfasser tut dies), so stellt sich immer noch das Problem, wer festlegt, welches diese Grundbedingungen nun genau sind und wie diese in der Praxis zu interpretieren sind. Soll dies eine aufgeklärte „Elite“ vornehmen oder das „Volk“? Entscheidet diesbezüglich eine „Elite“, so ist diese der Souverän, und nicht mehr das „Volk“ - souverän ist nämlich, wer über die „letzten“ Fragen entscheidet. Will man die Entscheidung über solche Fragen dem „Volk“ wegnehmen, so geht man offenbar davon aus, dass diese Entscheidungen z.B. bei Richtern besser aufgehoben ist.
Es läuft immer auf dasselbe hinaus: man traut einer „aufgeklärten“ Miniminderheit eher zu, den Rechtstaat und die Menschenrechte zu wahren, als dem „Volk“. Man vergisst, dass Minieliten auch Menschen sind, die in Machtverhältnisse eingebunden sind. Gerichtsentscheide in Diktaturen zeigen dies deutlich, aber auch bei uns fliessen Machtverhältnisse in richterliche Entscheidungen. Minieliten ist auf die Dauer bezüglich Menschenrechten und Rechtsstaat weniger zu trauen als dem Volk, da sie sozio-ökonomisch zur Oberschicht gehören und damit weniger Interesse daran haben, die Menschenrechte und den Rechtstaat zu sichern als die Mehrheit der Bevölkerung, die ja durch entsprechende Mängel am meisten betroffen ist. Das Deutsche Bundesverfassungsgericht hat das Grundrecht der demokratischen Teilhabe z. B. nicht geschützt, als es jeden EU-Integrationsschritt durchwinkte, ohne diesen von einer Volksabstimmung abhängig zu machen. (Anmerkung: II. Im Deutschen Grundgesetzt steht im Artikel 20(2) „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“) Auch bezüglich Minderheitenschutz gibt es keinen Grund, Minieliten gegenüber vertrauensvoller zu sein als gegenüber dem „Volk“. Die Minieliten können zwar im konkreten Fall aus gesamtpolitischer Opportunität bei der Verfolgung eigener Interessen diesbezüglich mal nützlich sein – insgesamt haben sie aber kein grösseres Interesse am Minderheitenschutz als das „Volk“.
Streben des Volkes nach Allmacht
Die neuere Entwicklung der Ausübung des Initiativrechts wurde auch als ein Streben des „Volkes“ nach absoluter Macht kritisiert. Die tradierte Rollenteilung (Volk, Parlament, Regierung, Justiz) werde missachtet. Dies ist ein ziemlich seltsames Argument. Die Rollenverteilung nimmt der Souverän vor. Das Recht, Kompetenzen zuzuweisen, ist das Zentrum der Souveränität. Es gibt keine gottgegebene oder prästabilisierte Ordnung, die diese Rollenteilung vorschreibt. Die Aufteilung der Rollen ist in einer Demokratie immer zu diskutieren und hat sich auch laufend verändert. So wurden z. B. die Geschworenengerichte eingeführt, um die Justiz, die vormals Dienerin absolutistischer und feudalistischer Machtabsicherung war, besser kontrollieren zu können und in den Dienst der Mehrheit zu stellen. Es hat sich erwiesen, dass Geschworenengerichte nicht optimal sind, und sie wurden vielerorts wieder abgeschafft. Die Justiz, die Parlamente, die Regierung und die Gewaltenteilung haben im Dienst der Gesellschaft zu stehen. Wenn Mehrheiten mit spezifischen Ergebnissen bei der vorgenommenen Kompetenzzuordnung nicht zufrieden sind, haben sie das Recht, für ein bessere Erfüllung ihrer Wünsche und Bedürfnisse zu sorgen. Das hat mit Streben nach Allmacht nichts zu tun.
Die Gewaltenteilung ist notgedrungen und glücklicherweise nicht absolut. Richter müssen gewählt werden, sie fallen ja nicht vom Himmel – oder man würde für ein System der Kooptation eintreten (Anmerkung: Gremien erneuern sich durch Kooptation, wenn sie selber die neuen Mitglieder wählen). Eine Entfremdung von Gerichten und Gesellschaft wäre vorprogrammiert. Da die Rechtsprechung im Dienste der Bewohnerinnen und Bewohner eines Staates zu erfolgen hat, ist es gut, wenn die Gewaltentrennung nicht zu absolut ist. Andererseits ist die Gewaltentrennung ein Mittel, um die Bevölkerung vor staatlicher Willkür zu schützen und wird als solches auch vom „Volk“ akzeptiert. Gut ausgebildete Richter und die Tradition der unabhängigen Rechtsprechung sind wichtige Säulen des Rechtsstaates und der Demokratie. Wird die Rechtsprechung auf einem Gebiet kritisiert (z.B. Urteile bezüglich Rasern bevor die Gesetzgebung verschärft wurde), stellt das keinesfalls das Prinzip der Gewaltenteilung und der professionellen Rechtsprechung in Frage.
Mangel an Verhältnismässigkeit
Manche Politiker und Juristen werfen einigen erfolgreichen Initiativen der letzten Jahre Mangel an Verhältnismässigkeit vor. Sie möchten Volksinitiativen bei mangelnder Verhältnismässigkeit für ungültig erklären. Es geht hier nicht um eine Diskussion, ob das Verhältnismässigkeitsprinzip durch diese Initiativen verletzt wurde oder nicht. Tatsache aber ist, dass über Verhältnismässigkeit mit Fug und Recht gestritten werden kann und dass es keine exakte Definition von Verhältnismässigkeit gibt. Was einer Person verhältnismässig erscheint, schiesst für eine andere Person weit übers Ziel. Will man mittels des Prinzips Volksrechte einschränken, so massen sich manche Personen an, über ein Prinzip und dessen Anwendung zu bestimmen, um die Mehrheit davon auszuschliessen.
Verhältnismässigkeit ist zweifellos ein wichtiges Prinzip und es ist richtig, dass bei der Anwendung von Gesetzen Richter das Prinzip berücksichtigen. Aber auch hier hat die Justiz im Dienste des „Volkes“ zu stehen, und wenn das „Volk“ mit gewissen Gerichtspraxen nicht einverstanden ist, ist nicht einzusehen, wieso Minderheiten es an Änderungen hindern sollten. Änderungen können natürlich weiterhin kritisiert werden und in einer Demokratie kann man auf Entscheide zurückkommen.
Betroffenheit und Mitwirkungsrecht
Die Volkssouveränität in der Schweiz wird auch mit dem Argument angegriffen, nicht alle die durch bestimmte Entscheide betroffen sind, könnten mitbestimmen. Dies ist allerdings nicht ein Argument gegen die Abstimmungsdemokratie, sondern für eine Ausweitung der Stimmberechtigung auf weitere Bevölkerungskreise. Entsprechendes Engagement scheint allerdings kleiner zu sein als der Einsatz für die Infragestellung der direkten Demokratie. Bei der Forderung nach einem möglichst breiten Einbezug aller Betroffenen sind allerdings zwei Einschränkungen zu beachten: (1) Zu fordern, dass alle über alles, was sie irgendwie betrifft, abstimmen können, würde einerseits zu weltweiten Abstimmungen und andererseits zu jeweils wechselnden Kreisen von Abstimmungsberechtigten führen. Mal würden die Bevölkerungen um das Mittelmehr herum über etwas abstimmen, mal die Bewohner der EU und der USA, und dann wieder die Bewohner der USA und der Karibik – ein unrealistisches Vorhaben. Mitbestimmung muss konkret in Gebietskörperschaften organisiert sein und Betroffenheit allein kann praktisch gesehen nicht in jedem Fall ein Mitbestimmungsrecht rechtfertigen oder demokratische Entscheidungen in Frage stellen. (2) Kriterien der Stimmberechtigung sind so oder so nötig. Es würde ja nicht angehen, dass jeder Tourist, der sich zufällig in einem Land befindet, wählen und abstimmen könnte.
Menschenrechte nicht gegeneinander ausspielen!
Es geht hier nicht darum, die Menschenrechte zu relativieren oder diese in Frage zu stellen. Alle Menschenrechte sind einzufordern und es geht nicht an, diese gegeneinander auszuspielen. Die gleichberechtigte Teilnahme an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen ist ein unveräusserliches Grundrecht genau so wie z. B. das Recht auf freie Meinungsäusserung oder auf eine minimale materielle Absicherung. Grundrechte können mit anderen Grundrechten in Konflikt treten. Werden Grundrechte gegeneinander ausgespielt, so bleiben letztlich alle auf der Strecke. Wie widerstreitende Grundrechte auszugleichen sind, ist selber Gegenstand der Debatte und niemand hat das Recht, entsprechende Entscheidungen an sich reissen zu wollen. Man sollte sich für die ungeteilten Menschenrechte einsetzen und es ist verlorene Zeit, manche der Menschrechte durch „Eliten“ absichern zu wollen. In der Zeit, in der man für Rechte der „Eliten“ kämpft, hat man es verpasst, sich für Menschenrechte einzusetzen. Vor allem in einer Direkten Demokratie ist es taktischer Unsinn, dem „Volk“ mitzuteilen, dass man es für tendenziell menschenrechtsfeindlich halte und man deshalb seine Souveränität in Schranken weisen müsse.
Es gibt keine Institutionen, die Menschenrechte absolut gegen alle Wirrungen der Geschichte absichern können. Nur wenn die Menschenrechte in der politischen Kultur eine Landes möglichst breit abgestützt sind, bei möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern, bei Parteien, in den Verwaltungen, in den Gerichten, in der Polizei und in der Armee – werden sie in der Realität auch beachtet. Das starke Bundesgericht der USA hat die Folterkommandos der CIA z. B. nicht verhindern können. Es bringt entsprechend nichts, die Verteidigung der Menschenrechten an irgendwelche „aufgeklärte“ Gremien delegieren zu wollen. Diese haben ihre Rolle zu spielen, sie werden die Aufgabe der Verteidigung und Ausbreitung der Menschenrechte aber nicht für uns übernehmen.
Zusätzliche Absicherung von Grundrechten
Menschenrechte können demokratisch zusätzlich abgesichert werden, wenn dies die Mehrheit wünscht. So könnte man gewisse Rechte in der Verfassung z. B. stärker schützen, indem man festhält, dass Volksinitiativen, die diesen widersprechen, nur umgesetzt werden können, wenn das entsprechende, besonders geschützte Rechte vorgängig in einer Volksabstimmung ausser kraft gesetzt wird. Entsprechenden Volksinitiativen müssten dann eine vierfache Hürde überspringen (zweimal ein doppeltes Mehr). Eine solche Absicherung müsste allerdings in die Verfassung aufgenommen werden und es müsste klar geregelt sein, wer die Unvereinbarkeit feststellt. Eine zusätzliche Absicherung von Grundrechten mittels eines stillen Staatstreichs via Parlament oder Gerichte ist rechtsstaatlich und souveränitätstheoretisch nicht akzeptabel.
Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) samt dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte können als eine solche zusätzlich Absicherung betrachtet werden. Zwar wurde die EMRK nicht auf dem Hintergrund einer Volksabstimmung unterzeichnet. Solange rechtlich eine Kündigung möglich ist, bleibt die Volkssouveränität aber gewahrt. Die SVP verlangt eine wörtliche Umsetzung ihrer Initiativen, hilft aber tatkräftig mit, ihr nicht genehme Initiativen bis zur Verfassungswidrigkeit zu verwässern und umzukrempeln (z. B. Zweitwohnungsinitiative). Die allzugrosse Freiheit des Parlamentes bei der Umsetzung von Initiativen stellt zweifellos ein rechtsstaatliches Problem dar, das diskutiert werden muss. Für eine befriedigende Lösung dieses Problems wären auch Lösungen bezüglich Initiativen, die teilweise der Rechtsprechung der Europäischen Menschrechtshofes widersprechen, zu finden. Es ist zweifellos unbefriedigend, wenn solche Initiativen im Nachhinein einfach uminterpretiert werden. Man könnte z. B. mittels Volksabstimmung den Vorrang der EMRK in der Verfassung verankern. Eine solche Verankerung könnte mittels Abstimmung wieder aufgehoben werden. Eine allgemeiner Vorrang des nicht-menschrechtlich relevanten Völkerrechts und völkerrechtlicher Verträge (z. B. Freihandelsabkommen) ist allerdings abzulehnen.
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