Obwohl wir in der letzten Nummer des EUROPA-MAGAZINs bereits die Thematik "EU und direkte Demokratie" eingehend behandelten, lohnt es sich darauf zurückzukommen, da seither in der Presse eine Untersuchung von Herr Professor Schindler besprochen wurde, die vom Integrationsbüro in Auftrag gegeben worden war. Oft wurde aus dieser Untersuchung geschlossen, dass die demokratiepolitischen Auswirkungen einer EU-Mitgliedschaft geringer seien, als dies im allgemeinen angenommen werde. Ein solcher Schluss aus der Schindler-Studie würde jedoch methodisch fragwürdig sein.
von Paul Ruppen
Professor Schindler analysierte die in den letzten fünf Jahren dem obligatorischen sowie dem fakultativen Referendum unterstellten Vorlagen und die in diesem Zeitraum zur Abstimmung gelangten Volksinitiativen. Er kommt dabei zum Befund, dass 60% der Bundes- und 90 % der kantonalen Vorlagen vom EU-Recht nicht berührt gewesen wären. Von den 243 zwischen 1990 und 1994 auf Bundesebene dem fakultativen Referendum unterstellten Erlassen wurden 26 (10,7%) vollständig, 64 (26,3%) teilweise und 153 (63%) nicht vom EU-Recht erfasst. Von den 40 zwischen 1990 und 1994 im Bund dem obligatorischen Referendum unterstellten Erlasse und Volksinitiativen wurden vom EU-Recht 3 (7,5%) vollständig, 14 (35%) teilweise und 23 (57,7%) nicht vom EU-Recht erfasst. Auf kantonaler Ebene wurde der Kanton Zürich untersucht: Von den 73 zwischen 1990 und 1994 im Kanton Zürich der Volksabstimmung unterstellten Erlasse und Volksinitiativen wurden eine (1,36%) vollumfänglich, 6 (8,2%) teilweise und 66 (90%) nicht vom EU-Recht erfasst.
Aus diesen Zahlen darf allerdings nicht der Schluss gezogen werden, die Einschränkung der Volksrechte durch einen EU-Beitritt "seien geringer, als im allgemeinen angenommen wird "(NZZ, 11.10.95). So macht es etwa wenig Sinn, Vorlagen zu zählen, ohne das Gewicht dieser Vorlagen zu bestimmen. Darauf weist zwar auch Herr Schindler hin - ohne sich jedoch von der Behauptung abbringen zu lassen, die Auswirkungen einer EU-Mitgliedschaft auf die direkte Demokratie seien geringer sind, als meist angenommen (S. 4, CH-Euro, 1995/IV). Das Gewicht von Vorlagen kann allerdings nicht allgemeingültig bestimmt werden, da je nach Interessen und Werten die einzelnen Bürgerinnen und Bürger diese unterschiedliche gewichten werden.
Zudem wird durch die Zahlen von Herrn Schindler keineswegs der Kompetenzverlust des Volkes im Falle eines EU-Beitritts ausgedrückt. In den letzten 5 Jahren wurden ja nicht alle Belange diskutiert, die der Volksabstimmung unterliegen könnten. Bei der Beitrittsdiskussion ist der gesamte Kompetenzverlust von Bedeutung, nicht die Anzahl der Vorlagen, die in den letzten 5 Jahren zufälligerweise von der EU-Gesetzgebung betroffen gewesen wären. Somit dürfte der von Schindler aufgezeigte Demokratieverlust nur die sprichwörtliche Spitze des Eisberges ausmachen. Zusammenfassend kann bemerkt werden, dass Herr Schindlers Vorgehen methodisch unsorgfältig ist. Eine Studie, die den Kompetenzverlust durch den EU-Beitritt seriös abklärt, gibt es leider in der Schweiz immer noch nicht. Eine solche müsste Demokratieverlust nicht zu messen versuchen, sondern an konkreten Beispielen umfassend und bereichsweise zeigen, welche Entscheidungen nach einem Beitritt noch möglich sind und welche nicht.
Konkrete Beispiele
Vom EU-Recht vollumfäglich erfasst und daher keine Volksabstimmung mehr möglich: Volksinitiative "für ein naturnahes Bauern - gegen Tierfabriken, Kleinbauern-Initiative" (4.6.89); Revision von Art. 23bis Abs. 2 und 4 (Aufhebung der Verbilligung von inländischen Brotgetreide aus Zolleinnahmen)(25.9.94); neuer Verfassungsartikel über die Landwirtschaft (Art. 31bis Abs.3 BV) (12.3.1995); Bundesbeschluss über die inländische Zuckerwirtschaft (Zuckerbeschluss); Bundesbeschluss über den Rebbau (1.4.90); Zolltarifgesetz; Milchbeschluss; Milchwirtschaftsbeschluss (12.3.95); Landwirtschaftsgesetz (12.3.95).
Vom EU-Recht teilweise erfasst und somit nur teilweise der Volksabstimmung unterbreitbar:
Bundesbeschluss über die Finanzordnung (Art. 41bis BV) (Mehrwertsteuer) (28.11.93); neuer Art. 36quater BV (Einführung einer leistungs- und verbrauchsabhängigen Schwerverkehrsabgabe)(20.2.94); neuer Art. 36quinquis BV (Autobahnvignette) (20.2.95); neuer Art. 17 Abs. 5 und Art. 21 der Uebergangsbestimmungen der BV (Weiterführung der Schwerverkehrsabgabe) (20.2.95); Alpeninitiative (Art. 36sexies BV) (20.2.95): Arbeitslosenversicherungsgesetz; Bundesbeschluss über Massnahmen zur Entlastung der Exportrisikogarantie; Bundesgesetz über die wirtschaftliche Landesversorgung; die 27 "Swisslex"-Erlasse.
Eine aufmerksame Lektüre dieses Katalogs wirft ein erhellendes Licht auf die Glaubwürdigkeit von SP-Agrarpolitikern und grünen EU-Beitrittsbefürwortern.
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