Übersicht Dossiers Themenfokus Demokratie Grundrechte sind demokratisch legitimiert und nicht Ausdruck „fremden Rechts“Nicht erst der Abstimmungserfolg der Minarettinitiative hat neue Fragen des Grundrechtsschutzes aufgeworfen. Sind die verfassungsmässig verbrieften Grundrechte abänder- oder mindestens modifizierbar? Sind sie durch das Völkerrecht absolut geschützt? Wird das Minarettverbot mithin überhaupt je Rechtswirklichkeit erlangen?
Von Daniel Vischer, Nationalrat der Grünen Partei der Schweiz
Die Gemüter sind erhitzt. Nicht nur die SVP fürchtet die Aushöhlung der Referendumsdemokratie und des Initiativrechtes, wird die Minarett-Initiative nicht wortgetreu umgesetzt. Ähnliche Fragen stellten sich bereits bei der Verwahrungsinitiative wie bei der Initiative betreffend die Unverjährbarkeit von Sexualstraftaten.
Schon bei der Verwahrungsinitiative offenbarte sich die Diskrepanz zwischen den verfassungsmässigen Gültigkeitsvoraussetzungen einer Initiative und deren materiellen Umsetzbarkeit im Falle derer Annahme. Die Bundesversammlung erklärte die Verwahrungsinitiative vor der Abstimmung für gültig. Indessen anerkannte der damals zuständige Bundesrat Blocher nach deren letztlich überraschenden Abstimmungserfolges, dass die Initiative im Wortlaut nicht umgesetzt werden kann, da sie einer zentralen Bestimmung der EMRK widersprach, wonach die Rechtsmässigkeit der Fortdauer der Haft jederzeit muss überprüft werden können, was die Initiative gerade ausschliessen wollte. Entsprechend verabschiedete die Bundesversammlung auch unter Zustimmung der SVP ein Ausführungsgesetz, das die Initiative in einem wesentlichen Punkt modifizierte. Die Initianten erklärten sich mit der nachmals gefundenen „Lösung“, deren Menschenrechtskonformität ihrerseits keineswegs als unumstritten angesehen werden kann, erst nach einem langen hin und her zufrieden, nachdem sich als Alternative abgezeichnet hatte, dass überhaupt kein Ausführungsgesetz erlassen werde. Die Crux bei dieser Ausführungsgesetzgebung lag fraglos darin, dass es sich als unmöglich erwies, eine Lösung zu finden, die sowohl dem Wortlaut der Volksinitiative entsprach als auch EMRK-konform ausgestaltbar war. Die nun mehr zu führende Auseinandersetzung um die Minarettinitiative kennt also eine Vorgeschichte, bei der die Fronten nicht unbedingt gleich verliefen.
Bereits der Bundesrat hat in seiner Botschaft, in welcher er für die Gültigkeit der Minarett-Initiative eintrat, festgestellt, sie sei mit der Religionsfreiheit und dem Diskriminierungsverbot nicht vereinbar. Gültig erklärt wurde sie in der Folge dann auch von der Bundesversammlung, weil sie kein zwingendes Völkerrecht verletzt. Der Begriff des zwingenden Völkerrechtes wird dabei eng ausgelegt: Darunter fallen nur Normen wie das Folterverbot und als Anknüpfungspunkt nur völkerrechtliche Bestimmungen, die unkündbar sind. Für die Menschenrechte der EMRK trifft nach herrschender Rechtslehre beides nicht zu.
Zwischen der Verwahrungs- und der Minarettinitiative besteht insofern ein Unterschied, als es sich bei der Religionsfreiheit und dem Diskriminierungsverbot um Grundrechte handelt, die auch den Kernbereich unserer Verfassung ausmachen, derweil das Recht auf jederzeitige richterliche Überprüfung der Haft nur durch die EMRK garantiert wird. Damit stellt sich aber bei der Minarett-Initiative auch eine zusätzliche Frage: braucht es überhaupt den Umweg über das Völkerrecht, um die Initiative als für nicht anwendbar zu erklären. Es gibt Stimmen, die dies verneinen, welchen sich der Autor anschliesst.
Zwar kennt unsere Verfassung dem Prinzipe nach keine unabänderlichen Grundrechtsbestimmungen. Unsere Verfassung gilt als offene Verfassung, die jederzeit auf Initiative der Bundesversammlung oder durch eine Volksinitiative geändert werden kann, wenn Volk und Stände kumuliert der Änderung zustimmen. Ob dies allerdings tatsächlich absolut gilt, würde ich einmal offenlassen, jedenfalls für den Fall, bei welchem die beiden zentralen Rechtsstaatsprinzipien der Rechtsgleichheit und der persönlichen Freiheit tangiert sind. Umstritten ist nun die Frage, ob die Regel von der lex posterior, vom Vorrang des späteren Gesetzes vor dem früheren, zur Anwendung gelangt. Dem widerspricht die in Rechtssprechung und Lehre erhärtete Regel, wonach alles Verfassungsrecht grundsätzlich gleichwertig ist. Entsprechend wird auch von „Einerlei Verfassungsrecht“ gesprochen (Jörg Paul Müller: „Wie wird sich das Bundesgericht mit dem Minarettverbot der BV auseinandersetzen?“, Jusletter, 1. März 2010). Demnach müssen die einzelnen Bestimmungen der Verfassung eine Auslegung finden, die eine gegenseitige Ausschliessung verhindert und angestammtes Verfassungsrecht, namentlich Grundrechte, nicht bedeutungslos erscheinen lassen. Das Verbot darf entsprechend nur soweit zur Anwendung gelangen, dass von der Religionsfreiheit – wie auch vom Diskriminierungsverbot – soviel wie möglich übrig bleibt, ihm aber dennoch sinngemässe Nachachtung verschafft wird. „Das Bundesgericht müsste in diesem Sinne das Minarettverbot so auslegen, dass der Eingriff in die Religionsfreiheit verhältnismässig bleibt: Ein Minarett, das schlicht auf den Zweck zugeschnitten ist, den Kultusort der Muslime auch gegen aussen sichtbar zu machen, ohne mit unnötiger Theatralik oder einfach Grösse in unangemessener Weise Aufmerksamkeit zu erheischen, müsste toleriert werden“ (ebda. Rz 7).
Eine solche Lösung erwiese sich als höchst elegant, weil sie zwei Hauptgegenargumente unterliefe: dem Argument der Anwendung “fremden Rechtes“ – das nicht haltbar ist, aber verfängt – und dem des „fremden Richters“. Dieses kämen dann zum Zuge, wenn das Bundesgericht auch unter Anwendung des Völkerrechtes – EMRK 9 – die Ablehnung eines Baugesuches nicht sanktioniert. Sie führte die heutige Debatte um den Vorrang des Völkerrechts auf den wirklichen Kern dessen zurück, worum es letztlich geht, nämlich den Grundrechtschutz. Mit wenigen Ausnahmen des weiter gehenden Verfahrensschutzes der EMRK, wie er etwa wie vorstehend ausgeführt im Zusammenhang mit der Verwahrungsinitiative eine Rolle spielte, ist der Grundrechtschutz in unserer Bundesverfassung und im massgeblichen Völkerrecht weitgehend identisch. Völkerrecht muss vor allem deshalb angewandt werden, weil die Bundesverfassung dem Bundesgericht die verfassungsmässige Normenkontrolle auch im Einzelanwendungsfall weitgehend untersagt. Wenn aber das Bundesgericht im Sinne der hier aufgezeichneten „integralen Verfassungsauslegung“ das Minarettverbot einschränkte, würde das durch die gleiche Art des Prozedere der Verfassungsänderung durch das Volk erlassene Verfassungsrecht – nota bene einer Totalrevision – wie der neue Artikel 72 Abs. 3 geschützt. Es steht Demokratie gegen Demokratie, denn ein einzelner neuer Artikel kann nicht einfach die bisher – vor allem auch gelebte – Grundrechtsordnung umstossen. Es kann demnach keine Rede davon sein, jene, die sich auf den vorrangigen Grundrechtsschutz beriefen, handelten antidemokratisch, wenn sie die absolute Geltung des Minarettverbots rechtlich, also in Anwendung und Auslegung der bisherigen Verfassung – und des Völkerrechtes – in Frage stellen.
Aber auch der Vorwurf, mit dem Völkerrecht werde fremdes Recht angewandt, entbehrt der Richtigkeit. Das Völkerrecht ist nach unserer staatlichen Ordnung schweizerisches Recht und wurde auf dem von der Verfassung dafür vorgesehenen Weg genehmigt, in wenigen Fällen unter Beachtung des obligatorischen Referendums (BV 140 1b) – z.B. UNO Beitritt - , in allen übrigen wichtigen Fällen unter Beachtung des fakultativen Referendums, das in der Vergangenheit indes praktisch nie ergriffen worden war (BV 141 1d). Wobei klar gestellt werden muss: Es geht dabei nicht um die Anwendung irgendwelcher technischer Bestimmungen, die im Rahmen von bilateralen oder multilateralen Verträgen ausgehandelt und innerstaatlich im dafür vorgesehenen Prozedere ins schweizerische Recht überführt worden sind, sondern wie bereits ausgeführt, um den elementaren Schutz der Grund- und Verfahrensrechte, die Menschenrechte also. Das Völkerrecht wurde der Schweiz mithin nicht aufoktroyiert, sie war vielmehr frei, es nicht zu übernehmen und hat es in einem demokratischen, das Referendumsrecht beachtenden Verfahren getan. Dies schichtweg, weil es ausschliesslich Grundsätze enthält, die unserem eigenen Rechtsstaatsverhältnis entsprechen.
Der Schutz der Menschenrechte durch den europäischen Gerichtshof als letzte Instanz kann eben so wenig als „Eingriff fremder Richter“ in unsere innerstaatlichen Verhältnisse angesehen werden. Auch dies entspricht unserer innerstaatlichen Ordnung und wurde durch die Annahme der EMRK sanktioniert. Anders wäre es, wenn Strassburg ohne unseren Willen in unsere Rechtsordnung eingreifen würde. Solche Konstellationen ergeben sich teilweise im Rahmen der internationalen Strafgerichtsbarkeit, die zuweilen durchaus den Charakter einer Siegerjustiz trägt, worüber es aber leider bislang keinen vertieften Diskurs gibt.
Gehen wir zum Anfang zurück: es ist unschwer auszumachen, dass sich im Diskurs nach Annahme der Minarettinitiative zwei Grundauffassungen gegenüber stehen. Für die einen geht die Demokratie immer vor, unabhängig davon, was auf dem Spiele steht: wenn das Volk gesprochen hat, hat es gesprochen - was im übrigen im Verhältnis von Bund und Kantonen oder Kantonen und Gemeinden unbeanstandet so nie gilt. Für die anderen wird die Demokratie durch den als Kerngehalt unseres Staates angesehenen Grundrechtsschutzes eingeschränkt. Letztlich stehen sich damit aber auch zwei demokratische Grundauffassungen entgegen: „die Mehrheit hat immer Recht“ gegen „keine ‚Diktatur‘ der Mehrheit über eine Minderheit, keine ‚Diktatur’ einer Minderheit über die Mehrheit“.
Fraglos ist das schweizerische Initiativ- und Referendumsrecht in der ersten Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 als Minderheitenschutz – der konservativen Minderheit gegen die freisinnige Vorherrschaft – aufgenommen worden. Und diese Tradition lebt fort, vor allem nachdem über eine neue Belebung des Initiativrechtes durch die Neue Linke und Teile der SP ab den späten sechziger Jahren – vorher schon durch den Landesring und Frauenorganisationen – die Volksrechte einen neuen Schwung erhielten. Dabei ging es um Demokratieausweitung, soziale Verbesserungen, Bedrohung durch Atomkraftwerke, elementare Rechte der Frau - vom Stimmrecht bis zur Fristenlösung. Es stand dabei also nie eine Einschränkung der Rechte einer Minderheit zur Debatte. Darauf zielten indes die ebenfalls Ende 60er /Anfang 70er Jahre lancierten Überfremdungsinitiativen von Schwarzenbach und Oehen, die jene, die wir zur Aktivierung unserer Wirtschaft geholt hatten, wieder heim schicken wollten. Es war durchaus der Versuch, über einen Mehrheitsentscheid einer Minderheit das Verlassen des Landes aufzuzwingen und dabei erworbene Rechte abzuerkennen.
An dieses Verständnis knüpft auch die Minarettinitiative an. Sie will der Minderheit der hier ansässigen Muslime das Minarett, für einige von ihnen unersetzlicher Ausdruck ihrer Religionsausübung, vorenthalten, letztlich mit dem Argument, es gehöre nicht in eine mehrheitlich abendländisch jüdisch-christliche Gesellschaft. Ich verzichte hier auf die Beantwortung der Frage, ob es beim Entscheid über das Minarett tatsächlich um das Minarett ging, oder ob letztlich das Minarett ganz einfach zum Symbol einer Grundstimmung gegen den Islam wurde.
Mit der gegen eine Minderheit gerichteten Grundannahme, die Demokratie gehe immer vor, wird das Referendumsrecht zum Plebiszit der Stärkeren. Verwirklicht wird – ich vermute ungewollt und in Unkenntnis davon - die Carl Schmitt’sche Apotheose „souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt“. Denn souverän ist in einer Referendumsdemokratie wie der schweizerischen in gewissen Augenblicken – es gibt auch das bundesrätliche Notrecht, das im zweiten Weltkrieg und jüngst beim UBS-Kredit eine penible Rolle spielte - sehr wohl das Volk (s. dazu auch Jakob Taubes, „ad Carl Schmitt“, Merve Verlag um die Dimension dieses Diskurses zu erfassen). Und genau hier muss über die vorstehend vorgezeichnete Verfassungsauslegung und wenn nötig den Grundrechtsschutz des Völkerrechtes eine Korrektur eingebaut werden.
Gewiss muss dies schonend geschehen, in Respekt vor einem Volksentscheid, als ultima ratio. Aus dieser Warte war es gewiss nicht der Weisheit letzter Schluss, gleich am Abstimmungsabend der Minarettinitiative die direkte Normenüberprüfung durch den europäischen Gerichtshof anzukündigen, wenn auch materiell fraglos berechtigt. Ohnehin könnte sich der Weg der Einzelfallüberprüfung als der sinnvollere erweisen – angebahnt sind nun beide.
Fast macht es den Eindruck, als stünden sich bei dieser Auseinandersetzung EU Beitrittsbefürworter und –Gegner gegenüber. Das indes ist ein Trugschluss. Mit der Frage des EU-Beitrittes hat diese Debatte rein gar nichts zu tun, sie findet auf verschiedenen Ebenen in vielen EU Ländern sinngemäss gleich statt. Hingegen ist wahr, dass mit einem EU Beitritt das Initiativ- und Referendumsrecht gehörig eingeschränkt würde. Aber genau dieses Missverständnis ist zu widerlegen: wer den Grundrechtschutz auch gegenüber Volksentscheiden hochhält, stärkt das Initiativrecht - als ein wesentliches Gestaltungsrecht, das der Vielfalt unseres Landes gerecht wird.
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