Übersicht    Dossiers Themenfokus    Demokratie  

Nach Stichwort suchen:

Schabernak mit Demokratieindizes

Im Januar 2011 geisterte die Meldung durch die Medien, gemäss einem an der Universität Zürich und dem Wissenschaftszentrum Berlin (WZB Berlin) entwickelten Demokratiebarometer wäre die Schweiz nur Mittemass in Sachen Demokratie. Die Tagesschau des Schweizer Fernsehens schlachtete die Angelegenheit weidlich aus (Fussnote: SF, Donnerstag, 27. Januar 2011, 14:24 Uhr, Aktualisiert 20:41 Uhr, http://www.tagesschau.sf.tv/Nachrichten/Archiv/2011/01/27/Schweiz/Schweizer-Demokratie-nur-graues-Mittelmass). Das eidgenössische Selbstverständnis, ein Hort der Demokratie zu sein, habe laut der Studie einen herben Dämpfer erfahren und würde zu mehr als ein paar Kratzern am Selbstverständnis der Schweiz sorgen. Denn gemäss dem Demokratiebarometer läge die Scheiz im Vergleich zu 29 anderen Demokratien lediglich auf Rang 14. EU-Mitgliedländer wie Dänemark, Finnland und Belgien würden im Gegensatz zur Schweiz höchste Demokratiequalität aufweisen. Auf Methodenkenntnis gegründete kritische Distanz zu diesen Ergebnissenliess liess SF Schweiz völlig vermissen.

Redaktion

Vielfalt von Indizes

Von verschiedenen Gremien werden unterschiedlichliche Demokratieindizes publiziert. Die zu 2/3 von der US-Regierung finanzierte Organisation Freedom House erstellt einen jährlichen Bericht, "Freedom in the World", in dem sie den Grad an Demokratie und Freiheit in Ländern auf der ganzen Welt bewertet (http://www.freedomhouse.org/template.cfm?page=505). Weiterhin gibt es den Polity IV-Index, finanziert durch die US-amerikanische Political Instability Task Force (PITF), die ihrerseits durch die CIA finanziert wird (http://www.systemicpeace.org/polity/polity4.htm). Ein weiterer Index wird von der britischen Wirtschaftszeitung The Economist publiziert (http://graphics.eiu.com/PDF/Democracy_Index_2010_web.pdf). Diese und weitere Demokratieindizes zeichnen sich dadurch aus, dass sie zu unterschiedlichen Resultaten führen. Die Korrelation zwischen den verschiedenen Indizes ist denn auch nicht besonders hoch (fussnote: Coppedge, M., Gerring, J. (2011), Conceptualiszing and Measuring Democracy: A New Approach). Diese Messunterschiede sind in grundlegenden methodischen Mängeln begründet, die dem Versuch, Demokratie zu messen, wesentlich sind. Diese methodischen Probleme sind vielschichtig und unüberwindabr.

Versteckte Wertungen

Es gibt unterschiedliche Vorstellungen davon, worin Demokratie besteht. (1) Demokratie besteht in der Umsetzung des Mehrheitswillens. (2) Demokratie ist Kontrolle der Regierung durch die Bevölkerung (Abwählbarkeit der Regierung). (3) Demokratie liegt vor, wenn es freie Wahlen gibt. (4) Demokratie besteht in bürgerlichen Freiheiten, Rechtsstatlichkeit und Minderheitsrechten. (5) Demokratie liegt vor, wenn es verbindliche Volksabstimmungen gibt, welche vom Volk ausgelöst werden können. (6) Demokratie liegt vor, wenn durch einen freien und intensiven Meinungsbildungsprozess nachvollziehbare Entscheidungen erreicht werden. (7) Demokratie liegt vor, wenn alle dieselben Mittel haben, den Entscheidungsprozess zu beeinflussen (gleiche Mittel schliessen auch materielle Mittel, Ausbildung oder z.B. Gesundheit mit ein).( Demokratie besteht darin, dass alle, die durch eine Entscheidung betroffen sind, gleichberechtigt an dieser beteiligt sind. Dies eine nicht vollständige Aufzählung.

Wer z.B. die Abwählbarkeit der Landesregierung als wesentliches Demokratieelement betrachtet, wird die Schweiz als sehr mangelhafte Demokratie bezeichnen, wer hingegen verbindliche Volksabstimmungen, die von der stimmberechtigten Bevölkerung initiiert werden können, als zentral ansieht, wird die Schweiz einen Spitzenplatz zugestehen. Im letzten Fall wird man vermutlich die Abwählbarkeit der Regierung sogar als völlig unwesentlich betrachten: die stimmberechtigte Bevölkerung könnte das Regierungssystem ja jederzeit ändern. Da keine Änderungsversuche unternommen werden oder diese abgelehnt werden, ist die Regierungsform durch die Mehrheit akzeptiert und somit demokratisch legitimiert.

Alle obigen Apekte haben etwas mit Demokratie zu tun. Demokratie sollte etwa nicht nur abstrakt, sondern auch im realen Leben bestehen und da spielen faktische Einflussmöglichkeiten eine Rolle. Selbst wenn man alle Faktoren als bedeutsam ansieht, um eine Gewichtung dieser Faktoren wird man nicht umhin kommen (Fussnote: Die Gewichtung müsste zudem je nach politischem System erfolgen. In einer direkten Demokratie ist die von Mehrheiten akzeptierte Nichtabwählbarkeit der Regierung wohl weniger relevant als in Systemen, wo die Mehrheit diese Regierungsform nicht explizit verteidigt hat). Diese Gewichtungen, die von eigenen Werten abhängen, können allerdings nicht objektiv begründet werden. Sie sind und bleiben willkürlich. Entsprechend weisen Demokratieindizes keine Intersubjektivität und damit keine Objektivität auf. Bei der „methodischen Diskussion des Demokratiebarometers“ (Fussnote: Democracy Barometer, METHODOLOGY, Blueprint Sample, Data for 30 countries from 1995 to 2005, Version 1, January, 2011, http://www.democracybarometer.org/baroapp/public/static/documentation) werden denn auch jeweils undiskutiert Ausdrücke wie „Best Practice“ verwendet, womit die Werthaltigkeit des Vorgehens eigentlich offenkundig sein sollte.

Mess- und Gewichtungsprobleme

Das Demokratiebarometer legt zuerst sogeannnte Indikatoren fest. Es werden 100 solcher Indikatoren ausgewählt – ein wesentliches Kriterium bei der Wahl der Indikatoren scheint dabei die Verfügbarkeit von statistischen Daten zu sein. Bei der Bildung der Indikatoren stellt sich das Problem, dass viele dieser Indikatoren nicht in metrischen Skalen bestehen. Trotzdem werden diese von den Autoren des Demokratiebarometers munter addiert, um daraus 51 sogenannte Subkomponenten zu bilden. Bei der Bildung der Subkomponenten werden die verschiedenen Indikatoren nicht gewichtet. Der Umstand, dass es in einen Land verbindliche direkte Demokratie gibt wird damit z.B. gleich gewichtet wie die Anzahl Parlamentssitze pro Kopf der stimmberechtigten Bevölkerung!

Aus den Subkomponenten werden von den Autoren 18 Komponenten gebildet. Dazu lassen sie sich durch die Idee leiten, dass eine Demokratie höher entwickelt sei, wenn sich die verschiedenen Komponenten hoch und zudem ungefähr gleich hoch entwickelt sind. Um diese Idee umzusetzen, verwenden Sie die arctans-Funktion (strikt monoton steigende Funktion, die durch den Nullpunkt verläuft, bezüglich dem Nullpunkt punktsymmetrisch ist und die Funktionswerte zwischen -π/2 und π/2 annimmt). Ob die Wahl der Funktion inhaltlich sonst sinnvoll ist, wird nicht weiter diskutiert. Die Komponenten ihrerseits werden dann mit dem selben Verfahren in das Demokratiebarometer umgerechnet. In der Messtheorie nennt man Messinstrument valide, die das messen was man messen möchte. So ist die Messung von Intelligenz via Messung der Schuhgrösse (in cm) zwar ziemlich objektiv, aber nicht valide. Es ist offensichtlich, dass das Verfahren des Demokratiebarometers so undurchsichtig ist, so willkürlich und inhaltlich so wenig abgestützt, dass niemand weiss, was hier eigentlich gemessen wird.

Im speziellen gäbe es viel zu diskutieren. So wird der Schweiz „grosser Nachholbedarf“ bei der politischen Partizipation bescheinigt. In die „Partizipation“ fliesst unter anderem die durchschnittliche Stimmbeteiligung bei Wahlen und Abstimmungen. Es ist erstens fragwürdig, ob die faktische Beteiligung ein Gradmesser für Demokratie ist. Abstinenz kann z.B. Zufriedenheit mit dem politischen System ausdrücken. Zudem ist der gewählte Durchschnitt kaum sinnvoll. Man müsste wohl eher die Anzahl der Pro-Kopf-Urnengänge pro Jahr betachten.

Zweck von Demokratiemessung

Die obigen Kritikpunkte werden in der politologischen Fachliteratur durchaus diskutiert und es ist nicht absehbar, dass die aufgeworfenen grundlegenden Probleme lösbar sind. Es stellt sich die Frage, wieso weiterhin solche Indizes produziert werden, obwohl sie bedeutungslos sind. Nun, die Forscher müssen ja auch leben und solange sie Resultate produzieren, die für die „Eliten“ politisch verwertbar sind, lässt man sie wohl gewähren – ohne die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Vorgehens (Fussnote: Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Transparenz der Autoren des Demokratie Barometers vorbildlich ist. Die Berechnungsverfahren werden ausführlich beschrieben. Man kann sogar die Daten herunterladen und damit die Berechnungen selber nachvollziehen). Die politischen Ziele des Demokratiebarometers sind jedenfalls ziemlich eindeutig: EU-Ländern, die 80% der Entscheidungskompetenzen der Kontrolle durch die Bevölkerungen weitgehend entwunden haben, um sie im dunklen EU-Entscheidungstschungel verdunsten zu lassen, werden als Superdemokratien hingestellt.

SF Schweiz schreibt auf dem Internet zum Demokratiebarometer „Das Schlussfazit fällt dann auch alles andere als schmeichelhaft für die Schweiz aus. Vom Ideal einer Demokratie ist das Land laut Barometer «weiter als die meisten anderen Demokratien entfernt»“. Dazu ist zu bemerken, dass dieses Fazit für SF Schweiz nicht schmeichelhaft ist – es lässt jegliche kritische Disatnz zu Resulaten vermissen, die den Redaktoren offenbar in den Kram passen.

Quellen und weitere Literatur:

http://de.wikipedia.org/wiki/Demokratiemessung

http://www.nccr-democracy.uzh.ch/forschung/module5/barometer/demokratiebarometer

http://www.democracybarometer.org/baroapp/public/static/index

http://www.democracybarometer.org/baroapp/public/static/documentation


Weitere Texte zum Themenbereich:

"Direkte Demokratie in Griechenland"
14.10.2013
"L'autodétermination des peuples- quelques thèses"
02.01.1998
"Unsere Volksrechte in Europa"
06.04.2009
100 Jahre direkte Demokratie in den USA
09.09.1999
Braucht Demokratie einen Wächterrat?
05.10.2021
Bürgerräte – ein paar kritische Bemerkungen
05.10.2021
Corona und Demokratie
06.04.2021
Das Marxsche Demokratie-Defizit und der politische Liberalismus
01.01.1998
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die EU
01.04.1997
Das Ukraine-Referendum
17.02.2017
Democracy and Internationalization
03.10.1998
Demokratie in der Europäischen Union: Kritik und Alternativen
08.07.2007
Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte – gegensätzlich oder unentwirrbar verbunden?
13.04.2015
Demokratisierung der internationalen Beziehungen
02.04.1995
Der Kampf der EU gegen nicht-genehme demokratische Ergebnisse
09.11.2020
Die European Referendum Campaign auf Erfolgskurs
10.09.2004
Die Europäische Integration und der Aufstieg der Macht der Multinationalen Unternehmungen
29.10.2001
Die Volksinitiative in Polen
08.07.2007
Direktdemokratische Grossmacht „Europa“ - Alb- oder Wunschtraum?
10.01.2003
Direkte Demokratie - Grundrechte – Menschenrechte - Völkerrecht
13.04.2015
Direkte Demokratie auf allen Ebenen
07.11.2003
Direkte Demokratie im internationalen Kontext
07.05.2012
Direkte Demokratie in den Niederlanden
29.09.2000
Direkte Demokratie in Deutschland
02.04.1995
Direkte Demokratie in Deutschland
24.08.2001
Direkte Demokratie und EU-Beitritt
01.04.1995
Direkte Demokratie, Das ZEIT-Dossier vom 8. April 1998, Nr. 16.
5 Themen
Démocratie directe aux Pays-Bas
15.12.2000
EU und Demokratie
16.04.1995
EU-Beitritt und Gesetzesreferendum
10.12.1998
EU-Mitgliedschaft und direkte Demokratie
01.05.1995
Europa braucht mehr Demokratie
25.02.2013
Europa der Demokratien versus Europa der Nationen
01.04.1997
Europe des démocraties ou Europe des Nations?
01.01.1998
European Unification and the Rise of Corporate Power
29.10.2001
Eurotopia - eine ambivalente Idee
02.03.1996
Full-Service Democracy
31.12.1999
Für ein Europa freier Länder
01.04.1997
Gefahr der Willkür
16.04.1995
Grundrechte sind demokratisch legitimiert und nicht Ausdruck „fremden Rechts“
22.11.2010
Italien - Abstimmungen im Dienste der Parteienwirtschaft
29.12.2001
L'UE et les minorités
12.08.1998
La démocratie directe et l'adhésion à l'UE
02.04.1995
Mehr Demokratie in der EU: Vorschläge für direktdemokratische Instrumente in der EU
10.01.2003
Mehr Volksmitsprache in Finanzfragen
26.04.2002
Minarett-Verbot, Menschenrechte und Demokratie
22.11.2010
Moderne Direkte Demokratie
22.11.2010
Nafta - das Kapitel 11
29.10.2001
NDDIE- europäisches Netzwerk für direkte Demokratie
15.12.2000
Reform der Bundesverfassung
02.02.1996
Schabernak mit Demokratieindizes
07.11.2011
Souveränitätsgewinn durch EU-Beitritt?
26.09.1998
The Economist-Survey of 21.12.1996 about "Direct Democracy (and Switzerland)"
7 Themen
The Netherlands: a century of struggle for democracy
10.09.2000
Thesen zum "Selbstbestimmungsrecht der Völker"
01.04.1997
Totalrevision der Bundesverfassung
31.03.1999
Tschechei – Perspektiven der direkten Demokratie
10.02.2014
Volksinitiative und Referendum in Grossbritannien und Nordirland 2007: Perspektiven und Probleme
08.07.2007
Volkssouveränität und Völkerrecht: Ein Widerspruch?
13.04.2015
Weg mit der direkten Demokratie - Von grüner Macht und Selbstherrlichkeit
05.10.2021
Wege zur Demokratisierung der EU
23.11.2008
Weltstaat – ein einziger Staat für eine vielfältige Welt?
24.08.2019
Wie Bürgerräte und direkte Demokratie sich ergänzen können
05.10.2021
WIE TAIWAN EINES DER WELTWEIT BESTEN GESETZE ZUR DIREKTEN DEMOKRATIE ERHIELT
29.04.2019
Wieviel Volksabstimmung trauen wir uns zu?
22.11.2010
“Direkte Demokratie ist die beste Medizin für unsere Gesellschaft"
10.02.2014
«Die direkte Demokratie macht die Menschen zufriedener»
06.04.2009
Überwindung des „Nationalstaates“
24.08.2019

europa-magazin.ch
Copyright 1996-2024 Forum für direkte Demokratie.
powered by zumbrunn.com, Chris Zumbrunn, Mont-Soleil, Switzerland.