In den nächsten zwei Jahren werden die Weichen für die Weiterentwicklung der Europäischen Union gestellt. Die bisherige Methode der Staats- und Regierungschefs, die Entwicklung der EU in nichtöffentlichen Regierungskonferenzen zu beschliessen, ist an ihre Grenzen gestossen. Mit dem Konvent für die Zukunft Europas, der Anfang März 2002 seine Arbeit aufgenommen hat, besteht nun die Chance, ernst zu machen mit der Demokratisierung der Europäischen Union und u.a. das Thema direkte Demokratie auf die Tagesordnung zu setzen.
Arbeitspapier von Mehr Demokratie, der Bewegung für direkte Demokratie in Deutschland
Der Konvent wurde mit der Erklärung des Europäischen Rates (Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union) von Laeken vom 15.12.2001 eingesetzt. Dem Konvent fällt "die Aufgabe zu, die wesentlichen Fragen zu prüfen, welche die künftige Entwicklung der Union aufwirft, und sich um mögliche Antworten zu bemühen.“ Dieser Auftrag bezieht sich insbesondere auf folgende Punkte:
Eine bessere Verteilung und Abgrenzung der Zuständigkeiten in der Europäischen Union Vereinfachung der Instrumente der Union Mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz in der Europäischen Union Der Weg zu einer Verfassung für die europäischen Bürger 1)
Der Konvent soll ein "Abschlussdokument" erstellen, dass "entweder verschiedene Optionen oder im Falle eines Konsenses Empfehlungen erhalten kann". Die Ergebnisses des Konvents dienen "als Ausgangspunkt für die Arbeiten der künftigen Regierungskonferenz, die die endgültigen Beschlüsse fasst." Diese Regierungskonferenz wird im Jahr 2003 oder 2004 zusammentreten.
Der Vorschlag des Konventes wird eine große Bedeutung für die weitere Entwicklung Europas haben. Deshalb fordern wir, dass die europäischen Völker in rechtlich bindenden Referenden über das Ergebnis entscheiden. Dabei spielt es keine entscheidende Rolle, ob eine EU-Verfassung, ein Grundlagenvertrag oder weitreichende Veränderungen der bestehenden Verträge beschlossen werden. Nachdem sie 50 Jahre lang nur zuschauen konnten, wird es höchste Zeit, dass die Bürgerinnen und Bürger selbst über die Zukunft der EU entscheiden können.
Außerdem treten wir dafür ein, dass in eine europäische Verfassung direktdemokratische Rechte (Initiative und obligatorisches Referendum) aufgenommen werden. Beides steht für uns in einem logischen Zusammenhang. Direktdemokratische Rechte in einer EU-Verfassung erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen dieser Verfassung überhaupt zustimmen. Es entspricht der demokratischen Idee, wenn die Bürgerinnen und Bürger selbst über die Reichweite ihrer Beteiligungsrechte entscheiden.
Mehr Demokratie stellt zwei Diskussionsvorschläge für direkte Demokratie in der Europäischen Union vor:
Im ersten Teil fordern wir europaweit Referenden in den Mitgliedsstaten über die Ergebnisse des Konventes.
Im zweiten Teil legen wir Eckpunkte für ein Initiativ- und Referendumsrecht in der EU vor. Damit können die Bürgerinnen und Bürger direkt über europäische Gesetze (Richtlinien, Verordnungen und Vertragsänderungen) entscheiden.
Es geht also einmal um einen direktdemokratischen Beschluss über eine EU-Verfassung und zum anderen um die Integration der direkten Demokratie in einer EU-Verfassung. Form und Inhalt der europäischen Verfassungsgebung werden somit in einen Zusammenhang gestellt.
Direkte Demokratie in der EU ist keine Utopie. Auf Staatenebene setzt sich die direkte Demokratie mehr und mehr durch. Seit 1990 haben in Europa 290 Volksabstimmungen stattgefunden (leider nicht ein einziges Mal in Deutschland). Seit 1972 haben mehr als 150 Millionen Europäerinnen und Europäer in 27 Volksabstimmungen über Europafragen (EU-Beitritt, EURO, Maastricht etc.) abgestimmt.
Wir verstehen die Vorschläge als ein Diskussionsangebot. Wir wollen die Debatte mit der Zivilgesellschaft, Konventsmitgliedern, Wissenschaftlern, politischen Aktivisten, Verbänden, Medien, Politikern und Bürgern aus ganz Europa Ost und West führen. Kritik und Anregungen sind ausdrücklich erwünscht.
I. Referendum über die Zukunft der EU
Unser Vorschlag:
Die Regierungskonferenz der Europäischen Union wird voraussichtlich im Jahr 2003/2004 eine Änderung der Europäischen Verträge auf Grundlage der Vorarbeiten des Konventes über die Zukunft Europas beschliessen. Bevor diese Änderung bzw. die Annahme einer Europäischen Verfassung in Kraft treten kann, sollen in möglichst vielen EU-Mitgliedsstaaten Referenden am gleichen Tag stattfinden. Diese Referenden finden auf Grundlage der Verfassungsbestimmungen der Mitgliedsstaaten statt.
Begründung:
1. Grundlegender Charakter der Vertragsreform
Die bevorstehende Reform stellt entscheidende Weichen für die Zukunft der Europäischen Union. Deshalb halten wir es für unbedingt erforderlich, dass die Bürgerinnen und Bürger in einem Referendum über diese Reform entscheiden. Dies gilt insbesondere, wenn sich die EU eine Verfassung oder verfassungsähnliche Verträge gibt. In einer Verfassung verständigen sich die Bürgerinnen und Bürger über Inhalt, Grenzen, Organisation, Ausübung und Verteilung politischer Macht. Ohne deren Zustimmung wäre eine EU-Verfassung nicht ausreichend legitimiert.
In der Erklärung von Laeken werden u.a. folgende Fragen an den Konvent gestellt: Soll eine zweite Parlamentskammer mit nationalen Abgeordneten eingerichtet werden? Welche Befugnisse hat der Rat, welche die Kommission? Welche Fragen werden von der EU, welche von den Mitgliedsstaaten entschieden? Soll die EU-Grundrechtecharta rechtsverbindlich werden?
Die Bürgerinnen und Bürger der EU haben noch nie über die Gestaltung und die Ziele der Union abgestimmt. Eine neue Verfassung kann demokratisch nur durch die ausdrückliche Zustimmung der Völker zustande kommen. Dann wird sie lebendig.
2. Transparenz und Mitbestimmung
Die Europäische Union ist die am weitesten gediehene transnationale politische Gemeinschaft der Welt. An einer Stelle des neulich erschienenen Weißbuches «Good Governance» der EU-Kommission heißt es, die Institutionen der Union müssten transparenter und für die Mitbestimmung der Bürger zugänglicher werden. Allerdings hat sich der offizielle Wunsch nach mehr transnationaler Demokratie bisher auf die Klagen von EU-Vertretern über das mangelnde Interesse der Bürger am gemeinschaftlichen Geschehen beschränkt. Solange die Tagesordnung der Union im vordemokratisch anmutenden Geflecht von Bürokratie und Exekutive verhandelt wird, kann das Desinteresse der Menschen jedoch kaum überraschen.
Das europäische Projekt ist in Gefahr. Selbst in traditionell EU-freundlichen Ländern wie Italien wächst die Skepsis. Viele Bürger erleben in der EU ein neues Großmachtsstreben. Sie haben Angst vor einem kalten bürokratischen Superstaat. Die Union muss auf eine neue Grundlage gestellt werden. Dies geht nur durch die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Ein Referendum über die Zukunft Europas ist dafür eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung.
3. Chancen für Europa
Durch gleichzeitig in möglichst vielen EU-Staaten durchgeführte Referenden kann eine europäische Öffentlichkeit entstehen, ein gemeinsames Projekt, ein echtes Miteinander der EU-Bürger. Ein günstiger Zeitpunkt dafür wäre die Europawahl 2004. Schon die Ankündigung eines Referendums wird die Arbeit des Konvents und der Regierungen beeinflussen. Denn sie wissen dann, dass sie die Bürger überzeugen müssen. Viele Bürger könnten zum ersten Mal an einem wichtigen Thema erleben, wie ein Volksentscheid funktioniert.
4. Europaweites Referendum oder nationale Referenden?
Es wird kontrovers diskutiert, ob es ein europaweites Referendum oder nationale Referenden über das Ergebnis der nächsten Regierungskonferenz geben soll. Wir schlagen aus folgenden Gründen nationale Referenden vor:
Für ein europaweites Referendum müsste der Unionsvertrag geändert werden. Dies bedeutet, dass sich die Staats- und Regierungschefs einstimmig auf einen gemeinsamen Vorschlag einigen und dann alle nationalen Parlamente diesen ratifizieren müssen. Dies ist unwahrscheinlich, weil das bestehende Einstimmigkeitsprinzip jedem Staat ein Veto einräumt. Auch zeitlich wäre ein solches Vorgehen kaum zu realisieren. Der Konvent hat einen knappen Zeitplan. Die Ratifizierung einer Vertragsänderung kann sich wie das Beispiel des Nizza-Vertrages zeigt lange hinziehen. Eine europaweite Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip könnte kleinen Mitgliedsstaaten gegen ihren Willen eine EU-Verfassung aufdrücken. Bei nationalen Referenden ist dies nicht möglich. Für ein unionsweites Referendum spricht auf den ersten Blick, dass auf diesem Wege am besten eine europäische Öffentlichkeit geschaffen und dass das demokratische Gefälle innerhalb der EU (Iren und Dänen stimmen häufiger über Europafragen ab, Deutsche, Belgier, Holländer etc. stimmen nie ab) überwunden werden könnte. Durch die von uns vorgeschlagene Durchführung der nationalen Volksabstimmungen an einem Tag kann aber auch eine europäische Öffentlichkeit entstehen. Zudem wird verhindert, dass das Ergebnis einer Volksabstimmung das Ergebnis späterer Abstimmungen beeinflusst.
Für Deutschland würde dies bedeuten, dass das Grundgesetz (Art. 23) geändert werden muss. Eventuell könnte sich aber auch aus Art. 146 des Grundgesetzes eine Verpflichtung zu einer Volksabstimmung ergeben. Auch in einigen anderen Mitgliedsstaaten müssten die rechtlichen Voraussetzungen für eine solche Volksabstimmung erst geschaffen werden. Dies wäre die Aufgabe der nationalen Parlamente.
5. Was passiert, wenn es in einem Mitgliedsstaat keine Mehrheit gibt?
Grundsätzlich wäre das Ratifikationsverfahren dann gescheitert. Denn die europäischen Verträge schreiben die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten bei Vertragsänderungen vor. Dies unterscheidet sich also nicht von dem parlamentarischen Ratifikationsverfahren. So sind z.B. die Bildung der ITO (International Trade Organization, internationale Handelsorganisation) Ende der 40er-Jahre als auch die Schaffung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) in den 50er-Jahren daran gescheitert, dass die Parlamente der USA bzw. Frankreichs die entsprechenden Verträge nicht ratifiziert haben.
Durch die mögliche Konsequenz des Scheiterns wären die Regierungschefs und der Konvent bereits im Vorfeld gefordert, einen Text zu erarbeiten, der auf die Bedürfnisse der Bürger eingeht. Falls die Menschen dennoch nicht überzeugt werden könnten, läge auch darin eine Chance für die Union. Denn dann würden Schwachstellen des europäischen Projektes offenbar. Nur wenn die Probleme sichtbar sind, können sie gelöst werden.
Aus der jüngeren europäischen Geschichte kennen wir außerdem den Fall, dass in einem Staat Dänemark zweimal über einen Vertrag abgestimmt wurde. Allerdings stimmten die Dänen nicht zweimal über den gleichen Gegenstand ab, sondern über einen geänderten Text, der ihnen Ausnahmen einräumte (opting out). Auch diese Variante wäre für die Zukunft denkbar. Weitere Alternativen müssen geprüft werden.
Weiterhin wäre denkbar, dass die EU-Verfassung nur für die Staaten gilt, in denen das Volk ihr zugestimmt hat. Ländern, in denen die Bürger die Verfassung ablehnen, verhindern so nicht die tiefere Integration der EU. Ein solches Modell setzt aber vermutlich wieder eine Änderung der Verträge mit den oben bereits beschriebenen Schwierigkeiten voraus.
II. Direkte Demokratie in der EU
Dies ein erster Vorschlag für ein Initiativ- und Referendumsrecht in der EU. Direkte Demokratie auf nationaler oder kommunaler Ebene reicht nicht mehr aus. Mehr als 50 Prozent aller in Deutschland neu in Kraft tretenden Gesetze sind in Brüssel erlassen worden. Und die Tendenz ist steigend.
Schon heute gilt in 105 Politikfeldern der EU das Prinzip der qualifizierten Mehrheitsentscheidung. D.h., etwa 60 Prozent aller Entscheidungen werden nach diesem Prinzip gefällt. Nach Inkrafttreten des Nizza-Vertrages wird dieser Anteil auf 66 Prozent ansteigen.2) Bei qualifizierten Mehrheitsentscheidungen können einzelne Mitgliedsstaaten überstimmt werden.
Die Europäische Union gewinnt immer mehr Einfluss auf unser Leben. Fast alle politischen Bereiche werden direkt oder indirekt durch die Unions-Gesetzgebung beeinflusst. Anfang 2002 ist dies für die Mehrheit der Europäerinnen und Europäer durch die Einführung des Euro-Bargeldes sichtbar geworden. Aber es gibt nicht nur den Euro. Der Binnenmarkt, die Landwirtschaftsubventionen, die Deregulierung der Märkte, EUROPOL, die EU-Außenpolitik und nicht zuletzt die energischen Versuche, eine gemeinsame Armee aufzustellen all dies könnten mögliche Themen für Referenden oder Initiativen sein.
Die vorgeschlagene Regelung kann sowohl in die bestehende Vertragsstruktur der Europäischen Union integriert werden als auch in einen eventuell vom Konvent vorgeschlagenen Verfassungsvertrag oder eine europäische Verfassung. Eine Verfassung ist keine notwendige Bedingung für die Etablierung direktdemokratischer Rechte in der EU. Nach der Osterweiterung müssten die Quoren bei EU-Bürgerinitiativen bzw. EU-Bürgerbegehren3) eventuell erhöht werden.
Eckpunkte für direktdemokratische Elemente auf europäischer Ebene
Welche direktdemokratischen Instrumente soll es geben?
1. Ein dreistufiges Initiativrecht: EU-Bürgerinitiative, EU-Bürgerbegehren, EU-Bürgerentscheid 4) 2. Obligatorisches Referendum bei Vertrags- oder Verfassungsänderungen und Souveränitätsabtretungen an internationale Organisationen (z.B. IWF, WTO, Weltbank etc.)
Welche Mehrheiten sollen erforderlich sein?
Hier stellen wir zwei Modelle zur Diskussion:
Modell 1
Dieses Modell orientiert sich an den geltenden Mehrheitsregeln im Ministerrat:
1a) Einstimmigkeit: Ist für einen Politikbereich Einstimmigkeit im Ministerrat erforderlich, so wäre ein EU-Bürgerentscheid dann angenommen, wenn in jedem Mitgliedsland eine Mehrheit mit Ja stimmt und eine Mehrheit aller Wählerinnen und Wähler, die an der Abstimmung teilnehmen, mit Ja stimmt. Zur Zeit werden 40 Prozent aller EU-Entscheidungen nach dem Einstimmigkeitsprinzip getroffen.
1b) Qualifzierte Mehrheit: Ist für einen Politikbereich eine qualifizierte Mehrheit im Ministerrat erforderlich, so wäre ein EU-Bürgerentscheid angenommen, wenn er eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsländer auf sich vereinigt (die qualifizierte Mehrheit entspricht zur Zeit 62 von 87 möglichen Stimmen im Ministerrat. In den meisten Fällen ist zugleich eine Zustimmung von mindestens 10 Mitgliedsstaaten erforderlich) und eine Mehrheit aller Wählerinnen und Wähler, die an der Abstimmung teilnehmen, mit Ja stimmt. Dieses Verfahren wird bei ca. der Hälfte aller EU-Entscheidungen angewandt.
1c) Einfache Mehrheit: Ist für einen Politikbereich eine einfache Mehrheit im Ministerrat vorgeschrieben, so wäre ein EU-Bürgerentscheid dann angenommen, wenn in der Mehrheit der Mitgliedsstaaten eine Mehrheit mit Ja stimmt und eine Mehrheit aller Wählerinnen und Wähler, die an der Abstimmung teilnehmen, mit Ja stimmt. Diese Entscheidungsverfahren bilden innerhalb der Europäischen Union noch die Ausnahme.
Bei diesem Modell wird dem derzeitigen Charakter der EU als Vertragsgemeinschaft Rechnung getragen. Die Rechte insbesondere kleinerer Staaten werden hier entsprechend dem bisherigen Institutionengefüge beachtet.
Modell 2
Dieses Modell vereinfacht die Mehrheitsanforderungen für Referenden und EU-Bürgerentscheide:
2a) Einstimmigkeit: Bei Änderungen der Verträge (bzw. einer künftigen Verfassung) muss in allen Mitgliedsstaaten der EU die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erreicht werden.
2b) Einfache Mehrheit: Bei allen anderen Entscheidungen ist neben der EU-weiten Wählermehrheit auch die Zustimmung in mehr als der Hälfte der Mitgliedsstaaten (derzeit 8 von 15 Staaten) erforderlich.
Dieses Modell stellt die Praktikabilität der direkten Demokratie in den Vordergrund. Das erste Modell stellt so hohe Hürden für einen Bürgerentscheid auf, dass ein Ungleichgewicht zwischen Ministerrat und Bürgern entstehen würde. Denn nach dem Scheitern eines Bürgerentscheids wären wieder die Regierungschefs am Zuge. Der Verzicht auf die Ankopplung an die geltenden institutionellen Mehrheitserfordernissen könnte durch die zu erwartende hohe Legitimation EU-weiter Bürgerentscheide mehr als kompensiert werden. Nur die wirklich grundlegenden Fragen sollen durch die Zustimmung der Mehrheit der Abstimmenden in allen Mitgliedsstaaten entschieden werden.
Bei beiden Modellen ist es unmöglich, dass ein EU-Bürgerentscheid gültig ist ohne die Annahme in einer Mehrheit der Mitgliedsstaaten. In allen Fällen wird eine doppelte Mehrheit benötigt. Die Europäische Union ist kein Staat, sondern eine durch besonders enge Zusammenarbeit der Regierungen gekennzeichnete supranationale Organisation, in der die Souveränität der Mitgliedsstaaten zu beachten ist. Die Frage nach den angemessenen Mehrheiten ist delikat und konfliktträchtig. Besonders dieser Punkt muss weiter untersucht und diskutiert werden. Eventuell ergeben die Vorschläge des Konventes eine Vereinfachung der zur Zeit äußerst komplizierten Entscheidungsverfahren innerhalb der EU.
Auf welche Gegenstände können sich EU-Bürgerinitiativen und Referenden beziehen?
Verordnungen und Richtlinien. Außerdem können Vertrags- oder Verfassungsänderungen durch eine Initiative vorgeschlagen werden. Souveränitätsabgaben (z.B. an die WTO oder UNO) und Vertrags- sowie Verfassungsänderungen werden obligatorisch abgestimmt. Kein Themenausschluss.
EU-Bürgerinitiative
Unterschriftenquorum: 400.000 EU-Bürger keine Frist für die Unterschriftensammlung keine regionale Verteilung der Unterschriften vorgeschrieben Anhörung der Initiatoren vor dem Ministerrat und dem Europäischen Parlament Eine Initiative kann vor der Beantragung des EU-Bürgerbegehrens zurückgezogen oder geändert werden Ob die Initiative verpflichtend oder fakultativ durchzuführen ist, um das EU-Bürgerbegehren zu starten, muss noch diskutiert werden
EU-Bürgerbegehren
Unterschriftenquorum: 3.000.000 Stimmberechtigte, bei vertrags- oder verfassungsändernden EU-Bürgerbegehren sind 6.000.000 Stimmen erforderlich Sammelfrist: 1 Jahr Regionale Verteilung der Unterschriften soll vorgeschrieben werden. Z.B. könnte die Anforderung gestellt werden, dass in mindestens drei Ländern je nach Einwohnerzahl 0,25 bis 1 Prozent der Stimmberechtigten unterschreiben müssen. Unterschriften können frei gesammelt werden, zusätzlich ist Amtseintragung möglich. Die Rolle des Internet muss noch geprüft werden.
EU-Bürgerentscheid
Ein Gegenvorschlag zum EU-Bürgerbegehren durch die Institutionen ist möglich 9 18 Monate nach einem EU-Bürgerbegehren findet der EU-Bürgerentscheid statt bei unveränderter Übernahme des EU-Bürgerbegehrens entfällt der EU-Bürgerentscheid
Informations- und Finanzregelungen
Alle Haushalte erhalten ein Abstimmungsheft mit Pro- und Kontra-Argumenten Eine gewählte Referendumskommission nach früherem irischem Vorbild sorgt für eine faire und ausgewogene Information der Öffentlichkeit Die Initiatoren haben Anspruch auf eine Kostenerstattung von 10 Cent pro Stimme beim EU-Bürgerentscheid und 5 Cent beim EU-Bürgerbegehren
Drei typische Argumente gegen direkte Demokratie in der EU
1. Europa ist zu groß. Nur finanzstarke Lobbygruppen können diese Instrumente nutzen Lobbygruppen beeinflussen derzeit erfolgreich die Politik der EU. Sie brauchen keine direkte Demokratie. Aber die Größe Europas ist natürlich ein Problem für kleinere Initiativen und Organisationen. Deswegen müssen die öffentlichen Hilfen für Initiativen stärker ausfallen als auf der nationalen Ebene. Wir schlagen eine Kostenerstattung, ein Abstimmungsheft sowie eine Referendumskommission vor (siehe oben).
2. Es gibt keine europäische Öffentlichkeit Die direkte Demokratie ist ein ideales Instrument, um eine europäische Öffentlichkeit herzustellen. Europapolitik wird nur dann zu einer Sache der Bürgerinnen und Bürger werden, wenn sie echte Entscheidungsmöglichkeiten bekommen. Wenn nicht, werden sie beiseite stehen und die EU wird ein bürokratisches, elitäres Modell bleiben.
3. EU-Bürgerentscheide würden die Diversität der Mitgliedsstaaten zerstören Genau dies geschieht jetzt wegen der Überregulierung seitens der europäischen Institutionen. Um dies bei der direkten Demokratie zu vermeiden, schlagen wir doppelte Mehrheiten und regionale Verteilungserfordernisse vor (siehe 2.). Die Rechte der kleineren Mitgliedsstaaten müssen respektiert werden.
Fussnoten
1) Der Einfachheit halber wird der Begriff europäische Verfassung benutzt. Sinngemäß bezieht er sich auch auf einen Verfassungsvertrag, Grundlagenvertrag bzw. auf eine Änderung der bestehenden Verträge
2) Zahlen nach Maurer, A.: J Entscheidungseffizienz und Handlungsfähigkeit nach Nizza: die neuen Anwendungsfelder für Mehrheitsentscheidungen, in: Jopp, M. u.a. (Hrsg.): Das Vertragswerk von Nizza und die Zukunft der EU, Institut für Europäische Politik, S. 79-92, 2001.
3) In der Deutschen Debatte werden folgende Begriffe verwendet: Die Bürgerinitiative entspricht nicht der Volksinitiative in der Schweiz, sondern stellt eher eine Art Petition dar. Das Bürgerbegehren entspricht der Volksinitiative in der Schweiz, der Bürgerentscheid der Volksabstimmung.
4) Wir verwenden die Begriffe EU-Bürgerinitiative usw., weil der Begriff Volksinitiative usw. problematisch wäre, weil er auf das Vorhandensein eines europäischen Volkes bzw. auf einen europäischen Staat hinweisen würde. Auf englisch verwenden wir die Begriffe EU-citizen initiative usw. Alternativ könnten auch die Begriffe Europainitiative, Unionsbürgerinitiative, EU-Volksinitiative, europäische Bürgerinitiative, europäische Volksinitiative oder Völkerinitiative verwendet werden.
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