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Wieviel Volksabstimmung trauen wir uns zu?

Das war ein Schrecken, der manch überzeugtem Demokraten einen Schauer über den Rücken jagte. Da stimmte doch am ersten Advent eine Mehrheit der Schweizer für ein Verbot, weitere Minarette zu errichten. Das Ergebnis dieser Volksabstimmung wirft uns auf die grundlegende Frage zurück: Wieviel Volksabstimmung trauen wir uns zu? Sind wir fähig, mit der Demokratie umzugehen?" Sie würden sich die Volksabstimmung schon zutrauen, sagen Kritiker des Minarettverbots, aber diese Entscheidung verstoße gegen Menschenrechte und müsse deshalb gerichtlich überprüft und aufgehoben werden.

Von Tim Weber, Mitglied von „Mehr Demokratie“

Deutschland und Schweiz haben ein unterschiedliches Rechtsstaatsverständnis

Zu dieser Forderung ist einiges zu sagen. Erstens liegt in der Schweiz ein anderes Rechtsstaatsverständnis als in Deutschland vor. Aufgrund der stärker ausgeprägten Demokratietradition ist es in der Schweiz viel selbstverständlicher, dass die Mehrheit definiert, worin ihre Rechte bestehen. In Deutschland dominiert ein Verständnis von Recht als objektiver, von Menschen unabhängiger Gegebenheit, das uns sagt, was gut und richtig ist. Dies erklärt sich mit unserer schwächlichen Demokratietradition, in der die Berufung auf Recht häufig das einzige Mittel war und insbesondere mit der jüngeren historischen Erfahrung der faschistischen Diktatur, in der die Menschenrechte mißachtet wurden. Das hohe Vertrauen, das dem Bundesverfassungsgericht entgegengebracht wird, ist Ausdruck dieses Rechtsverständnisses. Während in der Schweiz gesellschaftliche Konflikte in letzter Instanz über Volksabstimmungen ausgetragen werden, entscheidet in Deutschland das Bundesverfassungsgericht, weil es von einzelnen Bürgern oder der Opposition angerufen wird. Als Beispiele mögen die Volksabstimmung der Schweiz über den Beitritt zum EWR und die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über den Maastrichter und Lissaboner Vertrag dienen.

Zweitens untergräbt der schnelle Ruf nach Gerichten die Demokratie. Zur Demokratie gehört es nun einmal, Entscheidungen der Mehrheit - sei es vom Parlament, sei es vom Volk - zu akzeptieren. Wenn nun Gerichte zu oft bemüht werden und die Gerichte - den Grundsatz der juristischen Selbstbeschränkung nicht achtend - sich die Entscheidungskompetenz nehmen, wird die Demokratie entdemokratisiert. Dieses Rufen nach einer höheren, scheinbar unabhängigen Instanz ist tief verankert in der deutschen politischen Kultur. Ein Beispiel in eigener Sache: Ich bin Mitglied eines Gemeinderates. Als ein Antrag von mir vom Bürgermeister und der Mehrheit eines Gremiums nicht auf die Tagesordnung gesetzt wurde, weil die Auffassung vertreten wurde, der Gemeinderat könne das gar nicht entscheiden, rief ich die Kommunalaufsicht an und bekam Recht. In Deutschland ein üblicher politischer Vorgang: Die Mehrheit beruft sich auf das Recht, die Minderheit auch, ein dritter entscheidet.

Drittens liegt mit dem Minarettverbot eine Diskriminierung der Muslime vor. Sie verletzt auch die Gleichheit vor dem Gesetz (Artikel 3.3. Grundgesetz). Aber das Grundrecht auf freie Religionsausübung wird nicht verletzt. Man könnte also die Auffassung vertreten, daß die Entscheidung der Schweizer mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen wäre.

EU-Recht wird auch nicht oder zu selten hinterfragt

Dieses teilweise verhängnisvolle Verständnis eines übergeordneten Rechts zeigt sich auch im Umgang mit der EU-“Gesetzgebung“. Richtlinien der EU und die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs werden selbstverständlich als übergeordnetes Recht hingenommen und in nationales Recht umgesetzt. Während früher die Ziele in einer Richtlinie vorgegeben wurden, werden heute auch Vorgaben zur Umsetzung geregelt. Es ist für Deutschland bezeichnend, daß das Bundesverfassungsgericht in der Lissaboner Entscheidung vorschreibt, welche Rechte der Bundestag haben muss. Nicht die Abgeordneten erkämpfen sich ihre Rechte, sondern eine höhere Instanz gewährt die Rechte. Das ist leider auch deutsche Demokratietradition, die erst in jüngster Zeit beeindruckend durch die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR und durch einige Volksabstimmungen in einzelnen Bundesländern durchbrochen wird.

Die Art und Weise, wie diskutiert wurde, war schlimmer, als die Entscheidung selbst

Die teilweise hysterische Debatte in den Zeitungen zeigt, wie sensibel die Frage nach dem Umgang mit Muslimen ist. Ich selbst war über die Kampagne der SVP erschrocken. Das Plakat zeigte eine verschleierte Frau. Im Hintergrund waren mehrere in die Höhe ragende Minarette auf der Schweizer Landkarte abgebildet. Im Internet konnten Minarette und Imane abgeschossen werden. Das war mehr als empörend und ließ mich schon an der Fähigkeit, mit Menschen und deren Überzeugungen umzugehen, zweifeln. Gleichzeitig kommt durch die Minarett-Abstimmung auch die Stärke der direkten Demokratie zum Ausdruck. Auch sensible Themen kommen auf den Tisch. Christoph Wehrli wies in der NZZ zu Recht darauf hin, dass konkret nicht viel geschehen sei, atmosphärisch aber Schaden entstanden sei. Der atmosphärische Schaden wurde durch die Berichterstattung und Kommentierung nach der Abstimmung zusätzlich verstärkt. Dies alles belegt die Bedeutung des Themas, und direkte Demokratie dient dazu, solche Fragen gesellschaftlich verbindlich zu bearbeiten.

Wer entscheidet denn nun, was wahr, gut und schön ist?

Die Minarett-Abstimmung warf mich auch auf die Frage zurück, wie viel Volksabstimmung traue ich uns zu. Eine Mehrheit trifft eine Entscheidung, die eine Minderheit diskriminiert. Die Initiatoren führen eine verletzende Kampagne. Gewiss, dies geschieht auch bei parlamentarischen Demokratien, ist also kein Argument gegen Volksabstimmungen.

Angenommen, es gäbe in Deutschland die Volksgesetzgebung und eine Initiative möchte über die Änderung des Baugesetzbuches ein generelles Minarettverbot durchsetzen. Dies würde nach deutschem Rechtsverständnis voraussichtlich nicht möglich sein. Denn ein Grundrecht würde durch ein einfaches Gesetz verletzt werden. Nun ja, trotz allen Kummers über die deutsche politische Kultur, halte ich das für richtig.

Nehmen wir an, in Deutschland gäbe es zusätzlich die verfassungsändernde Volksgesetzgebung. Nach deutschem Rechtsverständnis müßte hier eine erschwerte Abänderbarkeit gelten. Forderungen nach Zweidrittelmehrheiten und Zustimmungsquoren sind aber eine Absage zu erteilen. Diese Forderungen verkennen die destabilisierende Wirkungen von Quoren und trauen den gewählten Vertretern mehr zu als den Wählenden. Denn Zweidrittelmehrheiten sind im Bundestag und Bundesrat leichter zu organisieren und folgen auch machtpolitischen Erwägungen. Dennoch ist es richtig, für Grundgesetzänderungen eine erschwerte Abänderbarkeit zu fordern. So wäre es z B. denkbar, für ein erfolgreiches Volksbegehren bei Grundgesetzänderungen zwei Millionen statt einer Million Unterschriften für ein einfaches Gesetz zu verlangen. Dies würde verhindern, dass Initiatoren eine Grundgesetzänderung aus rein strategischen Gründen wählen, um ihre Forderung besser gegen künftige Änderungen zu schützen. Zusätzlich könnte darüber nachgedacht werden, dass Grundrechte nur in zwei Volksabstimmungen geändert werden können, um die Zeit für Abwägung und Entscheidung zu verlängern.

Letztlich stellt sich bei der Frage nach Verfahren für Grundgesetzänderungen, wie viel Souveränität trauen wir dem Souverän, also uns, zu? Vertrauen wir auf den demokratischen Prozess und die Weisheit der Vielen. Oder ziehen wir die Grundrechtskarte und verbieten Initiativen. Demokratie ist mehr als Mehrheitsentscheidungen. Dies gilt übrigens auch für die Schweiz, die mit dem Ständemehr föderalen Erwägungen ein größeres Gewicht als dem Mehrheitsprinzip gibt. Dies hat natürlich mit der Schweizer Geschichte zu tun, in der die Kantone eine besondere Rolle einnehmen.

Und aufgrund der deutschen Geschichte nehmen die Grundrechte zu Recht eine besondere Rolle ein. Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit oder Menschenwürde sind nicht verhandelbar. Andererseits führen Verbote dazu, Probleme unter den Teppich zu kehren. Allein, sie sind dadurch nicht verschwunden. Und ein Verbot würde uns auch die Chance nehmen, dass die Mehrheit im Sinne des Grundrechtes stimmt.

In der Regel soll das Volk entscheiden, im Zweifel das Bundesverfassungsgericht

In Deutschland würde die präventive Normenkontrolle gelten, d. h. bevor es zu einem Volksbegehren kommt, kann das Verfassungsgericht angerufen werden, welches Volksbegehren zulässt oder im Falle einer Grundrechtsverletzung nicht. Vielleicht ist die US-amerikanische Variante einiger Bundesstaaten doch die bessere Lösung. Dort kann ein Gesetz erst nach der Abstimmung vom Verfassungsgericht annulliert werden. Dies Verfahren würde den demokratischen Prozess zulassen, würde jedoch gleichzeitig die eindeutige Verletzung von Grundrechten verhindern. Diese Möglichkeit, auch Mehrheitsentscheidungen – sei es vom Parlament, sei es vom Volk - nicht umzusetzen, muss es geben. Denn Demokratie ist mehr als der Grundsatz: Mehrheit entscheidet.

Für eine weitere deutsche Sicht auf das Minarett-Verbot siehe Prof. Dr. Hermann K. Heußner, Minarettverbot in der Schweiz: Argument gegen Volksentscheide in Deutschland? Zur Diskussion über Volksgesetzgebung, Minderheitenschutz und Völkerrecht, Recht und Politik, Heft 1/2010, Widerabdruck in Zeitschrift für Direkte Demokratie, Nr. 85, 1/10 (www.mehr-demokratie.de).


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